Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
„Über das Sorgen und zur
Welt bringen“
von Martin Schenk
Sonntag, 3.9.2006
Zur Welt bringen, ohne
selbst zu gebären
Hebammen helfen, etwas zur Welt zu bringen, ohne selbst zu gebären. Sie
sind Begleiterinnen, wenn etwas neu geboren wird. Sie unterstützen,
sorgen, begleiten, horchen. Das ist eine ungeheuer wichtige
Tätigkeit, die uns in vielen Bereichen hilfreich ist: in der
Familie, in allen Berufen, die mit Menschen zu tun haben - von der
Behindertenarbeit bis zur Altenpflege, besonders aber in der Schule.
Lehrer sind eigentlich Hebammen. Gute Bedingungen fürs Lernen zu schaffen
und helfen, dass Schüler für sich etwas Neues zur Welt bringen. Das
funktioniert aber weder mit dem Trichterkonzept: Schüler sind leere
Köpfe, in die Wissen für die Zukunft eingefüllt wird, noch mit der
Osterhasenpädagogik: Lehrer hat Wissen versteckt, das die Schüler
suchen müssen. Sondern besser mit dem Zugang der Hebamme: helfen,
etwas zur Welt zu bringen ohne selbst zu gebären. Das ist ein
dialogischer Zugang, in einer Schule, in der Lernprozesse ausgelöst
werden, die Vorerfahrungen und Lebenswelten der Schüler zum Ausgang
des Arbeitens nimmt. Eine Lernumgebung, die unterschiedliche
Geschwindigkeiten zulässt sowie Neugier und Konzentration anregt.
Wie bei einem Gärtner, der Pflanzen gießt, sich um guten Boden kümmert,
die Sonne scheinen lässt. Und nicht glaubt, dass Pflanzen schneller
wachsen, wenn man daran zieht.
Montag, 4.9.2006
Sorge um die Schwachen,
nützt auch den Starken
Was stärkt Kinder? Die Frage, wie können Kinder, die schwächer sind,
gestärkt werden, ist ja nicht neu. Sozial benachteiligte Kinder,
Knirpse, die aufgrund ihrer Herkunftsfamilie Probleme haben, Kinder
mit Behinderungen oder ganz einfach welche, die die
Unterrichtssprache noch nicht gut können.
Die Idee, abgeschlossene Gruppen mit den Schwächeren zu bilden und diese
im Namen der Integration von den Stärkeren zu trennen, ist leider
auch nicht neu.
Integration von benachteiligten Kindern und Jugendlichen heißt aber
immer: die Ermöglichung von sozialer Teilhabe, die Stärkung ihrer
Ressourcen und Fähigkeiten – und ein Umfeld, das mit Unterschieden
produktiv umgehen kann.
Denn es ist normal, dass es Kinder mit Behinderungen gibt, deshalb ist
eine Schule ohne Behinderte keine normale Schule. Es ist normal,
dass es Kinder mit besonderem Förderbedarf gibt, deshalb ist eine
Schule ohne besondere Kinder auch keine normale Schule. Und es ist
normal, dass Kinder unterschiedlich sind, deshalb ist eine Schule
ohne Kinder unterschiedlicher Herkunft keine normale Schule.
Was es braucht, sind Lernbedingungen, die allen Vorteile bringen: was
denjenigen hilft, die sich schwerer tun, nützt auch jenen, denen’s
leichter fällt. Das wissen viele gute Pädagogen und Pädagoginnen.
„Der Weg, auf dem die Schwachen sich stärken, ist der gleiche, wie
der Weg, auf dem die Starken sich vervollkommnen.“
Dienstag, 5.9.2006
Einander brauchen als
Normalzustand
Was ist, wenn es dir die Gebärmutter zerreißt? Dann fühlst du mit, dann
geht dir etwas nahe, dann spürst du die Welt eines anderen. Wenn die
Fähigkeit, sich einzufühlen, sich anrühren zu lassen, solidarisch zu
handeln in der Bibel zur Sprache kommt, dann heißt das dort
wörtlich, dass „die Gebärmutter sich mächtig regt, bewegt,
zerreißt“.
Das ist nicht auf Frauen beschränkt. Diese Fähigkeit wird für Männer und
Frauen verwendet. Sorgende Tätigkeiten, wie Kinder betreuen, die Oma
pflegen, waschen und kochen sind rhetorisch gewürdigt, in der Praxis
aber gering bewertet. Und Frauen zugeteilt. Insgesamt liegt die
durchschnittliche Arbeitsbelastung von Frauen durch Erwerbsarbeit,
Haushalt und Kinderbetreuung im Schnitt - also alles zusammen
genommen - bei 45,2 Wochenstunden. Davon entfallen zwei Drittel auf
Haushalt und Kinderbetreuung. Bei Österreichs Männern liegt die
wöchentliche Gesamtbelastung im Schnitt nur bei 35,1 Stunden. Nur
ein Fünftel entfällt dabei auf Haushalt und Kinderbetreuung.
An den Mythos vom „autonomen Individuum“ und „ich selbst, als meines
Glückes Schmied“ kann man glauben. Niemand aber ist das, was er ist,
ohne die sorgenden und unterstützenden Tätigkeiten anderer. Als
Sorgende tätig sein und der Sorge anderer bedürfen ist existentiell.
Von Geburt an. Dass Menschen einander brauchen, ist der menschliche
Normalzustand.
Mittwoch, 6.9.2006
Alltag und Pflege gehören
zusammen
Frau Professor M. ist 95 Jahre alt und altersdement: sie ist verwirrt und
weiß nicht mehr, wo sie ist. In jungen Jahren war sie
Klavierlehrerin, interessierte sich für Kunst und verbrachte gerne
Zeit in Kaffees, um Menschen zu beobachten und zu begegnen. Bisher
war sie den Tag über in ihrem Zimmer, das am Ende eines langen
Ganges lag. Obwohl ständig Pflegepersonal anwesend war, fühlte sie
sich einsam und sie beklagte sich, dass niemand da sei.
Seit einigen Monaten lebt Frau Professor M. nun mit elf anderen
MitbewohnerInnen in der Diakonie-Hausgemeinschaft. Sie wohnt in
einer Wohnung mit Eingangstüre, der lange Gang ist verschwunden.
Frau Professor M. lebt nun, wie sie es selbst sagt, in der
„Zivilisation“.
Zentraler Punkt einer solchen Hausgemeinschaft ist die Wohnküche mit dem
Wohnraum, der als gemeinsamer Treffpunkt dient. Die Zimmer sind um
die Wohnküche angeordnet. Die Pflege ist in den Alltag integriert
und es wird jede/r Einzelne in dem Umfang gepflegt, wie sie/er es
gerade braucht. Die Mahlzeiten kommen nicht mehr, wie früher, aus
der Großküche, sondern werden selbst frisch zubereitet. Dabei können
sich die BewohnerInnen tatkräftig einbringen. Auch dadurch wird der
wohnliche Charakter unterstrichen. Der Haushalt mit seinen sorgenden
Tätigkeiten bestimmt den Alltag. Frau Professor M. würde sagen:
leben in der Zivilisation.
Donnerstag, 7.9.2006
Die zweite Geburt
Es beginnt mit der Geburt eines Babys durch eine junge Frau in einem
kalten Unterschlupf in Bethlehem. Ein unbedeutendes Nest wird zum
Nabel der Welt. Gerade geboren muss das Kind mit seinen Eltern vor
dem Herrscher Herodes nach Ägypten fliehen. Er würde das Neugeborene
sonst töten.
„Geburt ist der Anfang des Anfangens“, sagt die Philosophin Hannah
Arendt. „Nackt geboren in eine Welt können wir sprechend und
handelnd Initiativen ergreifen und gleich einer zweiten Geburt unser
Geborensein damit bestätigen“. Als Hannah Arendt auf der Flucht vor
den Nazis war, kommt ihr diese „zweite Geburt“ in den Sinn. Als
Vertriebene, ohne Reisepass, als „displaced person“, die sie im
Niemandsland zwischen dort und da geworden war- erkennt sie, dass
ihre nackte Geburt ihr keine Rechte sichert - kein einziges Recht.
Sie war vogelfrei, der „Herrschaft des Niemand“, wie sie die
Behörden bezeichnete, ausgeliefert. Erst die zweite Geburt, der
sprechende und handelnde Eintritt in die Welt, stattet uns mit
Rechten aus. Das ist eine Erfahrung, die Vertriebene und Rechtlose
auch heute machen.
Es ist diese zweite Geburt, die Menschenrechte an uns bindet, die
Verträge und Grundrechte zur Welt bringt. Durch Erkämpfen, durch
Erringen, durch verhandeln - die nackte Geburt allein nicht.
Freitag, 8.9.2006
Untätigkeit
Warum bekommt man eigentlich Kinder? Was ist das Glück daran?
Die einen meinen, das Glück von Mutter und Vater liegt im Tun. Also im
Windeln wechseln, pflegen, Hausaufgaben helfen, Wäsche waschen,
Essen kochen, Kinderzimmer putzen, Streit schlichten. Naja.
Andere meinen, das Glück von Mutter und Vater liege im Ergebnis. Also, ob
aus dem Kind was geworden ist, das herzeigbar ist: guter Beruf,
gutes Benehmen, Enkelkinder, Haus, Einkommen.
Ich glaube, elterliches Glück liegt weder ganz im Tun, noch ganz im
Ergebnis. Elternglück bleibt immer ein Stück unerfüllt. Es hat einen
tragischen Unterton. Denn es liegt ganz und gar nicht in der
Tätigkeit als Mutter oder Vater, es liegt gerade in der Untätigkeit.
Es zeigt sich, wenn ich nichts zu tun habe, meinen Kindern nur
zuschaue, stiller Betrachter bin. Es zeigt sich im Blick auf die
Person, die einzigartig und unaustauschbar ist. Es zeigt sich im
Betrachten eines Lebens, das eigene Wege geht und das die immer
wiederkehrende Bestätigung jener großen Bejahung des Lebens ist, für
die die Geburt eines Kindes steht.
Samstag, 9.6.2006
Windhauch
Er hatte genug, alles satt, die Mächtigen, besonders aber die Frommen,
die Gott und Gott und Gott sagten und es dabei beließen. Elija lief
weg, irgendwohin, wo er sterben konnte. Er wollte nicht mehr, er
konnte auch nicht mehr. Er legte sich hin, unter einen Strauch. Das
Leben nehmen, das wird dir das Leben tun. Das Leben wird dir das
Leben nehmen, dachte er. Zuerst aber kam ein gewaltiger Sturm, der
an der Bergwand rüttelte, dass die Felsbrocken flogen. Aber Gott war
nicht im Sturm. Als der Sturm sich gelegt hatte, bebte die Erde.
Doch Gott war nicht im Erdbeben. Dann kam Feuer. Doch Gott war nicht
im Feuer. Zuletzt hörte Elija einen ganz leisen, feinen Windhauch.
So sanft kommt die Lebensrettung. Im Windhauch war Gott. Der ich bin
da. Elija heißt hebräisch: Gott ist der “ich bin da“.
Vorher schon war ein Engel da gewesen - Engel sagt die Bibel immer wenn
sie nicht genau weiß, woher etwas kommt. Und dieser Engel hatte Brot
und frisches Wasser auf den Fels neben Elija gestellt. Und Elija
stand auf.
Nicht mit Bomben und Granaten, nicht mit Feuer und Beben ist das Leben
zurückgekommen. Im Windhauch war es da.
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