Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Propst Dr. Florian Huber (Innsbruck)

 

 

Sonntag, 8. Oktober 2006

War das ein Erschrecken! Einige Stunden außer Haus stehe ich zurückgekehrt vor der Haustür und finde den Schlüsselbund nicht. Ich durchsuche alles. Nichts zu finden. Ich gehe in Gedanken noch einmal die vergangenen Stunden durch. Wo könnte ich ihn liegen gelassen haben? Und wenn ihn jemand gestohlen hat? Mir wird ganz schwindlig bei dem Gedanken. Zum Glück erlöst mich ein Anruf von meinen Befürchtungen. Ich muss den Schlüsselbund ganz gedankenlos auf einem Garderobenschrank abgelegt und liegengelassen haben.

 

Schlüssel verschaffen Zugänge. Sie eröffnen Räume. Tag für Tag erleben wir das. Kein Wunder also, dass der Schlüssel auch in übertragener Bedeutung sehr wichtig ist.

 

Christen versammeln sich Sonntag für Sonntag zur Feier der Hl. Messe. Ein Schlüsselsatz dieser Feier ist: Wir "feiern in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche den ersten Tag der Woche als den Tag, an dem Christus von den Toten erstanden ist."

 

Die Bibel zählt den Sabbat als den siebten Tag der Woche. Der Sonntag ist dann der erste Tag. Bei dieser Zählung ist der Mittwoch tatsächlich die Mitte der Woche. Wenn wir den ersten Tag für uns gut gestalten, dann ist das wie ein Schlüssel, der uns gut gestimmt den Weg durch die Räume einer neuen Woche öffnet.

 

 

Montag, 9. Oktober 2006

Manchmal bekommen Engel eine menschliche Gestalt. Schon zu Lebzeiten wurde Mutter Teresa von Kalkutta als "Engel der Armen" angesehen. Ein Engel allerdings, der viel Kritik erfahren hat. Der Blick auf die Veränderungen der Strukturen des Bösen war nämlich nicht der ihre. Sie hat sich den Einzelnen zugewandt. Unzähligen Sterbenden hat sie die Hand gehalten. Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises sagte sie: "Ich vergesse nie, wie ich einst einen Mann von der Straße auflas. Er war mit Maden bedeckt. Sein Gesicht war die einzige Stelle, die sauber war. Ich brachte den Mann ins Heim für Sterbende, und er sagte nur einen Satz: ‚Ich habe wie ein Tier auf der Straße gelebt, aber nun werde ich wie ein Engel sterben, geliebt und umsorgt.’ Und er starb wunderschön ... ich spürte, er erfreute sich an dieser Liebe, dass er erwünscht war, geliebt, dass er für jemanden jemand war."

 

Ein Journalist war bei einem Besuch ganz beeindruckt von Mutter Teresas Zuwendung zu den stinkenden und von Würmern zerfressenen Patienten. "Für eine Million Dollar könnte ich das nicht!"

"Ich auch nicht", hat Mutter Teresa geantwortet. Eine Antwort wie ein Schlüssel zu ihrer Motivation aus dem Glauben.

 

 

Dienstag, 10. Oktober 2006

Eine Geschichte erzählt von zwei Brüdern. Der eine ist arm, der andere reich.

Einmal geht der Arme in den Wald und beobachtet unentdeckt zwölf Männer. Sie gehen vor einen Berg und rufen: "Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf!" Der Berg tut sich auf. Die zwölf gehen hinein, und der Berg schließt sich hinter ihnen. Mit Säcken gefüllt kommen sie nach einiger Zeit wieder heraus. Sie rufen: "Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich zu!" Der Arme tut genauso und betritt eine Höhle voll Silber, Gold und Edelsteinen. Er nimmt sich etwas davon und lebt fröhlich und redlich mit seiner Familie. Natürlich bleibt das seinem reichen Bruder nicht verborgen. Der Neid zerfrisst ihn. Er lässt sich alles erzählen. Dann spannt er seinen Wagen an und tut so, wie er es gehört hat. Er schaufelt seinen Wagen in der Höhle voll. Dabei vergisst er das rettende Wort. Er ruft: "Berg Simeli, Berg Simeli, tu dich auf!" Aber der Berg bleibt verschlossen. Die zwölf freuen sich, den Dieb erwischt zu haben und bestrafen ihn mit dem Tod.

 

Das rechte Wort zur rechten Zeit am rechten Ort! Es zu finden, ist ein großes Geschenk. Es befreit aus dem Dunkel der Einsamkeit. Es ist wie ein Schlüssel und öffnet den Raum für ein gutes Miteinander.

 

 

Mittwoch, 11. Oktober 2006

Vieles Gehörte geht bei einem Ohr hinein, beim anderen hinaus. Aber manches setzt sich fest. Unvergessen bleibt mir eine Erzählung von einem kleinen archäologischen Fund. In einer deutschen Stadt, deren Namen ich mir allerdings nicht gemerkt habe, wurde bei Ausgrabungen ein Schmuckstück aus der Römerzeit gefunden. Dieses Schmuckstück hat die Form eines Schlüssels. Das Faszinierende bei diesem Fund ist gewesen: in diesen Schlüssel ist eine Inschrift eingraviert: "Si me amas" - Wenn du mich liebst.

 

Warum ich das nicht vergessen habe? Es hat meine Fantasie beschäftigt, was der junge Römer seiner Geliebten mit diesem Geschenk sagen wollte. Wie lautet wohl die Fortsetzung dieses begonnenen Satzes? Wenn du mich liebst, ja, was dann? Wenn du mich liebst, dann trage diesen Schlüssel immer bei dir. Wenn du mich liebst, dann freue ich mich, dass ich dich gefunden habe; - dann gehen wir gemeinsam durchs Leben; - dann traue ich mich, mich dir anzuvertrauen und dir zu sagen, was ich sonst niemandem sage; ...

 

Die Fortsetzung dieses Satzes, sie wird ein Geheimnis dieser beiden Menschen bleiben. Aber jeder Mensch, der um die Sehnsucht weiß, geliebt zu werden, wird ein passendes Schlüsselwort finden.

 

 

Donnerstag, 12. Oktober 2006

Franz von Assisi ist ein bekannter Heiliger. Die Geschichte seiner Berufung, wie er vom Kreuz in San Damiano angesprochen wird, kennen fast alle. Franziskus hat allerdings längere Zeit gebraucht, um sich danach über seinen Weg klar zu werden. Und das, obwohl er sich vom Gekreuzigten und Auferstandenen ganz persönlich angesprochen erfahren hat. Seine Zeitgenossen haben ihn erlebt als wäre der Christus des Evangeliums mitten unter ihnen gegenwärtig. Auch der heilende Christus.

 

Für den Weg dorthin gibt es bei Franz von Assisi ein Schlüsselerlebnis:

Eines Tages, auf einem Spaziergang, tritt ihm ein Aussätziger in den Weg. Es ist für ihn wie ein Schock. Schon will er umkehren, fliehen. Da muss auf einmal ein Bild aus dem Evangelium in ihm Macht gewonnen haben. Er erkennt in diesem Leidenden den leidenden Christus. Er kämpft gegen seinen Ekel an. Er krempelt sein ganzes Denken um und umarmt den Kranken. Von da an macht er die Pflege der Kranken zu seiner Aufgabe. Später wird er sagen: "Gott selbst hat mich zu diesen Menschen geführt, und was mir erst schwer gefallen ist, hat mich bald leicht und froh gemacht."

 

Manchmal verdichten sich Erfahrungen zu Schlüsselerlebnissen für den weiteren Lebensweg. Dann sind wir ganz nahe bei dem, worum es uns geht.

 

 

Freitag, 13. Oktober 2006

Ein Haus oder eine Wohnung sein eigen zu nennen, das ist der Traum von sehr vielen. "Schlüsselfertig" wird heutzutage Haus oder Wohnung oft den künftigen Besitzern übergeben. Die konkrete Umsetzung der intensiven Bauplanungen überlässt man gerne Professionalisten, dann eine feierliche Schlüsselübergabe, und dann kann man sich behaglich einrichten.

 

Die Sehnsucht, zu wissen, wo man hingehört, wo man daheim ist, geborgen ist, sich wohl fühlt, solche Sehnsucht wird auch auf die Kirche als Heimat für glaubende Menschen übertragen. Aber da braucht es schon ein gehöriges Maß an Frustrationstoleranz. Nichts mit schlüsselfertig! Nichts mehr mit "Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land", ein Haus, an dem alles fertig, vollendet, glorios ist. Vielmehr, unübersehbar, ein Schild mit der Aufschrift "semper reformanda". Kirche nicht als perfekte Gesellschaft, sondern eine immer zu reformierende Gemeinschaft. Nichts mit schlüsselfertig. Vielmehr Leben im Umbau und oft genug mit Aufbruch aus gerade behaglich eingerichteten Zonen. Aber trotzdem, trotz aller Widerwärtigkeiten: es gibt viele Engagierte auf dem Bauplatz Kirche. Sie bauen aktiv mit. Sie überwinden immer wieder Schwierigkeiten und geben der Kirche ein persönliches Gesicht. So schaut Kirche auch aus, und so kann sie sich sehen lassen.

 

 

Samstag, 14. Oktober 06

Am Ende eines Weges durch eine ganze Woche hindurch werfe ich einen Blick in das letzte Buch der Bibel, in die Offenbarung des Johannes. Gleich am Beginn spielt dort das Thema Schlüssel, das mich durch diese Tage geleitet hat, eine ganz wichtige Rolle. Der Seher Johannes erfährt sich in einer Vision vom himmlischen Christus selber beauftragt, dieses Schreiben zu verfassen. Johannes schildert es so: "Als ich ihn sah, fiel ich wie tot vor seinen Füßen nieder. Er aber legte die rechte Hand auf mich und sagte: ‚Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt.’"

 

Am Ende einer Woche begegnet uns so noch einmal der Schlüssel. Diesmal als der Türöffner in der Hand Christi. Und am Ende einer Woche frage ich also: Was wird uns wohl am Ende unserer Tage begegnen? Gegenüber allzu genauem Detailwissen ist Skepsis geboten. Aber die biblische Sprechweise schenkt uns hoffnungsvolle Bilder, aus deren Kraft sich leben und sterben lässt. Christus mit dem Schlüssel in der Hand: siegreich durchschreitet er auch die Räume des Todes und führt in den Raum des Lebens. Morgen, am Sonntag, versammeln sich Christen zur Feier dieser Hoffnung.