Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Superintendentin Luise Müller (Innsbruck)

 

 

Sonntag, 2.9.2007

Als Kind habe ich die meisten Sonntage nicht besonders geliebt. Die üblichen Familienspaziergänge im Sonntagsstaat waren langweilig. Viel schöner war es, wenn wir – selten aber doch -  zu Freunden meiner Eltern fuhren, die einen Bauernhof hatten, und wo es immer irgendwelche Überraschungen gab.

Heute kommt es eher selten vor, dass ich am Sonntag frei habe. Pfarrerinnen arbeiten an diesem Tag normalerweise. Aber wenn der Sonntag dann wirklich mal frei ist, dann liebe ich ihn heute am meisten, wenn er langweilig ist. Wenn nichts los ist. Wenn ich vor dem Fernseher rumhängen kann und die Fernbedienung mir gehört. Wenn ich zwei Stunden oder länger Zeitung lesen kann, und niemand – auch meine innere Stimme nicht – sagt: müsstest du nicht ….?

Es hat sich eigentlich nichts verändert seit meiner Kindheit: gut tut mir, wenn meine freie Zeit das Gegenteil meiner Arbeitszeit ist. Nicht Pflichterfüllung sondern sich gehen lassen. Das ganz andere. Damals war meine größte Freiheit das kindliche Abenteuer. Heute ist es die Langeweile, der Genuss der unstrukturierten Zeit.

Sonntagsruhe. So verstehe ich dieses Wort. Ich darf ausruhen von den Pflichten und muss mich nicht irgendwelchen Freizeitaktivitäten unterwerfen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich Gott für diese Möglichkeit dankbar bin.

 

 

Montag, 3.9.2007

Ich plane gerne. Ich führe einen altmodischen Terminkalender in den ich handschriftlich eintrage, was ich wann tun will oder muss, welche Termine mich wohin führen.

Vor dem Sommer, als mir mal wieder die Zeit davonlief, nahm ich mir vor, mein Zeitmanagement zu verbessern. Aus diesem Grund führe ich jetzt zusätzlich zu meinem altmodischen Terminkalender aus Papier auch noch einen am Computer. Meine Sekretärin hat Zugriff darauf, damit wir die Zeit möglichst optimal nutzen.

Meine Arbeitszeit gehört der Kirche, von der ich bezahlt werde. Und weil die Anforderungen, die an mich gerichtet sind, vielfältig sind, muss ich sehen, dass ich möglichst effizient mit meiner Zeit umgehe.

Ich arbeite gerne. Aber manchmal, da macht sich die Arbeit so breit, dass sie mein Leben völlig beherrscht, ja mein Leben ist. Und es gelingt mir nicht, trotz aller Planung, trotz allem Zeitmanagement, die Zeit in den Griff zu bekommen.

Unübersichtlichkeit, Pausenlosigkeit und eine zu hohe Lebensgeschwindigkeit sind das Ergebnis. Jegliche Qualität geht verloren.

Ich brauche einen Rhythmus. Zwischen Tun und Lassen, zwischen Geplantem und Überraschendem.

Ich brauche die Einsicht, dass nicht ich alles machen muss, sondern dass ich geborgen bin in Gott.

Mein Glaube sagt mir, dass meine Zeit weder mir noch meiner Kirche gehört, sondern Gott. Sie liegt in seinen Händen. Und das ist gut.

 

 

Dienstag, 4.9.2007

Mein erstes Kind war ein Wunschkind. Meine zweite Tochter kam überraschend schnell danach. Dann war es zumindest mir klar, dass ich gerne noch ein drittes Kind wollte. Und so hatten wir dann in nicht ganz vier Jahren drei Kinder.

Als ich noch keine Kinder hatte, da war mein Tagesablauf klar. Ich nahm mir vor zu kochen und ich kochte. Ich arbeitete an einer Predigt und plante dafür eine gewisse Zeit ein. Ich war Herrin meiner Zeit.

Als dann das Baby da war, war nichts mehr wie vorher. Zum großen Glück kam die absolute Verunsicherung. Planen konnte ich so gut wie nichts mehr. Wenn ich beim Kochen war und mein Kind hatte Hunger, dann musste ich das Kochen unterbrechen und das Kind füttern. Wenn das Kind eine frische Windel brauchte, musste ich meine Predigtarbeit sein lassen und das Kind wickeln. Manche Nächte waren anstrengender als die Tage. Ich musste lernen, flexibel zu sein.

Und dann waren da die Sorgen: mache ich alles richtig? Warum schläft mein Kind nicht durch? Später konzentrierten sich die Sorgen auf die Schule, noch später lag ich nächtens wach und horchte angestrengt, bis endlich die Haustür ging und sie von ihren Partys wieder unbeschadet daheim waren.

Kinder beherrschen das Leben der Eltern. Zeitautonomie wird zum Fremdwort. Verantwortung wird groß geschrieben. Wenn der Druck zu massiv wurde, da habe ich mir einen Satz aus der Bergpredigt zu Herzen genommen, wo Jesus sagt: sorget nicht für den morgigen Tag. Es ist genug, wenn jeder Tag seine eigene Plage hat.

 

 

Mittwoch, 5.9.2007

Meistens vergeht die Zeit, ohne dass wir uns groß Gedanken machen. Unsere Gestaltungsmöglichkeiten halten sich in Grenzen, jeder hat so seine Verpflichtungen. Nach der Arbeit mit dem Auto zur Waschanlage, dann ins Kino, am Wochenende der Großeinkauf, am Sonntagabend das Theaterabo, und so oft es geht auf den Berg. Okay, und dann noch der Urlaub, exotisch, nach Dubai oder Bali, man gönnt sich ja sonst nichts. Und schon ist wieder ein Jahr vorbei. Selbst die Silvesterfeiern unterscheiden sich nicht sehr, die Raketen werden immer professioneller und manchmal fehlt die Lust, sich noch was Verrückteres auszudenken als im letzten Jahr. So ein Leben macht müde.

Fast könnte man meinen, dass der Schreiber des Epheserbriefs uns im Auge hatte, als er von der bösen Zeit gesprochen hat. Aber er schreibt nicht: Augen zu und durch, sondern er spricht davon, den Augenblick zu nützen: „Kauft die Zeit aus, denn es ist böse Zeit.“

Die biblischen Autoren haben immer wieder betont, dass es im Fluge der Zeiten den Kairos gibt. Den Augenblick, der alles verändern kann. Den Moment, in dem ein Kind gezeugt wird. Der Blick, der Liebe verspricht. Die Diagnose: gesund. Wohlwollen, Vertrauen. Und das alles mitten in der Eintönigkeit oder dem Schrecken oder der Gefahr. Bewusste Unterbrechung. Einbruch des Himmels. Schon heute, jetzt.

 

 

Donnerstag, 6.9.2007

Geschafft. Das Kirchenfest war schön, die Tagung erfolgreich, die Arbeit ist getan. Ich bin am Ende. Aber die anderen können nicht genug bekommen. Gehst du noch mit? Manchmal gebe ich nach, obwohl ich eigentlich nur noch meine Ruhe haben wollte. Aber haben sie nicht einen Anspruch auf mich? Die Kollegen, die ehrenamtlichen Helfer, die netten Leute? Am nächsten Tag bereue ich meine Entscheidung. Sicher, es war amüsant. Aber es war keine Zeit zum Abschalten, und wenn ich ganz ehrlich bin: es war keine freie Zeit für mich, keine Zeit zur Regeneration, sondern Arbeit.

Ein Kollege erzählt mir, dass er jedes Mal viel zu viele Stunden braucht, um seine Unterrichtsstunden vorzubereiten. Schließlich will er auf alle Eventualitäten gefasst sein. Und man weiß ja nie, welche Fragen diese Oberstufenschüler stellen.

Perfekt sein. Den Erwartungen entsprechen.

Wer immer so lebt, kommt irgendwann mal unter die Räder. Burnout nennt man das heute. Nie genügt es, nie ist Schluss, immer gibt es noch was zu tun, wenn man seine Sache ernst nimmt.

Jesus, so lese ich im Markusevangelium, schickt seine Jünger am Ende eines anstrengenden Tages einfach weg. Und er selbst geht in die Einsamkeit, um zu beten.

So einfach kann es sein. Auch für Sie und mich.

 

 

Freitag, 7.9.2007

Der junge Mann hat einen ungeheuren Lebenshunger. Sein Studium, sein Fußballclub, seine Freunde, Schwimmen, Bowlen, Pokern, die Stammkneipe, der Urlaub, die Ferialarbeit. Und wenn er mal daheim ist, dann hängt er vor dem Computer und surft im Netz. Ohne sein Handy ist er nicht vollständig.

Sein Tempo ist hoch und die Angst, etwas zu versäumen groß. Er ist nicht der Einzige mit diesem Lebensstil. Und nicht nur Junge leben so. Viele leben, als ob heute die letzte Möglichkeit dazu ist. Alles muss heute noch mitgenommen werden, morgen könnte es zu spät sein. Warten? Was ist das? Jetzt und sofort ist die Devise.

So ein Leben ist unwahrscheinlich bunt und vielfältig. Aber weil es sich so schnell dreht, das Leben, geht die Farbigkeit verloren. Alles wird grau in grau.

Es gibt die Theorie, dass diese Ungeduld des Lebens aus dem Verlust des Glaubens resultiert. Wenn ich keine Hoffnung mehr auf Transzendenz habe, dann muss ich alles in dieses Leben hineinpacken. Wenn es kein Jenseits mehr gibt, dann muss ich alles im Diesseits unterbringen. Dann muss ich rennen und kämpfen, um möglichst viel zu erleben.

Solches Leben braucht dringend weniger Quantität und mehr Qualität. Quality time ist ein neues Wort für eine alte Sache: sich in Ruhe einer Sache widmen. Vielleicht auch mal dem Beten.

 

 

Samstag, 8.9.2007

Manchmal sehne ich mich zurück nach der Kindheit mit ihrer Übersichtlichkeit. Um 12, nach dem Mittagsläuten, gabs Mittagessen, um halb sieben Abendessen. Mein Vater ging früh um 7 Uhr aus dem Haus, zur Arbeit. Und spätestens zur Abendessenszeit war Feierabend. Am Samstag wurde mittags das Geschäft zugesperrt, die Böden gewischt, die Strasse gekehrt und dann wurde der Badezimmerofen angeheizt fürs wöchentliche Bad. Werktag war Werktag und Feiertag war Feiertag. Und der Samstag, der war etwas ganz besonderes, weil er den Sonntag vorbereitete.

Heute ist alles unklarer. Geputzt und geduscht wird täglich, die Geschäfte sind auf dem besten Weg zur 24 Stunden Öffnung, Arbeitszeiten sind absolut flexibel und den Feierabend, den gibt es schon lange nicht mehr. Lediglich die Staus auf den Autobahnen am Morgen und am Abend signalisieren eine Veränderung.

Früher, da wurde am Montag gewaschen und am Mittwoch gebügelt. Am Montag gab es die Reste vom Sonntagsbraten und am Mittwoch Eintopf. Heute nimmt mein Sohn die Waschmaschine dann in Betrieb, wenn er seine Lieblingsjeans zum Ausgehen braucht, und die Reste des Sonntagsbratens können wir nicht am Montag essen, weil es den Sonntagsbraten nicht mehr gibt. Zum Glück, so meine ich, gibt es wenigstens den Sonntagsgottesdienst noch. Ein Stück andere Welt, ein Stück Verlässlichkeit. Ein Stück Frieden im Krieg des sich-immer-neu-zurechtfinden-müssens.