Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Mag. Josef
Riedl
(Justizanstalt
Graz-Karlau, Stmk.)
Sonntag, 12.8.2007
Wofür ist Zeit? Was ist an der Zeit?
Oft möchte ich in der Begleitung von
Insassen, dass endlich etwas weitergeht.
Aber es ist ein Anderer, der die
Zeit für die Ernte bestimmt. Vergangene Weihnachten ist mir das
durch eine kleine Geschichte bewusst geworden.
Der Bischof sprach bei seiner
Weihnachtspredigt im Gefängnis von dem Kind, das wir alle einmal
waren; von den Hoffnungen, die das Kind ins Leben begleiteten und
davon, was übrig geblieben ist von den Hoffnungen, Wünschen, Plänen,
wenn man jetzt, aus dem Gefängnis, zurückschaut. Und der Bischof
ermutigte dazu, Weihnachten als Anknüpfungspunkt zu nehmen und mit
dem neugeborenen Kind auch die Hoffnungen neu und für das jetzige
Leben tragend werden zu lassen.
Am selben Tag bekam ein Insasse Post
aus seinem Heimatort. Ein Freund schickte ihm die Einladung zu einem
Treffen, 40 Jahre nach der Erstkommunion; zusammen mit dem damaligen
Erstkommunionbild.
Der Freund hatte die Post zusammen
mit einem lieben Brief so abgeschickt, dass die Erinnerungsfotos und
die Predigt des Herrn Bischof zufällig genau zusammenfielen.
Klar, dass dieses Zusammenfallen
einen tiefen Prozess beim Insassen auslöste – und bei mir ein
ehrfurchtsvolles Staunen über ein solches „Timing“.
So was kann man nicht planen, das
plant ein Anderer.
Montag, 13.8.2007
Gnade
Oft begegne ich im Gefängnis auch
Männern in meinem Alter. Wir sprechen miteinander, sie erzählen ihre
Geschichte, ihre Erlebnisse; erzählen von ihrer Herkunft, ihrer
Kindheit, ihrer Schulzeit, und so weiter.
Dabei entdecke ich natürlich auch
oft Parallelen zu meinem Leben. Immer wieder gibt es
Gemeinsamkeiten.
Da frage ich mich dann häufig, was
mich denn nun vom Insassen unterscheidet. Warum ist er auf der einen
Seite des Gitters und ich auf der anderen Seite? Warum war er zur
Tat fähig und was hat mich vor dieser Tat bewahrt?
Die Familie, in der jemand
aufwächst; die finanziellen Möglichkeiten, die vorhanden sind; das
weitere Umfeld, oft Milieu genannt, prägt einen Menschen. Und das
hat der Insasse sich nicht ausgesucht und habe ich mir nicht
ausgesucht. Da wurden wir hineingestellt.
Ich kann meinen Eltern dankbar sein
und meinem Umfeld für die Beispiele, die mir gegeben worden sind.
Vor allem aber nenne ich es Gnade, denn es ist ein unverdientes
Geschenk, das ich da bekommen habe.
Diese Sicht lässt mich ganz anders
mit Insassen und deren Taten umgehen. Und noch weiter: Ich suche
zusammen mit dem Insassen nach Spuren der Gnade Gottes in seinem
Leben: in der Vergangenheit und jetzt im Gefängnis.
Dienstag, 14. 8.2007
Die Größe Gottes
Die Verbrechen mancher Insassen sind
entsetzlich. Es ist unglaublich, zu welcher Brutalität Menschen oft
fähig sind. Es gibt Taten, die für mich nicht nachvollziehbar sind;
wo es mich beim Denken daran schaudert.
Aber – so lerne ich durch die Bibel
und lernte ich im Studium und daran glaube ich – auch dafür kann man
bei Gott Vergebung finden. Auf diese Spur, dass Gott Vergebung
schenken will, verweise ich dann auch den suchenden und fragenden
Insassen.
So lerne ich im Umgang mit Insassen
etwas über die Größe Gottes. Von mir aus, von meiner Warte, von
meinem Empfinden her kann eine Tat so entsetzlich sein, dass ich nie
und nimmer das Wort Vergebung in den Mund nehmen würde. Weil ich
aber geschickt worden bin, von der Barmherzigkeit Gottes zu
sprechen, muss und kann ich über meine eigenen Grenzen hinausgehen.
Und gerade wenn es mir gelingt,
meine engen Grenzen selbst zu übersteigen, einem Täter von der
Möglichkeit der Vergebung zu erzählen, dann stehe auch ich in
solchen Momenten staunend vor der Größe der Barmherzigkeit Gottes.
Mittwoch, 15.8.2007
„Segne mich!“
Manchmal wird die Arbeit an einem
Tag mühsam. Immer und immer wieder möchte jemand etwas von mir.
Dabei kommt durchaus auch der Gedanke auf: „Der hat mir gerade noch
gefehlt.“
In der Regel des Hl. Benedikt, so
habe ich vor kurzem gelernt, steht, dass der Pförtner dem der
anklopft nicht unmutig, unaufmerksam oder abweisend begegnen soll.
Vielmehr soll er mit der Bitte: „Segne mich!“ auf das Klopfen
antworten. Gemeint ist, dass Jesus, der mir im Anklopfenden
begegnet, mich segnen möge.
Ich habe in meiner Erfahrung der
seelsorgerischen Tätigkeit im Gefängnis noch eine andere Dimension
entdeckt. Indem ich dem - mir manchmal auch lästigen - Anklopfenden
zumindest in Gedanken ein „Segne mich!“ sage, vertausche ich die
Rollen: Ich bitte und er gibt.
Eine tiefe seelsorgerische Begegnung
ist keine einseitige Angelegenheit: Hier ist der Gebende und dort
der Nehmende. Gerade im Gegenteil! Eine tiefe Begegnung ist immer
dialogisch. Immer bekomme ich mindestens ebensoviel vom Anderen, als
ich gebe.
So wird dieser Satz „Segne mich!“ zu
einem ersten Schritt in einem dialogischen Geschehen. So werde ich
zu einem Beschenkten und der Straftäter wird zu einem, der mich
tatsächlich mit seinem Segen beschenkt.
Donnerstag, 16.8.2007
Den Körper nicht vergessen
Manchmal suchen Insassen
Körperkontakt. Da sagt mir der 50-jährige Insasse: „Bitte halten sie
mich fest.“ Da fragt der Untersuchungshäftling: „Darf ich um etwas
bitten? Umarmen sie mich?!“ Wenn sie das im Zusammenhang von
Gefängnis hören, kommen ihnen bestimmt einschlägige Gedanken.
Es gibt aber einen ganz anderen
Zusammenhang: Noch bevor ich in der Gefängnisseelsorge tätig war
erzählte mir ein ehemaliger langjähriger Insasse von seinen
Erfahrungen in der Karlau. Er war mit 19 Jahren ins Gefängnis
gekommen und bemerkte, wie er selbst sich immer mehr aus seinem
Körper zurückzog.
Um diesem Verlust seines Selbst in
seinem Körper zu begegnen fand er den Weg, mit seinen Zellengenossen
Raufereien zu veranstalten. Kleine Raufwettbewerbe mit fairen
Regeln. Darauf stiegen die anderen ein und er konnte sich so im
Körperkontakt der Grenzen seines Selbst vergewissern.
Diese Erzählung hat mich damals
beeindruckt und sie hat mir eingeleuchtet. Immer wieder brauche ich
auch die anderen, um mich selbst spüren zu können. So kann ich
heute entsprechende Wünsche von Insassen verstehen und ihnen ganz
unproblematisch nachkommen.
So wird Seelsorge manchmal ganz
schön körperlich.
Freitag, 17.8.2007
Durchtauchen oder gestalten?
Eine vorherrschende Einstellung
finde ich unter vielen Insassen wieder: Die Haftzeit ist nicht das
Leben. Das Leben findet – leider - außerhalb der Anstalt statt.
Vielen Insassen geht es hauptsächlich darum, die Zeit in Haft
bestmöglich durchzutauchen.
Die Vorstellung ist, am Ende der
Haft wieder aufzutauchen und dann voll ins Leben einzusteigen.
Allerdings geht das in den meisten Fällen schief.
Zum Einen: Auch die Haftzeit ist
Lebenszeit. Niemand erhält die Zeit der Haft an sein Lebensende
angehängt oder gutgeschrieben.
Zum Anderen: Wer sich in der Haft
mit Drogen, Alkohol, Computerspielen und ähnlichen Mitteln selbst
abschaltet, findet kaum mehr den Weg ins normale Leben.
Wer aber die Zeit der Haft nutzt, um
aus seiner Vergangenheit zu lernen und für die Zukunft zu planen,
hat am Ende der Haft im Allgemeinen eine ganz gute Ausgangsposition.
Und in Wirklichkeit ist es für uns
außerhalb des Gefängnisses auch nicht anders: Wir müssen
entscheiden, ob wir uns treiben lassen oder ob wir unser Leben in
die Hand nehmen und das Beste daraus machen.
Samstag, 18.8.2007
Die Angst vor der Entlassung
Nach 5, 10 oder auch 20 Jahren:
Einmal rückt der Termin der Entlassung näher. Nun kommt also der
„Freudentag“ - und die Stimmung sinkt in den Keller. Jetzt wird
plötzlich klar, dass das geschützte Leben in der Anstalt ein Ende
hat und die harte Realität draußen bewältigt werden will.
Beim ersten Ausgang ohne Begleitung
kommt die Angst hoch, sich zu verlaufen und nicht rechtzeitig
zurückzukommen. Viele haben über die Jahre, in denen nur ein paar
Gänge und Stockwerke in der Anstalt ihren Orientierungssinn
gefordert haben, diesen Orientierungssinn für größere Räume
verloren. Manche Insassen wollen jetzt ihr Ansuchen auf Ausgang
zurückziehen weil die Angst vor „Draußen“ so groß ist.
Manche entdecken jetzt mit
Schrecken: Es gibt draußen niemand mehr, der auf sie wartet. Sie
sind ganz allein auf sich gestellt. Der schützende Raum der Anstalt,
der vorgegebene Zeitablauf am Tag, die gepflegten Freundschaften
hinter Gittern – all das geht verloren – und das macht Angst.
Sanfter Druck von Beamten und anderen Insassen hilft dann dabei,
sich auf das Wagnis einzulassen und das neue Leben anzugehen.
Letztlich kennen ja auch wir die
Angst vor Neuem und Unbekanntem. Und manchmal brauchen auch wir
einen sanften Druck um uns neue Welten zu erschließen.
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