Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

"Zeit-Geschichten"

von Pfr. Wolfgang Olschbaur, Bregenz

 

  

Sonntag, 26. November 2006

Sonntag ist Ruhetag – war es jedenfalls einmal. Zeit zum Ausspannen, zur Erholung, Zeit für sich und die andern. Auszeit vom Stress. "Tag des Herrn" hat man ihn früher genannt.

 

Die christliche Sonntagsheiligung geht auf den jüdischen Sabbat zurück und der meint mehr als persönliches zur Ruhe kommen. In Sabbatjahren des alten Israel sind die Sklaven freigekommen, Schulden sind getilgt worden und auch die Natur hat ausspannen dürfen.

 

Sonntag ist's. Da muss man nicht auch noch zusätzliche Neurosen heraufbeschwören, da lassen sich Spielräume eröffnen. Die Arbeit kann abgelegt werden für eine Weile, die Freizeit soll nicht auch noch in den Takt der Arbeit gezwängt werden. Man muss sich nicht den Apparaten und Geräten ausliefern, kann selber wieder Herr oder Frau sein. Kann spielen, sich ergehen, sich ausstrecken, sich hindehnen, sich baumeln lassen.

 

Es ist schön, in der Zeit zu verweilen. Einfach beieinander sein, etwas zubereiten – einmal einzeln, einmal gemeinsam. Heiter speisen.

 

Nicht fast, sondern slow, sich auf den Arm nehmen. Sich der Pflicht entledigen. Wieder einmal der Neigung leben. Sich wieder einmal aufeinander einspielen. Die Fantasie schweifen lassen. Improvisieren. Narr, Schalk, Clown sein. Wach sein. Zuspringen können. Sich einem andern Menschen ganz und gesammelt zuwenden. Trödeln. Sich an buntem Kitsch erfreuen. Träume wie Luftballons hochsteigen lassen. Augenblicke auskosten, das Leben verkosten. ... Oder fällt Ihnen sonst noch etwas ein für den heutigen "Ruhetag"? Er ist jedenfalls der erste Tag vom Rest Ihres Lebens. Nützen Sie ihn!

 

 

Montag, 27. November 2006

Der Südseehäuptling Tuiavii hat vor über 100 Jahren Europa besucht. Er hat beobachtet, dass die Menschen hier – ganz anders als bei ihm daheim - keine Zeit haben. Er stellte fest, dass sie immer unzufrieden sind mit ihrer Zeit. Dass sie Gott zürnen, weil er ihnen nicht mehr davon gegeben hat und dass sie ihn lästern, in dem sie jeden Tag zerteilen, wie man mit einem Buschmesser eine weiche Kokosnuss kreuzweise zerschneidet. Und was dann überbleibt, nennen sie: Sekunden, Minuten, Stunden.

Weil sie keine Zeit haben, rennen die meisten Leute auch durchs Leben wie ein geworfener Stein. Fast alle schauen beim Gehen zu Boden und schleudern die Arme weit von sich, damit sie möglichst schnell vorankommen. Die Zeit aber entschlüpft ihnen wie eine Schlange in der nassen Hand, weil sie sie fest halten wollen. Sie jagen ihr mit ausgestreckten Händen nach, sie gönnen ihr die Ruhe nicht. Sie soll ihnen immer ganz nahe sein, soll etwas singen und sagen. Die Zeit aber ist still und friedfertig und liebt die Ruhe und das breite Lagern auf der Matte. Der Europäer hat die Zeit nicht erkannt, er versteht sie nicht, er misshandelt sie.

 

Der Südseehäuptling hat Recht. Was, wenn er heute durch unsere Städte gehen und in unsere Häuser schauen würde?

 

Ich wünsche Ihnen einen guten Tag - und: Laufen Sie nicht durch ihn wie ein geworfener Stein!

 

 

Dienstag, 28. November 2006

In Michael Endes Geschichte von Momo kommt ein Frisör mit Namen Fusi vor. Der bekommt eines Tages Besuch von einem grauen Herrn. "Ich komme von der 'Zeit-Spar-Kasse'", sagt er, "wir wissen, dass Sie ein Konto eröffnen wollen!" "Das ist mir neu", sagt Herr Fusi, "ich habe bisher nicht einmal gewusst, dass es ein solches Institut gibt". "Sehen Sie", sagt der graue Herr, "Sie vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise mit schlafen, arbeiten, Nahrung aufnehmen, ihre alte Mutter besuchen, mit dem Wellensittich spielen, sich mit Freunden unterhalten usw. Und dann schreibt der graue Herr alle verlorenen Zeiten auf einen Spiegel und zieht sie zusammen. "Finden Sie nicht, dass Sie so nicht weitermachen dürfen? "Was muss ich tun?". "Arbeiten Sie schneller, lassen Sie alles Überflüssige weg, unterhalten Sie sich nicht so lange mit den Menschen, widmen Sie ihren Kunden nur mehr eine Viertelstunde, geben sie ihre Mutter in ein Altersheim, schaffen sie den unnützen Wellensittich ab. Darf ich Sie nun als neues Mitglied in der großen Gemeinde der Zeitsparer ganz herzlich begrüßen! Sie sind ein wahrhaft moderner und fortschrittlicher Mensch. Und machen Sie sich keine Sorgen, wenn Ihnen etwas von der eingesparten Zeit übrig bleibt, darum kümmern wir uns schon, Herr Fusi!"

 

Der graue Herr nimmt seinen Hut, tritt aus dem Laden und fährt mit seinem grauen Auto davon.

 

In der Bibel heißt es: "Meine Zeit steht in Gottes Händen". Ist das nicht besser als jede Zeit-Spar-Kasse?

 

 

Mittwoch, 29. November 2006

In einem Hafen liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst vor sich hin. Da kommt ein Tourist in schickem Outfit und mit Digitalkamera. Er will das idyllische Motiv fotografieren: Blauer Himmel, grüne See, schwarzes Boot, rote Mütze.

 

Da wacht der Fischer auf und der Tourist sagt – aus Verlegenheit – : "Heute werden Sie einen guten Fang machen!". Der Fischer schüttelt den Kopf. "Das Wetter ist günstig!". "Das schon!". "Fahren Sie nicht raus?". Kopfschütteln. "Oder fühlen Sie sich nicht wohl?" – der Tourist hat Mitleid. "Ich fühle mich prächtig", sagt der Fischer. Der Tourist darauf irritiert: "Warum fahren Sie dann nicht raus?". "Weil ich heute schon draußen war", antwortet der Fischer. "Ich habe vier Hummer und ein paar Makrelen gefangen. Das reicht mir auch für morgen." Der Tourist meint besorgt: "Ich will mich ja nicht einmischen, aber wenn Sie ein zweites, ein drittes mal hinausfahren, dann könnten Sie noch viel mehr Makrelen fangen. In zwei Jahren können Sie sich dann vielleicht ein neues Boot kaufen. Sie können dann auch ein Kühlhaus bauen oder eine Räucherei oder eine kleine Fischfabrik". Der Tourist ist ganz aufgeregt. "Oder Sie eröffnen ein Restaurant und dann ...". "Was dann?", fragt der Fischer. "Dann können Sie ja andere für sich arbeiten lassen und selber im Hafen in der Sonne sitzen - und auf das herrliche Meer hinaus schauen."

 

"Aber, das tue ich ja jetzt schon!", sagt der Fischer ...

(frei nach Heinrich Böll)

 

 

Donnerstag, 30. November 2006

Die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung haben wir schon als Kinder gehört. Das Wunder hat uns kaum berührt, wir hatten ja genug zu essen.

 

Vielleicht sollte man sie umerzählen, wie Lothar Zenetti, für heutige Leute, denen es an Zeit mangelt, aber nicht an Brot.

 

"Als Jesus die vielen Menschen sah, taten sie ihm leid. Er tröstete sie und verkündigte ihnen die Liebe Gottes. Darüber wurde es Abend. Da traten seine Jünger zu ihm und sprachen: 'Herr, es ist spät, lass sie gehen, sie haben ohnehin keine Zeit mehr!'

 

Da sagte Jesus zu ihnen: 'Dann gebt ihnen von eurer Zeit!'. Da waren sie verblüfft und antworteten: 'Wir haben selbst keine Zeit. Die wenige, die wir haben, reicht nicht für alle aus.'

 

Doch einer unter ihnen hatte noch fünf Termine frei - dazu zwei Viertelstunden. Jesus lächelte und sagte: 'Das ist ja schon etwas!' Er nahm die fünf Termine und dazu die beiden Viertelstunden, blickte auf zum Himmel und sprach das Dankgebet. Und dann ließ er sie durch seine Jünger austeilen, die kostbare Zeit. Jeder bekam etwas davon. Und siehe da: Es reichte für alle. Keiner ging leer aus. Am Ende blieben sogar noch zwölf Tage an Zeit über. Dabei waren es fünftausend Männer, von den Frauen und Kindern ganz zu schweigen.

 

Es heißt, dass die Jünger nur so staunten. Denn sie alle haben es gesehen und sprachen untereinander: 'Selbst das Unmögliche wird möglich, durch ihn!'

 

 

Freitag, 1. Dezember 2006

Bald ist Winter. Die Mäuse sammeln Körner, Nüsse und Stroh. Sie arbeiten Tag und Nacht. Alle – bis auf Frederick. "Warum arbeitest du nicht?" fragen sie. "Ich arbeite, ich sammle Sonnenstrahlen für die kalten Tage!". Als er auf die Wiese starrt, fragen sie ihn noch einmal: "Was machst du da?". "Ich sammle Farben für den grauen Winter", sagt er. Beinahe wäre er eingeschlafen: "Träumst du?", fragen sie ihn. "Aber nein", sagt Frederick, "ich sammle Wörter. Damit wir später wissen, worüber wir reden sollen." Dann fällt Schnee und die Mäuse ziehen sich zurück. Es wird bitter kalt und die Vorräte gehen zu Ende. Da beginnt Frederick von den Sonnenstrahlen zu erzählen. Den Mäusen wird es gleich viel wärmer. Dann redet er von bunten Blumen und von grünen Blättern – und sie sehen Farben, wie aufgemalt auf ihre Köpfe. Dann hält Frederick eine Rede: "Vier kleine Feldmäuse wie du und ich, die wohnen im Himmel und denken an dich ". Da klatschen die Mäuse und rufen: "Du bist ja ein Dichter!". Frederick verbeugt sich und sagt bescheiden: "Ich weiß – ihr lieben Mäusegesichter!"

 

Die Geschichte stammt von Leo Lionni. Er hat sie geschrieben für Kinder. Ich sage: Nicht nur für Kinder! Wenn jemand faul herumsitzt und sinnlos in den Tag hinein träumt, dann kann es ja sein, dass er in Wirklichkeit sammelt: Farben, Wörter und Sonnenstrahlen für die kalten Tage. Und dann werden die andern auch noch ganz schön froh darüber sein!

 

  

Samstag, 2. Dezember 2006

"Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;

Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;

weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;

klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;

herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;

schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit."

Das steht in der Bibel, im Buch des Predigers Salomo.

 

Für manche mag es banal klingen, aber für Menschen, denen die Tränen kommen, wenn sie an ihr Leben denken, ist das auch ein Trost: Dass nach dem Weinen auch wieder das Lachen kommt! Und alles Schlimme auch ein Ende finden wird. Vielleicht sogar einen Sinn! Wer übermütig ist, darf es auch sein. Aber er soll daran denken, dass auch ihn sein Mut verlassen kann.

 

Schweigen ist manchmal klüger als reden. Aber schweigen, wo geredet werden sollte, das ist feige. Alles hat eben seine Zeit. Aber wann ist die richtige?

 

"Es gibt nichts besseres, als fröhlich zu sein und sich gütlich tun im Leben", so heißt es auch beim Prediger. Also: Carpe diem! Nutze die Zeit! Lebe den Tag intensiv! Ob er nun eingezwängt ist im Terminkalender oder frei von Verpflichtungen, gestalte ihn, verantworte ihn auch vor Gott, sei dankbar für glückliche Momente und den kostbaren Herzschlag jeder Minute! Und gehe mutig und getröstet deinen Weg, auch wenn schwere Zeiten kommen!