Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von DDr. Werner Reiss (Wien)

 

 

Sonntag, 27.5.2007

Jiři Gruša – Das Heimweh nach Fremdländern

 

Eine Spinne im Herbst

band bäume zusammen

 

beschuhte bäume

die ich mag

weil sie länger verweilen

als ihre barfüssigen Brüder

 

„Der Geist weht, wo er will“ (Johannes 3, 8)

 

Jiři Gruša war Prager Dissident, wurde inhaftiert, später tschechischer Gesandter in Wien, Leiter der Diplomaten-Akademie und Präsident des internationalen PEN-Clubs. Sein Gedicht geht von einem Naturbild aus: zwei Bäume, durch Spinnennetze miteinander verbunden.

Die Natur hat eine längere Verweildauer als die Vernetzungsversuche der Menschen. Die vergessen, dass sie barfuss unterwegs sind. Net-working ist eine anerkannte Kulturtechnik. Es mag Heimatgefühl aufkommen, wenn ein Netzwerk funktioniert. Aber Gruša spricht nicht von einer Vergötzung der Heimat, sondern auch von einer kritischen Distanz. Das sind die Fremdländer, die das Netz nicht zusammenschnüren, sondern aufmachen.

In der europäischen Tradition bedeutet „Geist“ vor allem die Durchschaubarkeit der Dinge. In der Bibel: Der Lebensatem Gottes, der alles Geschaffene in seiner Vitalität erhält. Das ist nicht unvereinbar. Aber die kritische Distanz zu den Netzwerken gehört dazu. Der Geist weht, wo er will.

 

(Plakataktion Wien – „Zeit für ein Gedicht“)

 

 

Montag, 28.5.2007

Bertolt Brecht – Das Lied von der Moldau

 

Am Grunde der Moldau wandern die Steine

Es liegen drei Kaiser begraben in Prag

das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine

Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt der Tag.

 

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne

der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.

Und gehen sie einher auch wie blutige Hähne

Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

 

Am Grunde der Moldau wandern die Steine

Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.

Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.

Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt der Tag.

 

Brecht hat dieses Gedicht in finsteren Zeiten geschrieben, am Wendepunkt des 2. Weltkriegs. Er konnte nicht vorhersehen, dass die, die nach oben kommen, Angehörige einer Funktionärskaste sein werden, die die unterdrücken, auf die sie sich berufen. Auch im Neo-Kapitalismus werden Menschen glattgeschliffen, diese Steine, unerkennbar. Aber der frühe Brecht hat schon das „Prinzip Hoffnung“ erkannt. Die Unreinen werden über den Himmel gefahren: „Gerade unter ihnen sind viele, die ihn nicht erkennen würden, denn gerade sie haben ihn sich strahlender gedacht.“

 

(Bertolt Brecht „Die Gedichte“, SV Frankfurt/Main 1981)

 

 

Dienstag, 29.5.2007

Jeremias 36, 1 – 37

...und der Schreiber schrieb noch viele andere Worte hinein.

 

Ein kleiner Regierungschef ist bedroht von einer Großmacht. Er verheddert sich in sogenannte Realpolitik. Ein paar Intellektuelle, die um ihr Leben fürchten, dringen in das Machtzentrum vor und fordern eine Neu-Orientierung der Politik. Der Machthaber schmeißt ihre Vorschläge ins Feuer. In dieser angespannten Situation gehen die Kritiker nach Hause, aber sie arbeiten im Untergrund weiter. Sie haben die Zensurbehörde in Person erlebt und mussten um ihr Leben zittern.

Das kommt vor. Es kam vor im Jahr 605 v. Chr. in Jerusalem, König Jojakim, die Neubabylonier und die Propheten. Wie sehr sich die Verhältnisse gleichen! – Das ist ein Gründungsdokument der Dissidenten-Bewegung wie sie in vielen Staaten unterdrückt wird und doch bestehen bleibt – weil sich die Dauerkritik erneuert, die Machterhaltung nicht. Der Geist weht, wo er will.

 

 

Mittwoch, 30.5.2007

Václav Havel, am 10. Juni 1981 aus dem Gefängnis geschrieben, eingesperrt wegen Untergrabung der Republik, an seine Frau Olga: „Und schon wieder ist dies ein toter Brief, d. h. einer, der in der freudigen Erwartung des Besuchs geschrieben wird und den du erst bekommst, wenn ich mich an den Besuch bloß noch erinnern werde“.

 

Der Geist weht, wo er will, gerade dort, wo er ausgelöscht werden soll. Václav Havel stellt sich im Jahre 1981 (wo waren wir damals?) die Frage: Im Unterschied zu anderen Lebewesen stellt sich der Mensch die Frage, ob er wirklich leben soll, und wenn ja, warum. Die Frage des Selbsterhaltungstriebes überlässt er den Fachleuten.

 

Was begründet unsere Identität – die Frage, ob der Mensch sein soll oder nicht sein soll? – Die Antwort ist praktisch: Bier, Liebe, gutes Essen, Freude an der Arbeit, Sport, Familie, eigenes Haus, Freude an der freien Suche nach der Wahrheit, Freude an der menschlichen Gemeinschaft usw. Aber: alles Beliebige kann dem Menschen gleich gut den Sinn des Lebens geben oder nehmen, alles Beliebige (oder fast alles). Aus fast allem kann man genau so gut Hoffnung schöpfen wie Hoffnungslosigkeit. Grund zum Leben und Grund zum Tod. An diesem „fast“ hängt alles. Aus diesem „fast“ kann ein neuer Anfang entstehen. Das „fast“ ist der letzte Spielraum, den wir haben, schreibt Havel aus dem Gefängnis. Der Geist weht, wo er will.

 

(Václav Havel „Briefe an Olga“, Verlag Rowohlt, Hamburg 1989)

 

 

Donnerstag, 31.5.2007

Vitezslav Gardavský

Die neue theologische Einstellung, die die Geschichtlichkeit des Menschen ernst nimmt wie das Prinzip Hoffnung hat wenig Verständnis für die „Vollkommenheiten“ vergangener Epochen, seien sie mythologisch bestimmt oder durch die jüngste Vergangenheit.

 

Mit dem Jahr 1968 brechen Erneuerungsbewegungen los. Es kommt zu Dialog-Veranstaltungen zwischen Neumarxisten und Christen. Beide Gruppen werden später entscheidend gebremst in ihrem idealistischem Überschwang. Wer hätte das gedacht?

 

Der Philosoph Gardavský, der sich in christlichen Traditionen sehr gut auskennt, setzt in guter prophetischer Tradition auf die Zukunft, in der der Mensch zu sich kommt:

 

„Die Zukunft - das ist für den heutigen Menschen nicht eine von irgend jemand auferlegte Aufgabe, sondern ein Durchbruch, den er vollbringen soll und in dessen Gefolge eine neue Zivilisation als sein Werk herauskommt, als Menschenwerk. Die Zeit ist für ihn der Bereich, in dem er und nur er allein mit Gesten und Gebärden wirken kann. In ihr soll er eine künstliche Welt von neuer Qualität schaffen, ein artificium, in dem die Menschheit sich endlich auf der Erde zuhause fühlen wird.“

 

Diese Beschwörung einer menschengerechten Zukunft kommt uns heute reichlich idealistisch vor, da es um Schadensbegrenzung geht. Das Schlüsselwort seiner Überlegung ist für mich „Begrenztheit“. Angesichts der knappen Verhältnisse menschengerechte Zustände zu schaffen. Hier traut er der Theologie erstaunlich viel zu. Sein Wort in Gottes Ohr. Der Geist weht, wo er will.

 

(Vitezslav Gardavský „Gott ist nicht ganz tot“, Verlag Kaiser, München 1968)

 

 

Freitag, 1.6.2007

Jan Patočka

Der Mensch ist in der zukunftsorientierten Perspektive frei.

 

Der Mensch, der in der Gegenwart lebt, reduziert alles Geschehen auf ein statisches Jetzt. In der Welt kann nichts wesentlich Neues geschehen, sie ist objektiv in dem Sinn, dass sie nichts wesentlich Fremdes enthält. Gerade deswegen entsteht Schuldbewusstsein – weil sie von einem Ereignis beherrscht wird, das nicht mehr zurückgenommen werden kann. Ausdruck dafür ist die Sprache des Mythos. Demgegenüber ist der Mensch in der zukunftsbezogenen Perspektive frei, d. h. er bestimmt sein Leben – durch die immer gegebene Möglichkeit der Entscheidung wird die Last der Vergangenheit aufgehoben. Die zukunftsbezogene Perspektive kann sich nur in Form des Glaubens verwirklichen. Der Glaube bedeutet jedoch, daran zu glauben, dass keine Entscheidung die letzte, unwiderrufliche ist.

 

Der Glaube ist so wesentlich ein Glaube an das Leben, und als dieser Lebensglaube ist er seinem Wesen nach ein Glaube an das ewige Leben. Nicht einfach als endlose Fortdauer, das ist die Sprache des Mythos. Sondern: die Wichtigkeit und Notwendigkeit, alles aufzuheben, was „gegeben“ ist, an seine Erschütterbarkeit durch das, „was nicht da ist“.

 

Jan Patočka, 1907 – 13. März 1977, war der bedeutendste tschechische Philosoph des 20. Jahrhunderts. Er erforschte die Lebenswelt als Bedingung menschlicher Freiheit. Nach dem Ende des Prager Frühlings 1968 wurde er zu einem Sprecher der Charta 77 in seinem Land, die die Menschenrechte als Quelle der staatsbürgerlichen Freiheiten einforderte. Nach einer Reihe von staatspolizeilichen Verhören starb er 1977. Heuer ist sein 100. Geburtstag.

 

„Der Geist weht, wo er will. Du hörst seine Stimme, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So steht es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“. (Johannes 3, 8)

 

(Jan Patočka „Kunst und Zeit“, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1987)

 

 

Samstag, 2.6.2007

Milan Machovec

Gegen die „reine Lehre“

 

„Man kann nicht genug betonen, dass nur in einem ‚Programm’, nur in einer ‚Lehre’ die Ursache für das mächtige Wirken Jesu zu finden ist“.

 

Weder die Erfassung seiner Umwelt mit allen religiösen Strömungen, noch der Waren-Fetischismus einer durchorganisierten Industriegesellschaft können eine Ahnung davon haben, was die geistige und moralische Kraft einer wirklich gereiften Persönlichkeit sein kann. Begegnen doch die wenigsten im Laufe ihres Lebens einer solchen. Deshalb hat sich der Gedanke eingenistet, große historische Persönlichkeiten hätten vor allem mit Gedanken gewirkt – die übrigens heute verdinglicht aufgefasst werden wie jede eintauschbare Ware.

 

„Der Gedanke allein, die ‚Lehre’ wirkt nur, soweit die Menschen bei einem mitreißenden Einzelnen eine überzeugende Harmonie von Gedanken und Persönlichkeit erleben ... Die ‚Lehre Jesu’ setzt sie in Brand, nicht wegen einer Überlegenheit des theoretischen Programms, sondern weil er selbst identisch war mit diesem Programm, weil er selbst mitreißend wirkte.“

 

Milan Machovec, Philosoph in der CSSR, überlebte den Spätstalinismus u. a. als Organist ein einer Dorfkirche. In seinem Buch „Jesus für Atheisten“ mutet er den Ertrag der modernen Jesus-Forschung allen aufgeschlossenen Geistern zu. Das würde man sich auch heute von vielen kirchlichen Verkündigern wünschen. Das Buch ist zugleich ein Manifest gegen alle, die den Menschen in Programme zwängen wollen, sei es staatssozialistischer, sei es kapitalistisch-technokratischer Ausrichtung. Der Geist weht, wo er will.

 

(Milan Machovec „Jesus für Atheisten“, Kreuz Verlag, Stuttgart 1972)