Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Propst Gerhard Rechberger, Augustiner-Chorherrenstift Vorau

 

 

Sonntag, 4. Nov. 2007

In den letzten Tagen, zu Allerheiligen und Allerseelen, sind viele Menschen auf die Friedhöfe gegangen. Vom Fried-Hof geht wirklich ein Friede aus, eine Stille, die gut tut. Und wenn am Abend ein Lichtermeer auf den Gräbern die Nacht erhellt, kann etwas von einer Hoffnung spürbar werden, einer Hoffnung, die über den Tod hinausreicht.

 

Solange wir noch in unserem Leben unterwegs sind, spüren wir oft eine Unruhe, ein Suchen und Sehnen, ein Gefühl, dass letztlich vieles unvollkommen und unerfüllt bleibt. Unser Ordensvater Augustinus, der mit dem brennenden Herzen in der Hand dargestellt wird, war Zeit seines Lebens ein suchender, unruhig fragender Mensch. Und er hat das am Beginn seiner Bekenntnisse ausgesprochen, wenn er sagt: „Du hast uns auf dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“.

 

Den endgültigen Frieden und die vollkommene Ruhe dürfen wir erwarten, wenn wir das letzte Lebensziel erreicht haben, das jenseits unseres leiblichen Todes liegt. Vielleicht können wir auch heute schon, mitten im Leben, etwas von diesem göttlichen Frieden spüren.

 

 

Montag, 5. 11. 2007

Heute, am Montag Morgen, verabschieden sich viele Menschen von ihren Familien, weil sie weggehen oder wegfahren. Die einen zu ihrem Arbeitsplatz, andere in die Schule oder zum Einkaufen. Manche werden schon zu Mittag wieder heimkommen, andere am Abend, viele aber erst am Freitag, weil sie als Wochenpendler weit weg von zu Hause die Tage verbringen.

Haben diese Menschen ein Ritual, wie sie sich verabschieden? Ist es ein Händedruck, eine Umarmung, ein Kuss oder ein Segenszeichen auf die Stirn? Oder sagen sie einfach ‚Tschüss’? Andere sagen ‚Pfiat di’, das soviel heißt wie ‚Behüt dich Gott’.

 

Liebende Verbundenheit ist auch über räumliche Entfernung hin spürbar. So hat mir eine junge Frau erzählt, wie ihr das bei einer Prüfung Kraft gegeben hat, weil sie wusste: „Die Mama denkt jetzt an mich oder betet für mich.“

 

Bei unserem Ordensvater Augustinus lesen wir: „Der Mensch, den wir lieben, ist nicht mehr da, wo er war, aber er ist überall, wo wir sind und seiner gedenken“.

 

 

Dienstag, 6. 11. 2007

Als meine Mutter ihren 80. Geburtstag feierte, haben wir Kinder ihr unter anderem ein Foto von ihr geschenkt und ein Gedicht beigelegt, das den Titel trägt: „Schönes Gesicht“.

 

Im Gedicht heißt es:

Ich blicke so gern

das Gesicht meiner Mutter an.

Ein Gesicht,

umrahmt von dünnem,

fast weißem Haar;

ein Gesicht,

in dem man lesen kann,

dass ihr Leben schwer,

aber nicht ohne Freude war.

Ein Gesicht von Furchen des Leids

und Fältchen des Lachens durchgraben,

noch immer von wachen Augen erhellt,

die so oft durchschaut und getröstet haben.

 

Liebende Menschen strahlen eine Schönheit aus, sei ihr Äußeres noch so entstellt oder vernarbt. Die Schönheit eines liebenden Menschen kommt von innen. Das Gesicht spiegelt das Innere, das Unsichtbare wider, die Augen sind Fenster ins Herz eines Menschen.

 

Unser Ordensvater, der hl. Augustinus, drückt das so aus: „So viel in dir Liebe wächst, so viel wächst Schönheit in dir. Denn die Liebe ist die Schönheit der Seele“.

 

 

Mittwoch, 7. 11. 2007

Wovon leben wir? Ich würde zunächst sagen: unser Körper lebt von der Nahrung, die wir zu uns nehmen. Wir brauchen Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Aber: Ist das alles?

Im 13. Jahrhundert wollte Kaiser Friedrich II. die Ursprache der Menschen erforschen. Dazu isolierte er kleine Kinder, mit denen niemand sprechen durfte. Obwohl sie gut versorgt wurden, starben sie alle. Der Mensch braucht zum Leben eben auch Liebe und Zuwendung. Unser Ordensvater, der hl. Augustinus, sagt: „Die Seele nährt sich nämlich von dem, worüber sie sich freut.“

 

Vom Dichter Rainer Maria Rilke wird erzählt, dass er in Paris oft einer Bettlerin begegnete, ohne ihr etwas zu geben. Auf die Frage, warum er der Frau nie etwas gebe, gab er zur Antwort, dass man ihrem Herzen und nicht ihrer Hand etwas schenken solle. Eines Tages brachte Rilke der Bettlerin eine schöne, frisch erblühte Rose. Daraufhin war die Bettlerin eine Woche lang nicht zu sehen. Und als Rilke gefragt wurde, wovon die Frau während dieser Zeit gelebt habe, antwortete er: „Von der Rose“.

„Die Seele nährt sich nämlich von dem, worüber sie sich freut.“

 

 

Donnerstag, 8. 11. 2007

Manchmal verstehe ich die Welt nicht mehr. Ja, es kann sein, dass ich mich selber nicht mehr verstehe. Dann geht es mir so wie dem jungen Augustinus, der sagt: „Ich bin mir selber zur Frage geworden“.

 

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer hat sein Empfinden im KZ in dem Gedicht „Wer bin ich?“ niedergeschrieben. Darin drückt er die Spannung aus zwischen dem, wie ihn die anderen sehen, nämlich gelassen und heiter und fest und wie er sich andererseits selbst erlebt, nämlich dürstend voll Sehnsucht nach guten Worten und menschlicher Nähe. Das Gedicht endet mit dem Satz: Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.

 

Werde ich am Ende dieses Tages alles, was geschehen ist und was ich getan habe, verstehen? Werde ich mit allem zufrieden sein? Mir hilft am Abend, wenn ich den Tag mit all seinen Ereignissen und Begegnungen überdenke, ein Satz aus dem Abendgebet: „Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben.“

Das Gute lege ich voll Dankbarkeit in deine Hände, und ich vertraue, dass du das, was unvollkommen geblieben ist, vollenden und heilen kannst.

 

 

Freitag, 9. 11. 2007

Als ein Mädchen sich längere Zeit nicht mit ihrem Freund treffen konnte, haben die beiden am Telefon ihren Schmerz und ihre Traurigkeit ausgetauscht. Dabei sagte das Mädchen: „Aber wenigstens ist uns die Sehnsucht geblieben.“

 

Die Sehnsucht bewegt mich, etwas zu tun, lässt mich nicht zufrieden sein mit dem, was ist. Oder Augustinus, der von der Unruhe des Herzens spricht, sagt: „Die Sehnsucht gibt dem Herzen Tiefe“.

 

Unsere menschliche Begrenztheit kann mich mutlos machen, kann aber auch eine Triebfeder sein für etwas Positives: Zum Beispiel die Erfahrung, dass ich allein nicht alles zuwege bringe, kann in mir die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Zuwendung wecken. Oder wenn ich an meiner Verletzlichkeit leide, dann weckt das die Sehnsucht nach Zärtlichkeit, Trost und Behutsamkeit. Die Sehnsucht kann eine Triebfeder für Neues sein.

 

Saint-Exupéry sagt: „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“

Die Sehnsucht führt mich in die Weite und gibt dem Herzen Tiefe.

 

 

Samstag, 10.11. 2007

Bei manchen Menschen tue ich mir schwer, sie so anzunehmen, wie sie sind. Mich belastet ihre Art oder ich kann mich mit ihren Meinungen oder Handlungsweisen nicht anfreunden. Über meinem Schreibtisch lese ich auf einem Zettel den Satz: „Ertrage alle Menschen, wie der Herr dich erträgt“. Das hat ein Bischof im 2. Jahrhundert an seinen Bischofkollegen geschrieben. „Lieber Bruder Bischof: Ertrage alle Menschen, wie der Herr dich erträgt. Du hast auch deine Fehler, und trotzdem nimmt dich Gott an, ja du darfst sogar sein Werkzeug sein.“

Unser Ordensvater Augustinus beschreibt einmal seine Aufgaben als Bischof und dabei zählt er auf, was er als guter Hirte tun soll, nämlich: „Unruhestifter zurechtweisen, Kleinmütige trösten, sich der Schwachen annehmen, Träge wachrütteln, Eingebildeten den rechten Platz anweisen, Streitende besänftigen, .. Gute ermutigen, Böse ertragen und – ach – alle lieben“.

Hier hört man den Seufzer – wenn das so leicht wäre!

Die Liebe zum Mitmenschen ist eben nicht nur ein Gefühl, sondern eine Entscheidung.