Das Evangelische Wort

Sonntag, 03. 06. 2007,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Pfarrer Matthias Geist, Gefängnisseelsorger in der Justizanstalt Josefstadt in Wien.

 

 

Vorgestern, am Freitagabend, waren viele Kirchen in Österreich besser besucht als sonst, besser als an den meisten Sonn- und Feiertagen. Die lange Nacht der Kirchen in Wien, Graz, Linz, Salzburg und Klagenfurt war eine lange Nacht der offenen Türen. Und der wohl ungewöhnlichste Ort mit offenen Türen war dabei ein Gefängnis, besser gesagt die Justizanstalt Wien-Simmering im Süden Wiens. Erstmals zeigte sich auch eine so unbekannte Welt wie die des Gefängnisses der Öffentlichkeit. Anwesend waren unter anderem der Anstaltsleiter und Bedienstete der Justizwache, Anwältinnen und Richterinnen, ehemalige Gefangene und Angehörige von Häftlingen, die jetzt vom Schicksal eines nahestehenden Menschen betroffen sind. Es wurden Fragen gestellt nach dem Sinn der Haft, nach Möglichkeiten im Gefängnis zu leben, zu arbeiten und auch wieder an sich und die Zukunft zu glauben. Jedes Gefängnis ist ja ein völlig abgeschlossener Ort. Man kann nicht so leicht ausbrechen und schon gar nicht einbrechen. Wie darf man sich also die Welt hinter Gittern vorstellen? Was heißt „Leben und Glauben im Gefängnis“ – so das Motto des Abends?

 

Ich bin die Tür. Wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden. (Joh. 10,9)

 

Das Bild von der Schafherde und der Tür zur Weide lässt mich immer wieder aufhorchen und aufatmen. Aber ich bleibe realistisch. Auf einer Weide sein, mich ausrasten, das passt nicht zum Gefängnis. Die, die da weggesperrt sind, sollen ja keine Weide erleben, keine Kraftquelle, kein Auftanken. Und schon gar keine offenen Türen. Nein, viele meinen, die Kriminellen sollen ausharren und leiden. Sie gehören hart und ordentlich bestraft für das, was sie getan haben. Eine zu einfache Rechnung wie ich denke. Denn Gefangenschaft schränkt ein und treibt den einzelnen in die Enge. Der Glaube an eine neue Chance aber öffnet uns. Er öffnet uns und unsere Herzen, er weitet unseren Blick. Er schreit dort für das Leben, wo andere das Vergelten und Verderben vorantreiben wollen. Gefangene brauchen die Möglichkeit, loszulassen, Altes zu verarbeiten und auf eine Zukunft hin zu leben. Und das in möglichst freier Atmosphäre, ohne Druck und Zwangsgemeinschaft. Und deshalb brauchen auch, ja gerade sie eine Weide: eine Raststätte, eine Oase oder eine Rückzugsmöglichkeit – wie sie zum Beispiel die Gefängniskapellen sind. Und durch wahrhaft geöffnete Türen erweitert sich auch ganz spürbar der Horizont für die, die drinnen sind. Zum Beispiel beim Rasenmähen außerhalb der Gefängnismauern, wo der frische Wiesenduft in der Nase die gesiebte Luft verdrängt. Zum Beispiel durch eine Tätigkeit als Freigänger, wie sie in Simmering oft für den Wiedereinstieg genutzt werden kann. Auch jedes selbst zubereitete Essen ist eine solche geöffnete Tür. Denn auch die Würze des Lebens darf geschmeckt und mit anderen geteilt werden. Und ganz besonders sind es die Besuche – von Eltern, Partnerinnen oder den eigenen Kindern. Jedes liebevolle Wort trifft da auf wachsame Ohren. Jede Berührung löst die Verkrampfung der Zwangsgemeinschaft. Braucht es also nicht viel mehr offene Türen? Und sollten sie nicht nur aus der Enge des Gefängnisses herausführen, sondern uns alle in die unbekannte Gefängniswelt hineinführen?

 

Jesus sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. (Joh. 10,7-16)

 

Eine Gefängniskapelle öffnet die Tür zu der einen Gruppe von Schafen. Durch diese Tür klingt eine Stimme des Lebens in das stetige Absterben hinein. Aber es gibt noch andere Schafe, die eine Stimme hören können. Diese Stimme gilt auch „uns draußen“, die wir die Freiheit kennen und als selbstverständlich voraussetzen. Die Tür öffnet den unterschiedlichsten Schafen eine wunderbare Weide. Auf ihr dürfen sich alle möglichen Schafe herumtummeln: Die, die gescheitert sind, und die, die ihnen nach allem Scheitern eine neue Chance geben und das Leben als lebenswert empfinden lassen. Sie alle hören auf die eindeutige Stimme des Lebens.