Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Pater Berthold Mayr CMM

 

Sonntag, 15.1.2006
Eine Anekdote aus dem Theaterleben erzählt: Ein Schauspieler stolpert eines Abends sehr angeheitert auf die Bühne. Er findet partout nicht in seine Rolle hinein. Die Souffleuse flüstert ihm verzweifelt das Stichwort seines Einsatzes zu. Schließlich, nach mehreren vergeblichen Versuchen, wendet sich der Schauspieler verärgert dem Souffleurkasten zu und ruft: “Keine Einzelheiten bitte! Welches Stück?“.
Genau das ist die Frage, die wir Christen neu stellen sollten: “Keine Einzelheiten bitte, um welches Stück geht es denn eigentlich in der Kirche?“ Irgendetwas stimmt nicht mit unserer Kirche. Von Freude ist wenig zu spüren. Es herrscht eine angespannte Geschäftigkeit innen und eine uninteressierte Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche außen. Es ist als zerbrösle die eigentliche Substanz des christlichen Glaubens. Wir reden und streiten um tausend Einzelheiten und verlieren die Mitte unseres Glaubens aus dem Blick. Was ist das “Kerngeschäft“ der Kirche, ihr Grundauftrag? Sie soll bezeugen: Bei dir, Gott, ist die Quelle des Lebens. Sie hat eine Botschaft vorn Leben über den Tod hinaus. Um dieses “Stück“ geht es — alles andere wäre eine Verharmlosung des Christentums.

Montag, 16.1.2006
Der Theologe und Schriftsteller Fridolin Stier schreibt am 21.April 1970 in seinen Tagebuchaufzeichnungen: “Ich komme von Tag zu Tag in eine Unzahl von Situationen, Tätigkeiten, Geschäften, in denen ich nichts sehe, was mit Jesus, mit meiner Beziehung zu ihm zu tun hätte“. Und er fährt dann fort: “Erwachen, Zähnebürsten, Rasieren, Waschen, Kämmen, in die Hose schlüpfen, Zigaretten, ein Taschenmesser, eine Schallplatte kaufen, Auto starten, zum Tanken fahren, ein Bild aufhängen, all der Kram und Trödel des Alltags.“ Da fragt ein begnadeter Bibelwissenschafter nach der Beziehung zu Jesus, einer der das Neue Testament ins Deutsche übertragen hat. Der leidenschaftliche Exeget nimmt das Wort beim Wort und stellt es in den Tag hinein. Hier muss es sich bewähren, im Kram und Trödel des Alltags. Der Alltag ist fragwürdig, also der Frage würdig: Gibt es einen Grund, der dies alles trägt? Gibt es einen Grund für mich, das eine zu tun und das andere zu lassen? Noch ehe ich erwache wartet schon eine Welt auf mich und hat ihr Tagewerk bereits begonnen. Sie, die Welt, oder — wer?

Dienstag, 17.1.2006
Wer sich klar artikulieren kann, wer spricht wie gedruckt, dem hören wir gerne. Wenn aber jemand stockend spricht, dann ist es mühsam, ihm zuzuhören. Das stockende Sprechen ist wie ein kleines Signal, dass im Leben nicht alles reibungslos gehen darf.
Nach dem Wort eines Theologen ist die kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung. Der Einbruch einer anderen Wirklichkeit ‚der Wirklichkeit Gottes, in unser Leben unterbricht die System- und Sachzwänge. Vor allem in den Beziehungen zwischen Menschen ist Reibungslosigkeit kein Qualitätsmerkmal. In der Beziehung zu Gott dürfte es auch so sein. Unser Gespräch mit ihm braucht keine glatten ausgefeilten Formulierungen. Es darf ein Stammeln sein: stockendes, zerrissenes Wort, das anzeigt, wie wir wirklich sind: unvollkommen, unabgerundet, zerrissen. Die Bibel selbst ist keine sprachgewandte Abhandlung. Sie spricht eher stockend in immer neuen Anläufen vom Geheimnis Gottes. Besser ein Wort versuchen, das noch nicht ausgegoren und ausgefeilt ist, als nichts sagen. Besser tastende Worte als lähmendes Schweigen.

Mittwoch, 18.1.2006
Wir Menschen sehnen uns nach etwas, das wir, solange wir leben, nicht erreichen werden. Dieses Etwas hat viele Namen. Aber keiner der Namen, die genannt werden können, ist d e r Name. Aber wir suchen. Wir suchen ein Leben lang. Und selbst wer die Suche einstellt, bleibt auf der Suche. Suche ist unser Schicksal. In unserem Leben ist ein Überschuss. Ein Mehr. Nichts kommt wirklich zur Ruhe. Haben wir ein Ziel erreicht, ist ein Wunsch erfüllt, ein Bedürfnis befriedigt, sofort regen sich Wunsch und Bedürfnis von neuem. Wir wollen mehr, weiter, höher, tiefer. Und es stellt sich die Frage, ob es nur die Angst vor dem Tod ist, wie manche meinen, die uns immer weiter treibt. Es könnte auch Hoffnung auf ein Leben sein, das alles Leben übersteigt. Wir wissen es nicht .Wir haben es nie gewusst .Wir werden es nie wissen. Es sei denn, wir begegneten dem großen Unbekannten und er spräche zu uns, zeigte sein Gesicht. Aber er tut es nicht. Weitersuchen ist unser Schicksal. Einverstanden sein und Aufbegehren sind nur zwei verschiedene Erscheinungen einer einzigen Bewegung: der Suche.

Donnerstag, 19.1.2006
Wer Wissen erwerben will, fragt warum und wozu es gut ist. Aber es wäre schön, eine andere Seite des Wissenserwerbes wiederzuentdecken. Wir lernen, wir lesen, wir studieren, wir rechnen, wir jonglieren mit physikalischen Formeln und experimentieren nicht für die Schule, nicht für den Beruf, nicht fürs Leben. Es gibt ein Lernen jenseits von Sinn und Ziel, Zweck und Absicht. Warum soll man sich nicht einfach daran freuen, wie man sich in einem Urlaub an nichts als der Schönheit der Natur und Leben freut, ohne dies gleich wieder für Erholungsabsichten zu verzwecken?
Die Lust am unnützen Wissen, an der reinen spielerischen, denkerischen Neugier hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Urmensch zum Homo Sapiens wurde, zum weisen Menschen. Zu diesem interesselosen Interesse gehörte früh schon das Interesse am Jenseits, am Göttlichen, am Unbekannten. Freude um der Freude willen am Himmel und an der Erde, an der Natur und an der Kreatur, an Gott.
Im Religiösen leuchtet etwas von der menschlichen Ur-Freiheit auf: Ich  m u s s  es nicht wissen, ich  m u s s  nichts wissen, ich  m u s s  auch Gott nicht wissen. Es ist einfach schön, darum und darüber zu wissen.

Freitag, 20.1.2006
So habe ich es verstanden: ich muss zwar als Christ in dieser Welt leben. Ich könnte also nicht umhin, Nahrung aufzunehmen, Leistungen zu erbringen, gesellschaftliche Funktionen auszuüben, Kulturwerte zu schaffen. Aber, das alles soll ich nicht zu ernst nehmen. Vor allem soll ich mich nicht an das Irdische verlieren. So habe ich es verstanden. Bei solcher Belehrung - ist‘s zu verwundern - kam mir der Gedanke, dass es die Mönche auf dem Berg Athos richtig machen. Sie haben sich aus der Welt zurückgezogen. Aber - ist das christlich? Ist Christentum nicht dort zu finden, wo das Leben pulsiert? Was ist eigentlich Welt? Das ist doch das, was Gott geschaffen hat. Und was er immer noch schafft. Wenn er aber diese Welt schafft, dann muss sie doch gut sein. Eines ist mir klar geworden: diese Welt ist nicht fertig. Und sie ist zwiespältig. Ich soll mich nicht ans Irdische verlieren. Am Ende eines Tages frage ich mich: ist durch mich ein Mensch etwas glücklicher geworden. Konnte ein Mensch durch mich neuen Mut bekommen. Wenn ich mich so verloren habe in der Welt, bin ich zufrieden.

Samstag, 21.1.2006
Schon als junger Mensch fiel mir das in den Kirchen auf: die Menschen waren im Gottesdienst besonders fromm. Sie waren so ganz anders in der Kirche. Sie schauten anders aus. Anders als im Gasthaus, oder wenn sie ihre Späße machten. Auch mein Vater schaute anders aus, auch meine Mutter.

Mit unseren Gottesdiensten dürfte irgendetwas nicht in Ordnung sein. Die fromme Gemeinschaft im Gottesdienst erlaubt es keinem ein Sünder zu sein. Erlaubt es keinem, nicht fromm zu sein. Natürlich bekennen wir, dass wir Sünder sind, dass wir schuldig geworden sind. Aber das bekennen wir nur so allgemein.

Christen haben zwar als fromme Gemeinschaft miteinander. Aber sie haben keine Gemeinschaft als die Unfrommen, als die Sünder. Darum muss jeder seine Sünde vor sich selbst und vor der Gemeinschaft verbergen. Unausdenkbar, wenn auf einmal ein wirklicher Sünder unter die Frommen geraten wäre.

So bleiben wir mit unserer Schuld allein. Trotz aller Gottesdienste. Es sind eben Gottesdienste der Frommen.