Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

„Brot des Lebens“

von Gertrud Piesch-Köchel (Wien)

 

 

Sonntag, 25.6.2006

 Es  ist Sonntag. An diesem Tag ist uns ein besonderes Brot geschenkt. Ein Mann namens Jesus bietet es an. Dieses Brot allerdings verpflichtet zur kritischen Betrachtung der Welt. Und – zur kritischen Betrachtung des eigenen Verhaltens. Ein harter Bissen, keine Frage. „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst“, heißt es in der Gebrauchsanweisung. Und – provokant und kaum zu verdauen – „Liebt eure Feinde!“ Und noch brisanter: „Wenn einer in deinem engeren Umkreis gegen die Regeln der Mitmenschlichkeit verstößt, rede mit ihm. Auch auf die Gefahr hin, dass er sagt: „Was geht das dich an?“

 

Unangenehme Sache, dieser Auftrag. Ja sogar lebensgefährlich, wenn es sich um politisch-diktatorischen Druck auf ganze Völker handelt. Genug Widerständler haben dabei schon ihr Leben gelassen. Und doch ist dieses Brot Kraftnahrung. Mutmachend. Frieden stiftend. Der Welt – auch im kleinsten Kreis – ein neues Gesicht gebend.

 

 

Montag, 26.6.06

Es war am Westbahnhof in einem Aufzug. Neben mir zwei junge Frauen. Am Boden eine gebratene Erdapfelscheibe, sichtlich gerade erst verloren, weil noch nicht zerquetscht. Weil mir das Fallen lassen von Brotresten, angebissenen Wurstsemmeln, halben Äpfeln und eben auch dieses kleinen Erdäpfelstückes absolut zuwider ist, hab ich es aufgehoben.

 

Nun war mein Outfit nicht gerade das einer Obdachlosen und die beiden Frauen starrten mich erschreckt an: „Wird sie das jetzt essen?“ Ich habe zu ihrer Erleichterung aber keinen Versuch gemacht, es mir als willkommene Frühstücksergänzung in den Mund zu schieben. Als wir zu dritt aus der Kabine gingen, hab ich es in den Mistkübel geworfen.

 

Als Kind und junger Mensch habe ich den Krieg erlebt. Seither steckt in mir eine große Ehrfurcht vor Lebensmitteln. Rund um die Welt verhungern Menschen und bei uns wird soviel weggeworfen. In allem Essbaren – für mich besonders im Brot – liegt auch die Achtung vor den Armen und der Wille zur Hilfe. Was bei gut überlegtem Einkauf eingespart werden kann, ist zwar sicher nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Aber auch kleine Beträge summieren sich und werden über Hilfsorganisationen zum Brot für Hungrige.

 

 

Dienstag, 27.6.2006

In den 60er Jahren war ich Leiterin eines Ferienheimes. Mit über 100 Kindern war viel Leben in der Anlage und oft war es nicht leicht, in den Schlafräumen für Nachtruhe zu sorgen. Eines Abends hatte ich eine Idee. Ich bin mit einem Brotwecken in jedes Zimmer gegangen und hab gefragt, ob noch jemand Hunger hat. „Ich! Ich!“ schwirrte es durcheinander. Aber als ich eine Scheibe Brot anbot, war die Enttäuschung groß. „Brot? Nur trockenes Brot?“, haben die meisten enttäuscht gejammert. Nur ein paar haben zugegriffen. Wenige Tage später wollten allerdings fast alle Kinder ein Stück. Sie haben damals die Köstlichkeit Brot entdeckt.

 

Mir ist Brot heilig. Man kann sich daran nicht überessen. Und ich denke, man sollte es Kindern schmackhaft machen, auch wenn es nicht dick mit Butter bestrichen oder mit Wurst belegt ist. Es hat für mich aber noch eine zweite Bedeutung. Nämlich als Synonym für Mitmenschlichkeit in verschiedenster Form. Auch an diesem Brot kann man sich niemals überessen. Nicht als Geber und nicht als Beschenkter.

 

 

Mittwoch, 28.6.2006

Es war Herbst. Die Frau hatte bei ihrer morgendlichen Parkrunde einen jungen Mann gesehen, der in einer Wiese übernachtet hat und gerade seinen Schlafsack zusammenrollte. Nach kurzer Überlegung hat sie ihn angesprochen: „Ich bin auf dem Heimweg. Kommen Sie mit, Sie können bei mir frühstücken.“ Etwas perplex und fast auch ein bisschen ängstlich hat er sie angeschaut. „Was will die Frau von mir?“, hat er wahrscheinlich gedacht. Aber die Aussicht auf ein Essen hat schließlich überwogen.

 

Sie sind dann miteinander am Küchentisch gesessen und bei Kaffee und Butterbrot in Gespräche über Gott und die Welt gekommen. Er hat von seiner Familie erzählt, von seinen Berufswünschen, wie er sich in Paris durchgeschlagen hat und dass er ziemlich froh ist, wieder in Österreich zu sein. Nach einer halben Stunde hat er sich bedankt und nach seiner Tasche gegriffen. Sie hat ihm noch 20 Euro gegeben, aber – wie sie ausdrücklich sagte – nicht als Geschenk. Wenn es ihm wieder gut ginge, solle er ihr das Geld zurückbringen. Er hat gelächelt, „auf Wiedersehen“ gesagt und sich auf den Weg gemacht. Er ist anders fort gegangen, als er gekommen ist.

 

 

Donnerstag, 29.6.2006

„Oma, Oma!“, schreit der kleine Wicht und läuft auf Frau Meier zu. Kaleb kommt mit seiner Mutter Christina auf Besuch. Heute wird sein dritter Geburttag gefeiert.

 

Frau Christina ist Nigerianerin. Sie ist evangelisch getauft und deshalb in ihrer Heimat verfolgt worden. Sie hat flüchten müssen. Die Caritas hat ihr und Baby Kaleb eine Unterkunft in der Nähe von Wien verschafft. An den Wochenenden können sie bei Frau Meier übernachten. Der kleine Bursche hat sie inzwischen zu seiner Oma erklärt. Er ist ein quicklebendiges Kind. Als er stehen und gehen konnte, hat er mit Vorliebe lange Rhythmen auf Sessel und Tische getrommelt. Wenn Frau Meier der Wirbel zuviel geworden ist – schon der Nachbarn wegen – hat sie ihn auf den Schoß genommen und von „Hoppareiter“ bis Kaleb klein, ging allein...“ alles durchgespielt, was schon ihren Kindern und Enkelkindern Freude gemacht hat. Jetzt mag er schon gerne kleine Geschichten hören, aber „Hoppareiter“ muss noch immer sein.

 

Vor kurzem hat Christina gesagt, dass sie sich bei Frau Meier daheim fühlen darf, hat von Anfang an das Flüchtlingsleben für sei erträglicher gemacht.

 

 

Freitag, 30.6.2006

Als das Mädchen aus China neun Jahre alt war, starb die Mutter. Geld für Arzt und Krankenhaus war nicht vorhanden. Der Tod kam am Reisfeld. Die Neunjährige hat nun Arbeit finden müssen, wenn sie überleben wollte. In einem Speisehaus ist sie untergekommen. Chef und Chefin verlangten viel von ihr. Aber sie haben ihr, dem Dorfkind aus einer Dorfschule, die chinesische Hochsprache Mandarin beigebracht – ein wichtiger Punkt für ihr späteres Leben.

 

Vermutlich ein Österreicher hat sie eines Tages nach Wien mitgenommen. Und sie dann in einer U-Bahnstation einfach sitzengelassen. Das Warum ist bis heute offen. Eine Polizeistreife griff sie auf und von da an ist ihr Leben in ganz neue Bahnen gekommen. Sprachbarrieren, kulturelle Hürden, ganz neue Essgewohnheiten – sie hat bisher alles mit Bravour gemeistert. Auch die Schule. Ohne Mandarin allerdings wäre der Einstieg in die deutsche Sprache nicht so schnell gelungen.

 

Hilfreich war natürlich auch, dass sie von ihrer neuen Großfamilie freundschaftlich aufgenommen worden ist. Zur Zeit ist sie dabei, gemeinsam mit den Pflegeeltern und den großartigen Lehrern eine solide Wissensgrundlage für ihre weitere Ausbildung zu erwerben. Eines Tages wird sie eine tadellose österreichische Staatsbürgerin sein.

 

 

Samstag, 1.7.2006

Viele Jahre habe ich ein Ehepaar erlebt, das mir sehr nahe stand. Beide hatten ein körperliches Handicap. Um der durchaus möglichen Gefahr vorzubeugen, später einmal durch grobe Worte eines gesunden Partners verletzt zu werden, waren sie auf der Suche nach einem gleichfalls Betroffenen. Sie haben einander gefunden, geheiratet und zwei Kinder bekommen. Ein kleines Haus ist gebaut worden, das bis zum Tod des Paares das Zentrum der Familie war.

 

1938 kam Hitler, 1939 der Krieg. Bestürzende Meldungen über KZ-Gräuel, viele Gefallene im Umkreis, Bomben. Und immer wieder die angstvolle Frage, wann der Wahnsinn aus ist, den der Mann aus Braunau mit seinen Spießgesellen über die ganze Welt gebracht hat. Trotzdem hat es aber auch während des Krieges gute Zeiten im kleinen Haus gegeben. So erinnere ich mich sehr deutlich an die „Weltreisen“. Weltreisen, die der Vater mit den Kindern im Atlas gemacht hat. Sie haben dabei mehr gelernt, als in der Schule.

 

Der Frau hat der Arzt nach dem Krieg vorgeschlagen, ihr Gebrechen mit einer Operation zu beheben. Obwohl sie bis zum Tod unter ihrem Makel gelitten hatte, war die Antwort damals sofort da: „Mein Mann kann sich’s auch nicht richten lassen.“ Ich kenne bis heute kein tieferes Treubekenntnis. Die es gesagt hat, war meine Mutter.