Der 1977 geborene bosnische Autor Muharem Bazdulj gehört zu den
führenden Schriftstellern seiner Generation und erhielt
für seine Werke, die in mehreren Sprachen erschienen, zahlreiche
Preise. Wenn er vom Ramadan im Sarajewo des Jahres 2011 erzählt,
klingt vor allem die jüngste blutige Geschichte nach – aber auch
Hoffnung. Er schreibt:
In kaum einer anderen europäischen Stadt leben so viele
Menschen, bei denen ein Kanonenschuss derart heftige
Assoziationen an Blut, Tod und Schrecken auslöst wie in
Sarajevo. Dennoch, der allabendliche Kanonenschuss im August ist
anders, geht es doch um die Ramadan-Kanone, die den Iftar, das
Fastenbrechen, signalisiert.
Aus der Perspektive zahlreicher Gläubiger besteht Toleranz
darin, die Erwartungshaltung zu haben, dass Atheisten die
Überzeugungen der Gläubigen notwendigerweise respektieren
müssten, während sie, die Gläubigen, frei sein sollten,
Atheisten zu kritisieren und zu beleidigen, weil atheistische
Überzeugungen a priori weniger wert seien. Es gab eine Zeit in
Sarajevo, als religiöse Einrichtungen einen so starken Einfluss
auf die Politik ausübten, dass eine solche Sichtweise häufig als
eine naturgemäße und einzig mögliche präsentiert wurde.
Heute ist das nicht mehr so, und an manchen Abenden scheint es,
als wäre Sarajevo wirklich eine tolerante Stadt. Also nicht eine
Toleranz der Koexistenz unterschiedlicher Glaubensrichtungen,
sondern eine solche Toleranz, die es möglich macht, dass mitten
im Ramadan, buchstäblich im Schatten der
Gazi-Husrev-Beg-Moschee, in einer engen Gasse alte Männer mit
religiöser Kopfbedeckung und Teenager mit Bierflaschen in der
Hand aneinander vorbeigehen. Die echte Toleranz bedingt auch,
dass auf der Ferhadije-Promenade verschleierte Frauen einerseits
und Mädchen mit sonnengebräunten Beinen in Mini-Röcken und
Shorts, mit tief ausgeschnittenen Dekolletés andererseits
nebeneinander hergehen.
Wenn der Kanonenschuss ertönt, erheben die Menschen den Blick
gen Himmel, ohne Angst, dafür mit einer freudigen Neugierde, als
würden sie wissen, dass ihnen nichts passieren kann - oder nur
Gutes.
Muharem Bazdulj in „Der Standard – Literatur zu Gast“ vom
29.8.2011