Erfüllte Zeit

13. 05. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Johannes 15, 9 - 17

 von Andrea Taschl-Erber

 

 

Die vorhin gehörte Evangeliumsstelle ist ein Teil der so genannten Abschiedsreden des Johannesevangeliums, aufgeschrieben etwa um das Jahr 100. Auf der unmittelbaren Ebene der Erzählung nimmt hier Jesus, bevor er in den Tod geht, Abschied von seinen Jüngerinnen und Jüngern. Im Rückblick auf die historische Situation der bedrängten Gemeinschaft, in der dieses Evangelium entstanden ist, schwingt jedoch noch eine weitere Dimension des Textes mit: Denn Jesu Weggang ist für die ersten Hörer- und Leserinnen des Evangeliums eine Trennungserfahrung, durch die sie schon hindurchgegangen sind. So wird aus dieser späteren Perspektive, sozusagen im Nachhinein, reflektiert, wie sich angesichts der physischen Abwesenheit Jesu nach seinem Tod dennoch seine bleibende Gegenwart erfahren lässt. Im theologischen Entwurf dieses 4. Evangeliums sind ja Jesu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt nicht als getrennte Akte eines heilsgeschichtlichen Dramas zu denken, sondern als ein Prozess, der mit dem Kreuz beginnt und schließlich sein Ziel in einer neuen Gemeinschaft mit ihm und durch ihn mit Gott findet. Auf dem Spiel steht, ob trotz des traumatischen Endes, des gewaltvollen Abbruchs der bisherigen Beziehung eine Zukunft eröffnende Kontinuität zu entdecken und erleben ist.

 

Unmittelbar voraus geht die schöne Bildrede vom wahren Weinstock und den Reben, die nur Frucht bringen können, wenn sie am Weinstock bleiben. Schon hier wird die bleibende Verbundenheit mit Jesus zum zentralen Thema. Dabei geht es, um auf der Bildebene zu bleiben, nicht darum, sich am Weinstock festzuklammern, sondern darum, sich tragen und halten zu lassen von Jesu Liebe und seinem Vermächtnis, der Liebe Gottes, um selbst Frucht zu bringen. Denn so setzt die Evangeliumsstelle ein: Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Das Bild des Weinstocks mit den Reben bringt darüber hinaus zum Ausdruck: Aus der Bindung an Jesus resultiert auch der Zusammenhalt, die Gemeinschaft untereinander. Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe, heißt es. In Jesu Liebe zu bleiben bedeutet also allen Widrigkeiten zum Trotz in dieser Gemeinschaft zu bleiben, da eine isolierte Rebe nicht Frucht bringen kann.

 

Ob die Zeit nach Jesu irdischem Abschied als Getrennt- oder Verbundensein mit ihm erfahren wird, hängt damit auch an den Angesprochenen selbst: ob sie die Gemeinde als Ort der Gemeinschaft mit Jesus erleben, wo seine lebendige Gegenwart erfahren werden kann – ob sie also sein Testament umsetzen, sich an seinen Worten, Geboten, seinem Vorbild orientieren. Dabei gilt Jesu Vermächtnis über die Erstadressatinnen und -adressaten hinaus weiterhin für die sich auf ihn berufenden Gemeinschaften.

 

Was macht nun nach dem Evangelium ein fruchtbares Miteinander aus? Ich möchte hier ein paar Schlaglichter aus dem biblischen Text herausgreifen:

 

- Zuallererst ist es Liebe, die sich nach dem Vorbild von Jesus in der totalen Hingabe, im mutigen Einsatz für den, bzw. die andere bis zum Äußersten vollendet – statt Hass, Egoismus, Feigheit, Bequemlichkeit ...

- Die Erwählung, von der Jesus spricht, beinhaltet einen Auftrag für jeden und jede Einzelne ...

- In diesem Fruchtbringen zeigt sich die Lebendigkeit der Gemeinde – statt unfruchtbarem Verharren in Erstarrung und Tod ...

- Nicht zuletzt wird echte Freude erspürt und vermittelt, da der von Gott geschenkte Neuanfang die Erfahrung von Trauer, Angst, Resignation zu überwinden vermag.

 

Eine solche Gemeinschaft von Freundinnen und Freunden Jesu – die auf Liebe anstatt sklavischer Gehorsamspflicht basiert (ich nenne euch nicht mehr Knechte ..., heißt es in der Bibelstelle) – in der Solidarität und Trost erfahrbar sind, wo jede und jeder sich beauftragt weiß und zum Fruchtbringen ermutigt wird – eine solche Gemeinde kann sich, wie ich meine, als Gegengesellschaft, als neue Welt erweisen, wo die an Gott getragenen Bitten um gutes Leben bereits Wirklichkeit werden.