Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Mag. Anna Sallinger, Kath. Theologin und geistliche Begleiterin aus Graz

 

 

Sonntag, 18.6.2006

Zeit zum Seele baumeln lassen

Sonntags geht es mir manchmal so, dass ich mich nach sehr hektischen Zeiten vom Getriebe schwer auf die Ruhe umstellen kann. Dann halte ich das Nichtstun nicht aus. Ich verplane die freie Zeit und erledige weiter und weiter- denn zu tun gibt es immer etwas. Am Beginn der neuen Arbeitswoche bin ich dann nicht erholt. Ich konnte nicht wirklich Kraft schöpfen, da auch am Sonntag so viel los war.

Die Schöpfungserzählung aus der Bibel ist mir da ein wichtiger Impuls. Gott erschafft in 6 Tagen die ganze Erde. Am siebenten Tag ruht Gott. Es heißt: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: es war sehr gut“. Das klingt so, als ob sein Werk für ihn erst im Rückblick und in der Muße Vollendung finden würde. 

Auch für uns ist der Sonntag ein Tag, um den nötigen Abstand von der Geschäftigkeit der ganzen Woche zu gewinnen. Eine Zeit, die uns daran erinnert, dass ich als Mensch mehr bin als nur nützlich und effektiv. Das macht mich wertvoll und davon lebe ich in der kommenden Woche.

 

 

Montag, 19.6.2006

Wie kann ich intensiv leben?

Was machen Sie in diesem Augenblick? Stehen Sie gerade auf, sind Sie im Bad oder beim Frühstück? Sind Sie beim Planen dieses Tages: Was gehört heute alles erledigt?

Das kennt sicher jeder, dass er eine Sache macht und mit den Gedanken eigentlich schon bei der nächsten ist, oder noch bei der vorigen.

Ich merke, dass ich Dinge nicht so tief erlebe, wenn ich nicht ganz gegenwärtig bin. Jeder Augenblick meines Lebens wird aber umso intensiver, wenn ich ganz da bin, mit all meinen Gedanken, mit allen Sinnen und mit meinem Herz. Da nehme ich in Begegnungen Menschen genauer wahr, kann ich zwischen den Zeilen lesen, merke ich Gefühle deutlicher. Ich spüre, wenn mich etwas berührt, auch schmerzlich berührt. Das ist für mich Leben in Fülle – nicht irgendwann, sondern hier und jetzt in meinem Alltag.

Möge es an diesem Tag für uns einige Momente solch intensiven Lebens geben!

 

 

Dienstag, 20.6.2006

Der Augenblick ist das Gewand Gottes

Martin Buber hat den Satz geprägt: „Der Augenblick ist das Gewand Gottes.“ Das heißt für mich: Ich kann Gott in jedem Augenblick immer anders erfahren. Zu fixe Vorstellungen von Gott können mich an dieser Erfahrung hindern. Der Satz von Buber sagt mir; dass mir Gott begegnet, wenn ich im Augenblick da bin, denn Gott selbst offenbart seinen Namen in der Bibel als „ich bin der ich bin da“.

Für mich gibt es im Alltag immer wieder Augenblicke, wo ich etwas von Gott erahne. Wenn ich ergriffen bin vom Wachsen der Pflanzen in der Natur, wenn ich die Vögel singen höre, die Sonne auf der Haut spüre. Und wenn ich im genau richtigen Augenblick den richtigen Menschen treffe. Und ich in der Begegnung mit einem Menschen Nähe und Verstehen spüre. Ich bin überzeugt, dass ich in diesen Augenblicken etwas vom Gewand Gottes berühre.

Ich lade Sie jetzt ein, mit all Ihren Sinnen genau wahrzunehmen, was Sie in diesem Moment tun: die Wärme der Bettdecke fühlen; das Wasser der Dusche auf der Haut spüren oder den Kaffeeduft genießen.

 

 

Mittwoch, 21.6.2006

Wo Augen sich treffen, entstehst du

„Wo sich Augen treffen, entstehst du“, heißt es in einem Gedicht von Hilde Domin. Wo wir gesehen werden wie wir sind - mit unseren Schwächen und Stärken, mit unseren Verletzungen und unseren Träumen, dort können wir wachsen. Wenn sich Augen wirklich treffen, dann ist nicht der eine groß und mächtig und die andere klein und unterlegen. Wenn sich Augen treffen, dann gibt es Begegnung auf Augenhöhe – ohne Angst und Machtansprüche.

Das Gleiche gilt für mich auch für Gott. Ich darf glauben, dass er mir auf Augenhöhe begegnen will. Er will mir als aufrechtem Menschen begegnen. Und ich weiß auch, dass Gott mich so nimmt, wie ich bin. Unter seinem liebevollen Blick darf ich wachsen.

Ich wünsche Ihnen heute Begegnungen auf Augenhöhe!

 

 

Donnerstag, 22.6.2006

Meine Schuhe

Wenn ich in der Früh die Schuhe anziehe, fallen mir größere und kleinere Wegstrecken ein, die ich am heutigen Tag zurücklegen werde. Welche Schuhe werden dafür passen?

Vom Mönchsvater Johannes ist der Satz überliefert: „Gehe deinen Weg. Gehe in deinen Schuhen.“

Beim Gehen merke ich, dass ich manchmal die Schuhe von anderen übernommen habe, weil es sich so gehört oder weil man sich das von mir erwartet. Dann gibt es wieder Zeiten, in denen meine Schuhe eine Nummer zu klein sind, weil ich mich nicht traue zu mir zu stehen. Oder dann sind sie zu groß, weil ich zu viel von mir verlange und ich mich überschätze.

Manchmal ist es auch wichtig barfuss zu gehen; damit ich mich in meinem Innersten kennen lerne und Gespür für die für mich richtigen Schuhe bekomme.

Dann kann ich meinen Weg gehen und das in meinen Schuhen.

 

 

Freitag, 23.6.2006

Was mich prägt

Manchmal sitze ich in der Straßenbahn und lese in den Gesichtern. Da sehe ich Sorgen und Bitterkeit, Offenheit und Wärme, Enge und Zufriedenheit. Ich frage mich, was haben diese Menschen erlebt, was hat sie geprägt?

Wie wir sind und werden, haben wir zum Teil selbst in der Hand. Das drückt für mich ein Spruch aus, den ich einmal gelesen habe: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahin werden wir verwandelt.“ Was habe ich im Laufe eines Tages nicht so alles im Auge: Dinge, die mich ärgern, die nicht klappen, eine Riesen Flut an negativen Nachrichten. Aber ich will mich von dem allein nicht prägen lassen. Denn es gibt im Alltag auch anderes. Einmal bin ich ganz in ein Problem versunken in der Straßenbahn gesessen. Da hat mich ein Baby so lange durchdringend angeschaut, bis ich zu lachen begonnen habe. Ich war nicht mehr nur mit mir beschäftigt, mein Gesicht ist wieder offen geworden und ich habe die Welt mit anderen Augen sehen können. Da habe ich gemerkt wie wichtig das ist, was ich im Blick habe. Und wie wichtig es auch ist, wie ich hinschaue.

 

 

Samstag, 24.6.2006

Fragmentarisch leben

In unserer Zeit ist es für viele ein großes Ziel, heil zu sein, ganz zu sein. Wichtig ist die richtige Meditationstechnik, die richtige Pille oder die richtige Gymnastikübung anzuwenden. Mit diesen Mitteln glauben viele, aus eigener Anstrengung dieses Ziel sicher zu erreichen.

Da ist mir unser Glaube eine große Hilfe und Entlastung. Denn in meiner Vergangenheit gibt es vertane Chancen und Abgebrochenes. Ich habe auch den Eindruck, dass vieles in mir und in meinem Leben nicht ganz werden wird und unvollständig bleibt. Mein Glaube gibt mir aber die Gewissheit, dass ich so leben darf. Gerade im Kreuz Jesu – in seinem scheinbaren Scheitern - finde ich mich mit meinen bruchstückhaften Versuchen zu leben, wieder.

Neben der Zusage unseres Glaubens, so sein zu dürfen, wie ich bin, ist in mir auch die Sehnsucht nach Ganzheit und Heil da. Ich glaube daran, dass mir das von Gott geschenkt wird, auch in ganz alltäglichen Lebenssituationen. Gleichzeitig ist diese zum großen Teil unerfüllte Sehnsucht der Motor, Gott in meinem Leben unaufhörlich zu suchen.