Erfüllte Zeit

11. 12. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

„Das öffentliche Wirken Jesu“ (Johannes 1, 6 – 8. 19 – 28)

von Mag. Regina Polak

 

Johannes war ein wortgewaltiger Prophet, ein imposanter Gottesmann. Er war so beeindruckend, dass ihn die Menschen seiner Umgebung für den Elias, für Moses, für den Messias selbst hielten. Johannes weist das alles zurück und bleibt bescheiden: Er hat nur eins zu verkünden: Die Nähe vom Gottesgericht und die Ankunft des rettenden Erlösers.

 

Die heutige Bibelexegese geht davon aus, dass Johannes der Lehrer von Jesus war: Jesus ist bei Johannes in die Glaubensschule gegangen. Jesus hat später dann aufgrund seiner eigenen Glaubenserfahrungen und seiner Gottunmittelbarkeit die Theologie seines Lehrers weiterentwickelt: Er hat der johannäischen Botschaft vom nahenden Gericht Gottes den Drohcharakter  genommen und in das Zentrum des Gerichtsgedankens die heilende Botschaft vom Reich Gottes gestellt. Dieses Reich ist ein Reich der Liebe und des Friedens  - und es ist bereits auf Erden zu finden. Jeder dämonische Schatten ist damit aus Gott getilgt.

 

Beide – den Schüler und den Lehrer – eint die Überzeugung, dass die gegenwärtige Stunde eine Stunde der Entscheidung ist: HEUTE ist der Ernstfall des Glaubens, HIER und JETZT gilt es, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Jesus und Johannes wissen um die Nähe Gottes – eine Nähe, die so ernst und real ist, dass man erschrecken kann. Nicht weil Gott Menschen erschrecken will, sondern weil Menschen im Lichte dieser Nähe erkennen, wie weit sie von Gott entfernt sind, wie gleichgültig sie leben. Die Menschen erschrecken im Grunde über sich selbst. Und weil das nicht besonders angenehm ist, werden Propheten wie Johannes auch abgelehnt, wird der Gottessohn Jesus Christus „nicht in sein Eigentum“ eingelassen, wie es im Tagesevangelium heißt. Die Finsternis ist zwar schrecklich, aber zumindest vertrauter als das alles erleuchtende Licht Gottes.

 

Weil Johannes in dieser Gottesnähe lebt, sich im Lichte Gottes weiß, gilt er als Prophet. Und wie alle echten Propheten erkennt man ihn daran, dass er nicht seine Eigeninteressen verfolgt, sondern sich ganz in den Dienst Gottes stellt und Gottes Botschaft verkündet. Die Menschen rund um ihn sind irritiert, weil sie nicht so recht wissen, was sie mit ihm anfangen sollen. Die religiösen Autoritäten sind verstört und wollen wissen, woher er seine Legitimation nimmt, Gottes Ankunft zu verkünden. Seine Antwort ist schlicht und zugleich subtil: Er zitiert Jesaja, stellt sich in die Tradition eines der größten Hoffnungspropheten des Volkes Israel: „Ich bin die Stimme, die in der Wüste ruft: Ebnet den Weg für den Herrn.“ Wer diese Stelle hört, weiß worum es geht: Gott kommt, um die Menschen aus der Sklaverei und der Knechtschaft zu befreien: „Tröstet, tröstet mein Volk, redet Jerusalem zu Herzen und verkündet der Stadt, dass ihr Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist.“, so beginnt das Kapitel 40 im Buch Jesaja, an das Johannes hier  erinnert – und an das wir heute auch erinnert werden.

 

Johannes macht also mit einem einzigen Schriftwort den Menschen den Ernst der Stunde bewusst: Sie sind Sklaven, unfrei und bedroht. Aber er tut dies vor dem Hintergrund der einen großen Hoffnung, die er zu verkünden hat: Gott kommt und will die Menschen erlösen. Diese Balance zeichnet den echten Propheten aus: mutig und ohne zu beschönigen wird gemahnt und die Wahrheit beim Namen genannt. Das macht Propheten auch so unbeliebt. Zugleich aber wird Trost und Hoffnung gespendet: Johannes verheißt Rettung und Erlösung. Für Johannes ist diese Rettung Jesus Christus. Was für ein Lehrer, der in seinem Schüler den größeren und gottnäheren Geist erkennen kann!

 

Auch moderne Gesellschaften haben ihre Propheten. Sie heißen Experten, Zukunftsforscher, Meinungsforscher oder Politstrategen. Sie alle wollen und sollen die Zukunft voraussagen. Moderne Menschen investieren eine Menge Glaubenskraft in deren Prophezeiungen. Aber sind es echte Propheten? Und: Wie können die echten von den falschen unterschieden werden?

 

Fest steht: Gott bindet seinen Geist an konkrete Menschen – auch heute noch und vielleicht gerade heute. Er spricht durch Gottesmänner und Gottesfrauen, die uns in schweren Zeiten sagen können, wie es um uns steht und wohin wir uns wenden sollen. Christen dürfen glauben, dass auch in modernen Gesellschaften Propheten und Prophetinnen anzutreffen sind. Johannes und die vielen Propheten, in deren Tradition er steht, allen voran aber Jesus Christus liefern Maßstäbe und Orientierungspunkte, wie man zeitgenössische Propheten identifizieren kann.

 

Advent – Zeit, in der sich Christinnen daran erinnern, dass Gott aus der Zukunft auf uns rettend zukommt – kann auch heißen: Sich auf die Suche nach den modernen Propheten und Prophetinnen zu machen. Wo sind sie?