Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Pfarrer
Christian Öhler (Linz)
Sonntag, 2. Juli 2006
Es gibt einen neuen, europäischen
Pilgerweg, der auch so heißt: „via nova“ ist lateinisch und bedeutet
„neuer Weg“. Das Ziel ist St. Wolfgang am gleichnamigen See im
oberösterreichischen Salzkammergut. Für mich ist diesmal die
Wallfahrtskirche mit dem Pilgerbrunnen davor der Ausgangspunkt und
Altötting das Ziel. „Altötting ist das Herz Bayerns und eines der
Herzen Europas“, sagt Papst Benedikt XVI über den Gnadenort, den er
im September besuchen wird.
Ich komme aus einer ziemlichen
Hektik. Ein typischer Zeitgenosse halt. Die Seele hat´ s nicht
leicht mit uns. Wir sind eingespannt, manche wie in einem
Schraubstock. Sobald ich mir die Schuhe schnüre, den Rucksack
schultere und den Pilgerstab in die Hand nehme, beginnt ein anderes
Programm zu laufen. Bei Waschmaschinen kennen wir die Einstellung
„pflegeleicht“ und „Knitterschutz“. So ist pilgern. Eine schonende
Reinigung für Körper und Seele. Nach einer gewissen Phase der
Gewöhnung glätten sich die Sorgenfalten.
Am Fuß des Falkensteins suche ich
mir einen Stein. Ich trage ihn den Berg hinauf. Bei der zwölften
Kreuzwegstation ist ein großer Steinhaufen. Ähnlich wie beim Cruz de
Ferro am Jakobsweg in den Bergen von Leon. Ich lege meine Last ab
und denke an das Bibelwort: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt
und schwere Lasten zu tragen habt.“ In der Übersetzung von Jörg Zink
sagt es Jesus so: „Ich herrsche nicht über euch. Denn Gott ist mir
nahe, liebend und menschlich. Aufatmen sollt ihr!“
In der Nähe der Klause, in der St.
Wolfgang einige Zeit verbracht hat, zwänge ich mich zwischen zwei
Felsen hindurch. Hier soll der Teufel versucht haben, den Heiligen
zu erdrücken. Dreimal läute ich die Glocke und an der Quelle wasche
ich mir mit frischem Wasser die Augen aus. Den Blick klären. Wieder
im Einklang leben mit Gott und seiner Schöpfung. Der innere Weg hat
nun auch begonnen.
Montag, 3. Juli 2006
Im Europakloster Gut Aich in St.
Gilgen am Wolfgangsee lebt eine Mönchsgemeinschaft nach dem
Evangelium und nach der Regel des Hl. Benedikt. Neues Leben lernen
ist das Ziel der Gemeinschaft.
Ich nehme den Rucksack von den
Schultern – die im Übrigen schon etwas schmerzen von der ungewohnten
Last. Den Pilgerstab lehne ich an die Klostermauer und begebe mich
in die Kapelle. Nach einigen Momenten stillen Betens werfe ich einen
Blick in die aufgeschlagene Bibel. Und traue meinen Augen nicht.
Aufgeschlagen ist die Stelle aus dem
Buch Genesis, in der es heißt: „In jenen Tagen sprach der Herr zu
Abraham: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus
deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.“ Wie der
Zufall spielt. Abraham also, der Pilger schlechthin, von Gott
herausgerufen und „behütet auf all seinen Pilgerreisen“ – so ein
Pilgersegen aus dem spanischen Roncesvalles im 11. Jhdt.
Es gibt keinen Zufall – nicht für
den Pilger. Du bekommst immer das rechte Wort am rechten Ort und zur
rechten Zeit. Deutung und Wegweisung zugleich.
Nach der Überquerung des
Scharflingerpasses geht’s am Mondsee entlang. Über der Drachenwand
türmen sich dunkle Gewitterwolken. Das Sonntagsevangelium kommt mir
wieder in den Sinn. Jesus fordert die Apostel auf, in ein Boot zu
steigen und den See zu überqueren. Ein heftiger Sturm kommt auf. Das
Wasser schwappt ins Boot hinein. Jesus schläft. Die Apostel wecken
ihn auf und müssen sich zwei Fragen gefallen lassen: „Warum habt ihr
solche Angst?“ Und: „Habt ihr noch keinen Glauben!“
Im katholischen Verständnis sind die
Bischöfe die Nachfolger der Apostel. Also wieder die richtigen
Fragen, zur rechten Zeit gestellt. Im Wirbelsturm, den die Absage
der Priesterweihe in Linz ausgelöst hat - nach kritischen Äußerungen
des einzigen Kandidaten zur dramatischen Priesternachwuchslage.
Als AnhängerInnen des neuen Weges –
der via nova - wurden die ersten Christinnen und Christen laut
Apostelgeschichte bezeichnet. Und wir heutigen?
Warum haben wir solche Angst vor
Veränderung und so wenig Vertrauen?
Dienstag, 4. Juli 2006
Vor mir ein Verkehrsschild
„absolutes Fahrverbot“. Darunter eine Tafel. Via nova – Europäischer
Pilgerweg. Rote Schrift auf gelbem Grund. Dazu ein Logo in blau und
rot, das signalisiert: In der Schöpfung schaust du dem Schöpfer
gewissermaßen ins Angesicht. Es ist einer der vielen Impulse, die du
am Weg bekommst.
Löse dich vom schnellen Tempo, vom
Zwang, möglichst rasch von A nach B zu kommen. Schau – so viele
Kostbarkeiten am Weg. Johanniskraut und Schachtelhalm. Ein Regenwurm
badet in der Wasserpfütze. Der Duft von Holunderblüten.
Im Anstieg auf den Kolomansberg
zwischen dem oberösterreichischen Mondsee und dem salzburgischen
Wallersee verlangsamt sich das Tempo wie von selbst. Der Atem kommt
und geht, ruhig und gleichmäßig. Ich spreche das Jesusgebet. Beim
Einatmen: Jesus Christus. Beim Ausatmen: Erbarme dich meiner. Oder
auch: Ich in dir und du in mir.
Oben angekommen, empfängt mich die
älteste Holzkirche Österreichs. Im inneren ein vielstimmiges Danke
von Menschen, die Heilung erfahren haben. In einer Ecke lehnen
Krücken. Sie werden nicht mehr gebraucht. „Jahwh – Gott zerreißt auf
diesem Berg die Hülle, die alle Nationen verhüllt und die Decke, die
alle Völker bedeckt.“ Mit den Decken und Tüchern sind wohl die
Schleier von Leidtragenden gemeint. Gott wischt die Tränen ab von
jedem Gesicht, sieht der Prophet Jesaja. Hoch oben – auf dem Berg.
Beim steilen Abstieg bin ich dankbar
für meinen Pilgerstab. Die Spiritualität des Pilgerns sieht in ihm
mehr als eine Stütze bei den Beschwernissen des Weges. Der
Pilgerstab ist ein Symbol für Christus. Du kannst dich auf ihm
abstützen, um immer ganz in seiner Nähe zu gehen.
Mittwoch, 5. Juli 2006
Pilgern ist anstrengend. Am Morgen
musst du früh aus dem Bett. Denn Morgenstund´ hat Gold im Mund. Am
Vormittag geht sich´ s leicht. Nach dem Mittagessen wird´ s mühsam.
30 Kilometer täglich sind nicht ohne. Am Abend kommst du todmüde
irgendwo an. Dann beginnt die Quartiersuche. Das Wort „Pilger“ kommt
von „Peregrino“, d.i. der Fremde. Wenn du wo fremd bist, freust du
dich über freundliche Gastgeber. „Vergesst die Gastfreundschaft
nicht, denn durch sie haben einige, ohne es zu wissen, Engel unter
ihrem Dach beherbergt.“ So lesen wir im Hebräerbrief im Neuen
Testament.
Wenn der Tag drückend heiß ist, bist
du dankbar, wenn dir jemand deine Wasserflasche mit frischem Wasser
füllt.
Wenn es plötzlich aus allen
Schaffeln zu schütten beginnt, freust du dich über ein trockenes
Plätzchen in einem Wintergarten. Die Gastgeberin macht sich ihren
eigenen Reim auf mein ungewöhnliches Erscheinungsbild. „Dann bist du
also so was wie ein Pfadfinder!“ meint sie. Wie Recht sie hat.
Erstens bin ich wirklich einer. Und Pfarrer sind ja auch im
übertragenen Sinn so etwas wie Pfadfinder. Sucher eines Weges in der
Nachfolge Christi. Die Bibel ist die Landkarte. Die Zeichen der Zeit
Wegmarkierungen.
In Dorfbeuern teile ich mir ein
Appartement mit einem Monteur. Er wartet Leserschneidemaschinen in
einem benachbarten Holzbetrieb. Beim Frühstück kommen wir ins
Gespräch. Ein bis zwei Wochen im Jahr nimmt er sich Zeit zum
Meditieren. „Damit einen der Alltag nicht fort trägt“ meint er. Da
stellt er sich Fragen wie: „Wo steh´ ich denn eigentlich? Wo gehe
ich hin? Wer bin ich in meiner Familie, unter Freunden und am
Arbeitsplatz?“
Also auch eine Art Wartung. Es gibt
genug Reibungen im Alltag.
„Wie Pilgern“, meine ich und als wir
auseinander gehen wünscht er mir noch einen guten Service!
Donnerstag, 6. Juli 2006
Pilgern im oberen Innviertel. Das
ist ein Gehen auf wenig befahrenen, asphaltierten Gemeindestrassen,
auf Feld- und Wiesenwegen, durch Wald und Heide. Dein Blick schweift
über sanfte Hügel. Rollende Wellen, aber in grün, nicht in
meeresblau.
Unvermittelt wächst gleichsam mitten
aus einem Getreidefeld in einiger Entfernung ein Kirchturm empor:
Kreuz, Turmspitze, Uhr, Aussichtsplattform, Bögen und Mauern. Ein
Orientierungsstrich in der Landschaft.
Obwohl – eigentlich träume ich ja
von einer Kirche, die keinen Turm hat und keinen Turm braucht.
Keinen erhobenen Zeigefinger. „Keiner wird mehr den anderen
belehren“, lesen wir beim Propheten Jeremia, „sondern sie alle,
klein und groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn“. (Jer
31,34)
Ich träume von einer Kirche, die ihr
Dach verliert und statt dessen nur den Himmel über sich hat und die
Wolken, den Glanz der Sonne am Tag und das zarte Leuchten der Sterne
in der Nacht.
Ich träume von einer Kirche, die in
Bewegung ist. Und Christus ihr Weg.
Ein Weg wie im Ibmer Moor, ein paar
zusammengefügte Holzbretter, sodass du es trockenen Fußes
durchqueren kannst, oder wie der befestigte Weg in der
Moorlandschaft vor Franking, mit Holzschnitzeln ausgelegt. Das gibt
einen angenehm federnden Gang. Und wenn auch beizeiten der Boden
unter dir ins Schwanken gerät, du wirst nicht versinken im schaurig
– schönen Moor, im abgründig – wunderbaren Leben.
Denn der Herr ist dein Hirte. „Er
führt dich zum Ruheplatz am Wasser“ lese ich auf einem liebevoll
gestalteten Kreuz am Rand meines Weges – und nehm´ s persönlich.
Freitag, 7. Juli 2006
Wer pilgert, ist nie allein.
Manchmal wird aus einem flüchtigen Gruß im Vorbeigehen ein längeres
Gespräch. Ein Mann erzählt von einer schweren Krankheit, mit der er
sich auseinandersetzen muss. Er hat sie überlebt, mit der Hilfe
Gottes und seiner Frau, wie er sagt. Nun überlegen sie, sich im
September unserer Gruppe anzuschließen. Eine Wallfahrt aus
Dankbarkeit. Der Apostel Paulus spricht in seinen Briefen alle
Getauften als Heilige an. Alle sind ja von Gott geliebt und möchten
dieser Berufung gemäß leben.
Manche bekommen das offizielle
Gütesiegel unserer Kirche verliehen. Nach einem langwierigen
Verfahren. Bei Franz Jägerstätter ist das Seligsprechungsverfahren
in Rom in Gang. Es nimmt einen raschen positiven Verlauf und könnte
bald abgeschlossen sein. Ich stehe an seinem Grab. Es befindet sich
an der Außenmauer der Kirche von St. Radegund. Ein wichtiges
Etappenziel auf meinem Pilgerweg.
Als aus dem nahe gelegenen
Deutschland der Nationalsozialismus herüber gekommen ist, haben sich
die meisten Leute aus der Gegend irgendwie arrangiert– oder die
neuen Machthaber begeistert begrüßt.
Der einfache Bauer und Mesner Franz
hat sich ein klares und unbestechliches Urteil bewahrt. Dank seines
Gewissens und der Hilfe seiner Frau Franziska. Er ringt sich dazu
durch, dem gott- und menschenverachtenden Regime nicht mit der Waffe
in der Hand zu dienen und wird am 9. August 1943 enthauptet.
„Lass sein Vorbild leuchten in
unserer Zeit, und schenke allen die Kraft, für Gerechtigkeit,
Frieden und Menschenwürde einzutreten“, bete ich an seinem Grab. Wer
glaubt, ist nie allein.
Samstag, 8. Juli 2006
Als ich im September 1958 zur Welt
gekommen bin, ist mein Vater mit dem Fahrrad von Rohrbach im
Mühlviertel ins bayrische Altötting gepilgert. Aus Dankbarkeit! Es
tut gut, einen Vater zu haben mit einem Glauben an mehr als an sich
selbst. Einen Vater, der zu solchem Glauben fähig ist. Viele haben
nie einen Vater zu Gesicht bekommen und viele haben nie einen Vater
gespürt, der wirklich für etwas einsteht.
Im Dunkel der Gnadenkapelle spüre
ich: jetzt bin ich angekommen. Es ist ein Raum wie eine Höhle, eine
überdimensionale Gebärmutter. Pilgern als unbewusste Suche nach der
Geborgenheit, die wir alle einmal im Schoß unserer Mütter erfahren
haben? Es tut gut, einmal die Erfahrung gemacht zu haben: du bist
bedingungslos geliebt! Und es tut gut, eine Mutter zu haben mit
einem Glauben an mehr als an sich selbst. Eine Mutter, die zu
solchem Glauben fähig ist. Es bewahrt vor Hysterie und ängstlichem
Klammern.
Das Herz der Gnadenkapelle ist nicht
zufällig ein Oktogon, ein Achteck. Wir finden diese Form auch bei
alten Taufbecken und Baptisterien. Es ist ein Symbol für die
Auferstehung Christi und für die eigene, für Erneuerung und
Wiedergeburt als Christinnen und Christen.
Papst Benedikt XVI. ist neulich mit
der Ehrenbürgerschaft der Stadt Altötting ausgezeichnet worden. In
seiner Dankansprache bezieht er sich auf eine Erfahrung, die er vor
wenigen Jahren machen durfte. Er hat eine Regensburger
Fußpilgerschaft auf ihrem letzten Stück begleiten können. Dabei ist
ihm aufgegangen, was eine derartige Pilgerschaft bedeutet:
„Nämlich, dass es nicht ein Gehen
mit den Füssen, sondern ein Gehen mit dem Herzen ist, nicht ein
äußerer, sondern ein innerer Weg, dass das uns oft so unzugängliche
Bußsakrament sich plötzlich wie eine Gnade öffnet, wie ein Geschenk,
indem so vieles von einem abfällt und wieder ein neuer Beginn da
ist, dass inmitten der Anstrengung und der wirklichen Mühsal dieses
Gehens dann doch am Schluss die große Freude steht, bei der Mutter
der Gnaden angekommen zu sein und ihr in dem stillen Heiligtum zu
begegnen.“ |