Erfüllte Zeit

10. 06. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Wenn die Konflikte von allen Seiten zunehmen…“  (Markus 3, 26 – 34)
von Helga Kohler-Spiegel, Feldkirch

 

 

Mit dem eben gehörten Text befinden sich die Adressaten mitten in heftigen Konflikten. Jesus muss sich mit seinen Angehörigen auseinandersetzen, sie erklären ganz nüchtern: „Er ist von Sinnen“, „Er hat den Verstand verloren, jetzt spinnt er völlig“ – oder wie immer Ihr Dialekt das ausdrückt.

 

Und dann sagen die Gegner Jesu, Schriftgelehrte vom religiösen Zentrum Jerusalem kommend, also mit Macht und Einfluss im ganzen Land: Er ist nicht nur von Sinnen, sondern er ist im Bund mit dem Beherrscher der Dämonen, mit dem Satan, mit dem „Beelzebul“. Beelzebul wird übersetzt mit „Baal des Hauses“ oder „Baal des Mistes“, ist aber in der Überlieferung etwas ungeklärt. Er gehört wohl zu den Dämonenvorstellungen des Volkes in Galiläa und zu bestimmten Formen der Magie. Jesus sei mit diesen dämonischen und magischen Kräften im Bunde, deshalb habe er besondere Kräfte, es seien aber zerstörerische Kräfte. Jesus sei besessen, so der Vorwurf, und nur weil er selbst besessen sei, könne er Dämonen austreiben.

 

In Bildreden und mit Argumenten versucht Jesus seine Gegner zu widerlegen – aber es passiert wie so oft, bis heute: Wer die angegriffene Person verstehen will, kann den Überlegungen folgen und wird sie verstehen. Wer Gegner bleiben will, wird auch die Erklärungen ablehnen und nicht verstehen wollen. Der Ton wird von beiden Seiten schärfer, die Unversöhnbarkeit der Positionen zeichnet sich bereits ab. Für die Hörerinnen und Hörer des Abschnittes aus dem Evangelium ist auch klar: Es ist nötig, Position zu beziehen: Was denke ich von diesem Jesus? Wofür halte ich ihn? Haben die Gegner recht? Oder stimmt, was ich sehe und höre: Er heilt Kranke, er befreit Gefangene, er nährt die Hungernden, er stärkt die Mutlosen… Meine Meinung ist gefragt – damals wie heute.

 

Die Familie, die vor dem Konflikt mit den Schriftgelehrten schon in Sorge um Jesus ist, greift nach dem Konflikt direkt ein, sie versuchen ihn wohl „aus dem Verkehr zu ziehen“, um ihn zu schützen. Doch „viele Leute“, so heißt es, stehen zwischen Jesus und seiner Familie. Die neue Gemeinschaft, die Gruppe der Jesus-Jüngerinnen und -Jünger setzt andere Relationen. Die zentralen Beziehungen bestehen zu den Menschen, die der neuen Gemeinschaft angehören. Das sind provozierende, das sind konflikthafte Worte. Und auch die Familie Jesu, seine engsten Angehörigen, auch sie müssen Position beziehen, wie sie Jesus sehen. Ist er „von Sinnen“, ist er „verrückt“, oder ist er ein Prophet, ein Mensch in ganz besonderer Beziehung zu Gott, ist er „Sohn Gottes“? Auch die eigene Familie muss sich damit auseinandersetzen und fragen: Für wen halten wir Jesus? Wer ist er für uns?

 

Die familienkritische Position Jesu wurde im Verlauf der Jahrhunderte unterschiedlich ausgedeutet. In der Ordenstradition war immer wieder wichtig, Vater und Mutter zu verlassen, um sich ganz Gott und dem Glauben zu widmen. Manchmal ist die Abgrenzung zu elterlichen Personen sinnvoll und nötig, um eigenständig und erwachsen zu werden. Manchmal bedeutet aber auch ein Bruch zu Eltern und Familie eine erhöhte Abhängigkeit von einer neuen Gemeinschaft, die die Eigenständigkeit und Freiheit vielmehr einschränkt als fördert. Auch hierbei zeigt sich, dass die Phänomene selbst unterschiedlich gedeutet werden können, Abgrenzung von der Herkunftsfamilie kann Autonomie fördern, es kann aber zugleich zu anderen Abhängigkeiten führen.

 

Die Phänomene selbst sind nicht eindeutig, es braucht die Auseinandersetzung und die Positionierung der Menschen, die die Botschaft hören. Die Entscheidung, für oder gegen Jesu Botschaft, bleibt niemandem erspart. Dies gilt wohl im Leben insgesamt: an wichtigen Punkten im Leben ist Entscheidung nötig. Ob familiär oder beruflich, manchmal muss ich Position beziehen und „mich kenntlich“ machen, manchmal muss ich den Mut haben, mich klar zu äußern und zu zeigen, wo ich stehe. Egal, ob ich zu den Gegnern oder zu den Familienmitgliedern gehöre.

 

Die Radikalität Jesu, die in diesem Abschnitt sowohl gegenüber den Gegnern als auch gegenüber der Familie sichtbar wird, mag erschrecken. Heutiges Christentum zeigt sich über weite Strecken nicht mehr in der Radikalität der Überzeugungen und der Lebensmodelle. Längst ist christliche Religion Teil der Kultur, in Mitteleuropa Mehrheitskultur, in der strukturellen Verfasstheit der Kirchen ist das Christentum Teil der Gesellschaft, Arbeitgeber und Dienstleister… Und, auch persönlich, ist mir meist der Kompromiss, das Sowohl-als-Auch lieber als der Konflikt. Und dennoch – immer wieder blitzt diese „Provokation“ auf, dieses „Herausgerufen-Sein“ durch die Botschaft Jesu. Vielleicht ist auch das eine Dimension Jesu, die zu erinnern wert ist…