Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Helga Kohler-Spiegel

 

 

Pfingstsonntag, 4.6.2006

In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurden gemeinsame Formulierungen für die wichtigsten Glaubensüberzeugungen entwickelt. In Konzilien wurde darum gerungen und gestritten, möglichst genaue Worte zu finden für das, was Christinnen und Christen glauben.

 

Dies betraf im 4. Jahrhundert nach Christus auch den Glauben an den dreifaltigen Gott. Christlich glauben heißt, dass Gott vielfältig erfahrbar ist, und dass Gott vor allem in drei Zugängen erfahren wird. Wir erfahren Gott väterlich-mütterlich, als Schöpfer und Bewahrer dieser Welt. Wir können Gott zugleich auch in Jesus erfahren, im Menschen, im Bruder und der Schwester neben uns, im so genannten „Nächsten“, und sogar in dem Menschen, den wir nicht mögen… Und wir können Gott erfahren im „Geist“, im Heiligen Geist, in der Kraft, die in uns Menschen spürbar ist, tröstend und stärkend, ermutigend und beruhigend – Kraft in ganz vielen Formen, wie wir sie täglich benötigen.

 

„Dreifaltig“ wurde als Begriff gewählt, um dies auszudrücken: Gott ist für uns vielfältig und unterschiedlich erfahrbar. Je nach Situation, je nach Lebensphase, je nach eigener Erfahrung. Vielleicht ist für Sie „Gott“ manchmal spürbar in der Natur, in der Schöpfung, wenn die Sonne aufgeht an einem schönen Sommermorgen. Vielleicht ist „Gott“ für Sie spürbar, wenn Sie sich begleitet und behütet wissen, wie von einem guten Vater oder einer guten Mutter. Vielleicht entdecken Sie „Gott“ am stärksten in anderen Menschen, in den Menschen um uns herum, im Gesicht eines Menschen. Oder vielleicht ist für Sie diese bewegende Kraft ganz wichtig, der „Geist Gottes“, eigentlich müssten wir sagen „die Geistin“, die Lebensspenderin, die Kraft – manchmal ganz leise, manchmal ganz stark spürbar.

 

 

Pfingstmontag, 5.6.2006

Vielleicht haben Sie gestern zu Pfingsten, am Fest des Geistes Gottes, etwas von dieser bewegenden Kraft gespürt. Sie kennen das vermutlich auch: Es gibt Menschen, die haben die Fähigkeit, andere miteinander zu verbinden, sie ermutigen andere, sie finden immer noch etwas Positives, sie finden immer wieder eine Lösung, sie haben – fast könnten wir sagen: einen guten Geist in sich.

 

Im Hebräischen heißt der Geist „die Ruah“, im Griechischen wird die Ruah häufig mit der „Sophia“; der Weisheit in Verbindung gebracht. Die weibliche Weisheit Gottes und die bewegende Kraft gehören zusammen. Zu Pfingsten erinnern wir, dass zum Göttlichen der Geist Gottes gehört, wir nennen ihn „Weisheit“ und „Kraft“, „Trösterin“ und „Bewegerin“, „Stärkung“ und „Ermutigung“ – und wir können dieser göttlichen Kraft viele andere Namen geben von Eigenschaften, die in uns Menschen sind oder sein können. Im jüdisch-christlichen Glauben ist diese Kraft ein Geschenk Gottes, im Geist Gottes zeigt sich Gott selbst.

 

Menschen haben den Geist Gottes in sich, einen guten Geist. Auch wir können beobachten, wes Geistes Kind wir selbst sind. Ob uns gute Gedanken prägen, ob uns gute Worte zu andern Menschen einfallen, ob wir auch wohlwollend zu uns selbst sind, das liegt auch in unserer Hand. Wird mich heute diese gute Kraft Gottes prägen?

 

 

Dienstag, 6.6.2006

Bei Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, habe ich die Kraft der inneren Bilder verstehen gelernt. Seit wir mit bildgebenden Verfahren ins Hirn der Menschen schauen können, wissen wir immer Neues darüber, wie unser Hirn funktioniert – oder eben nicht funktioniert.

 

Konflikte, Verlust von Fähigkeiten oder Verlust von Beziehungen können zur Störung des inneren Gleichgewichts führen. Beim Menschen kommt aber noch hinzu, dass die Vorstellung eines solchen Konflikts ausreicht, um im Hirn dieselbe Reaktion auszulösen als das Faktum selbst. Diese Fähigkeit zur Vorstellung von Negativem kann uns belasten, vorgestellte Kräfte können uns aber auch viel Kraft und Mut geben. Die Vorstellung allein, innere Bilder können Stress verstärken, instabilisierend wirken oder Sicherheit geben. Vertrauen in vorgestellte Kräfte sind solche stabilisierende Fähigkeiten (Glaube, „die Fähigkeit, daran zu glauben, dass es wieder gut wird“, so sagt Hüther).

 

Ich wünsche Ihnen für den heutigen Tag: ganz viele stärkende innere Bilder, die Ihnen Kraft geben durch den Tag.

 

 

Mittwoch, 7.6.2006

Gestern habe ich von der Kraft der inneren Bilder gesprochen, von der Fähigkeit des Menschen, dass innere Bilder positive wie irritierende Impulse im Gehirn auslösen können, wie wenn das Vorgestellte tatsächlich geschehen würde.

 

Ich kann erlebte Szenen, Begegnungen und Erfahrungen verinnerlichen, ich kann sie nach innen nehmen und dort bewahren. Und ich kann sie in schweren Tagen wieder erinnern, ich kann sie wieder hervorholen in dunklen Stunden, wenn ich arm an inneren Bildern werde.

 

Wenn wir das weiterdenken, gibt uns das Verständnis dafür, wieso Tagträume so erfrischend sein können, wenn sie uns an schöne Orte führen. Dies macht verständlich, wieso Meditation und Gebet für viele Menschen eine Quelle der Kraft sind. Innere Bilder haben Kraft – im Guten wie im Belastenden.

Hoffentlich ist heute ein Tag, an dem Sie erfüllt sind von guten und hellen inneren Bildern.

 

 

Donnerstag, 8.6.

In unserer heutigen Zeit ist der Körper sehr wichtig geworden. Überall wird uns angepriesen, was wir alles für unseren Körper tun sollten, Kosmetika zum Verschönern, Cremen und Bäder zur Entspannung und und und. In unserer Kultur ist der Körper wieder wichtig geworden, teilweise so wichtig, dass manchmal eine Erkrankung schon den Eindruck erweckt, selbst daran Schuld zu sein, weil man ja zu wenig auf sich selbst geschaut hat.

 

Es gibt aber, denke ich, noch einen anderen Umgang mit dem eigenen Körper. Ich kann meinen Körper bewusst wahrnehmen, bei einer selbstverständlichen Bewegung, beim Stiegensteigen, beim Mich-Bücken, beim Einsteigen in den Bus. Ich kann bewusst auf meinen Körper hören, das heißt ja auch, mich so wahrnehmen, wie ich bin, mit all meinen Möglichkeiten, mit den Grenzen, auch in der Bewegung. Mich wahrnehmen, wenn ich gut und munter aufwache in der Früh, wenn manche Bewegung weh tut, wenn ich merke, dass ich am Morgen Zeit brauche, um in Bewegung zu kommen… Mich selbst wahrnehmen, meinen Körper wahrnehmen, ermöglicht mir einen bewussten Einstieg in den Tag. Und vielleicht fällt es Ihnen auch abends nochmals ein: Mich selbst wahrnehmen, meinen Körper spüren können…

 

 

Freitag, 9.6.2006

In der Antike wurden Tage, an denen Unglück angesagt war, von den Machthabenden, vom Kaiser einfach ausgesetzt, sie wurden weggelassen, aus dem Kalender gestrichen. Es gibt sie auch bei mir, so mühsame Tage, an denen ich nicht recht in Stimmung komme, an denen mir manches misslingt und vieles schwer fällt, zumindest mehr Kraft kostet als an anderen Tagen. An solchen mühsamen Tagen würde ich mir wünschen, dass ich den Tag auslassen könnte, einfach aus dem Kalender streichen – wie damals in der Antike.

 

Es gibt diese Tage. Heute können wir sie nicht einfach auslassen. Und wenn ich so nachdenke, bin ich irgendwie auch froh drum. Denn diese Tage machen mich auch etwas geduldiger mit mir selbst, wenn ich mich damit konfrontieren muss, dass manches nicht gelingt, dass ich Fehler mache…

 

Ich wünsche Ihnen jedenfalls einen Tag, den Sie nicht aus dem Kalender streichen möchten, ich wünsche Ihnen einen Tag, um den es schade wäre, wenn Sie ihn nicht erlebt hätten.

 

 

Samstag, 10.6.2006

Vielleicht klingen die Stimmungen der Nacht und der Träume in Ihrem Aufwachen noch nach. Ein Tag liegt vor uns, wie viele Worte werden auf mich eindringen, wie viele werde ich reden? Von Albert Cullum stammt der Text: „Der Vogel hat gesungen. Die Glocke hat geläutet. Die Geranie auf der Fensterbank ist gestorben. Und Sie reden einfach weiter, Frau Schmitt.“ Es ist ein herber Text, dieses „und Sie reden einfach weiter“ lässt mich immer wieder erschrecken.

 

Mein Partner, meine Partnerin ist vielleicht müde und würde Trost brauchen – und ich rede einfach weiter. Mit einer Freundin im Gespräch – ich spüre die Stimmungsschwankungen und die Traurigkeit erst viel später, denn ich habe einfach weitergeredet... Manchmal nehmen wir ja wahr, was rund um uns geschieht, aber „wir reden einfach weiter“.

 

Es gibt auch die andere Erfahrung, dass mein Gegenüber fragend schaut und signalisiert, dass wir über das reden könnten, was uns zurzeit wirklich beschäftigt, dass wir vom Smalltalk erlöst wären... Vielleicht gelingt es mir heute: die Glocke zu hören, die läutet, den singenden Vogel zu bemerken, und einen Menschen zu finden, der mit mir nicht nur übers Wetter redet.