Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
„Helden des Alltags“
von Oberkirchenrätin Dr. Hannelore
Reiner (Wien)
Sonntag, 13.4.2008
Heldinnen und Helden des Alltags
möchte ich in dieser Woche vorstellen; Frauen und Männer über die
kaum eine Zeile in der Zeitung steht und deren Gesichter nur jene
kennen, die ihren Weg täglich kreuzen. Aber heute ist nicht alle
Tage sondern Sonntag.
Darum erzähle ich von einer Familie,
die in meinem früheren Wohnort ein Lebensmittelgeschäft führt.
Vater, Mutter und erwachsener Sohn arbeiten täglich von früh am
Morgen bis spät nach Ladenschluss. Ein Familienbetrieb, wie es
unzählige ähnliche in Österreich gibt. Jeder kauft gerne dort ein
wegen der Freundlichkeit dieser Kaufmannsfamilie. Das Lächeln war
nicht aufgesetzt, der Gruß klang echt und erfreut auch noch bei der
20. Kundschaft.
Warum ich am Sonntag von ihr
erzähle? Weil sich diese Familie für das Freihalten des Sonntags
engagiert.
Es gehört heute schon ein gewisser
Mut dazu, wenn ein Kaufmann sagt: „Der Sonntag ist mir heilig. Den
brauche ich zum Ausruhen, für meine Familie, für mein Hobby, ja auch
für meine Seele. Der Sonntag kann für mich nicht mit Geld aufgewogen
werden. Er ist ein Gottesgeschenk für uns alle.“
Montag, 14.4.2008
Ich sehe sie heute noch vor mir.
Zwei kleine Mädchen am letzten Schultag, die mir strahlend
entgegenlaufen und mir mit dem Zeugnis in der Hand zuwinken. „Stell
dir vor“, so riefen sie beide gleichzeitig und ihre Stimmen
überschlugen sich, „der Haris darf mit uns in die zweite Klasse!“
Was war geschehen? Der kleine
Mitschüler stammte aus Bosnien; seine Eltern konnten kein Deutsch.
Die Lehrerin aber merkte, was in dem Buben steckte und unternahm
alles, um ihn zu fördern. Die anderen Eltern wurden mit einbezogen.
Eine Mitschülerin aus der gleichen Straße nahm ihn jeden Tag mit
heim und gemeinsam erledigten sie die Aufgabe. So schaffte auch
Haris die erste Klasse.
Die Heldentat dieser Lehrerin aber
sehe ich darin, dass sie unter den Kindern soviel soziales Gewissen
wecken konnte, dass diese sich mehr über das Aufsteigen des
Mitschülers mit nicht-deutscher Muttersprache freuen konnten als
über das eigene Zeugnis mit lauter Einsern.
Die Lehrerin steht für mich für
Unzählige, die heute an Österreichs Schulen Kindern und Jugendlichen
vermitteln, dass Solidarität und Mitfreude am Glück des Anderen
keine abgelegten Tugenden sind sondern auch den eigenen Alltag
gelingen lassen.
Dienstag, 15.4.2008
Ich lernte sie anlässlich einer
Ausstellung kennen: Eine Frau, deren Alter schwer einzuschätzen ist,
ein schönes, ebenmäßiges Gesicht und die indische Kleidung in den
Farben geschmackvoll ausgewählt. Ihren Namen hörte ich zum ersten
Mal, obgleich sie zu jenen 1000 Frauen zählt, die 2005 für den
Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden waren. Aufgewachsen in Linz,
nützt sie die Wartezeit auf einen Praktikumsplatz in ihrem
Medizinstudium und fährt nach Indien, das Land und die Menschen
interessieren sie. Sie bleibt hängen, der Liebe wegen. Dann aber
stirbt ihr Mann und sie erfährt, was es auch für eine Ärztin heißt,
in Indien als Frau allein zu leben.
Trotzdem oder gerade darum bleibt
sie und beginnt in ihrem Dorf für die Familien, besonders für Frauen
und Kinder, da zu sein. Ihr Engagement ist ganzheitlich; von der
Gesundheitsfürsorge angefangen bis zu Fragen der Ausbildung aber
auch ganz schlicht im Blick auf die Versorgung mit dem Nötigsten.
Kinder, die zur Schule gehen, bekommen eine warme Mahlzeit. Dafür
helfen diese wiederum mit, das Dorf sauber zu halten. Es ist wie ein
Pingpongspiel. Dr. Barbara wirft den Frauen den Ball zu und diese
kommen selbst wieder auf neue Gedanken, um einander zu stützen und
zu helfen.
Eine Heldin des Alltags? Ganz
gewiss. Aber diese Frau ist ehrlich genug zu bekennen: Man muss
Gottvertrauen haben, sonst geht gar nichts. Sie selbst lebt ihre
Tage aus diesem Vertrauen.
Mittwoch, 16.4.2008
In den vergangenen Wochen habe ich
immer wieder an sie denken müssen. Dann habe ich ihre Parte gelesen,
hoch betagt hat Gott sie heimgerufen. Ich kannte sie vom
Sonntagsgottesdienst. Irgendwann erzählte sie mir ihre Geschichte.
Die ganze Familie stammte aus einem deutschen Dorf im ehemaligen
Jugoslawien. 1945 sind sie mit dem Allernötigsten aus der Heimat
geflohen, dankbar, das eigene Leben gerettet zu haben. Mit ihrem
Mann und vier Töchtern baut sie sich in Österreich eine neue Heimat
auf so wie viele andere. Jetzt hätte alles gut sein können…
Aber die Härte des Lebens fing jetzt
erst recht an. Da war die schwer geistig und körperlich behinderte
Enkelin, um die sie sich mit aller Kraft ihres Herzens annahm, um
deren Mutter zu entlasten. Da war der Ehemann, dessen Krankheit sich
Jahr für Jahr deutlicher abzeichnete. Trotzdem ließ sie ihn in kein
Heim geben, sondern behütete ihn wie ihren Augapfel. Damit noch
nicht genug. Die Mutter ihrer Enkeltochter wurde schließlich selbst
schwer krank und starb.
Können zwei so zarte Schultern, wie
sie sie hatte, soviel Leid ertragen? Manchmal kam Bitterkeit von
ihren Lippen, aber meist wischte sie die trüben Gedanken mit einer
Handbewegung weg: „Ich habe mir mein Leben nicht ausgesucht“,
gestand sie mir eines Tages. „Da war und ist auch viel Schönes drin,
man muss beides aus Gottes Hand nehmen.“
Donnerstag, 17.4.2008
Er hatte niemals den einfachen Weg
gewählt. Dabei war alles vorgezeichnet gewesen: Tischlerlehre,
irgendwann Meisterprüfung, ein eigener Betrieb, Familie, Freunde,
vielleicht Pfarrgemeinderat oder Bürgermeister…
Aber diese vorgezeichnete Laufbahn
brach er innerhalb eines Jahres ab. Vom eigenen Pfarrer dazu
angeleitet, begab er sich auf die Suche nach jener Glaubensform, die
für ihn zugeschnitten war. Er fand sie in der Evangelischen Kirche.
Bald wollte er nun selbst das weitergeben, was ihm Sinn und Inhalt
des Lebens geworden war. Der Pfarrberuf führte ihn in eine Gegend,
wo es kaum evangelische Christinnen und Christen gab. Unzählige
Kilometer legte er zurück; sonntags zu den Gottesdiensten vor -
manchmal - einer sehr kleinen Schar und die Woche über zum
Religionsunterricht mit fünf oder noch weniger Schülern und
Schülerinnen. Nicht zu vergessen die Hausbesuche, um die vereinzelt
lebenden Gemeindeglieder zu ermutigen und zu bestärken. All das
erfüllte ihn so sehr, dass er seine eigene Person fast darüber
vergaß. Der Körper meldete sich. Er nahm den Kampf mit der Krankheit
tapfer auf. Schließlich hatte er noch so viel vor in dieser
Gemeinde. Da sollte noch eine Kirche gebaut werden, ein geistliches
Zuhause für die Evangelischen in der Diaspora. Er sollte es nicht
mehr erleben.
Aber seine Familie und seine
Gemeinde haben ihn nicht vergessen. Sein Glaubenszeugnis hatte
andere angesteckt und die von ihm erträumte Kirche zählt nun zu den
gern besuchten geistlichen Orten der Stadt.
Freitag, 18.4.2008
Immer schon habe ich alle ihre
Begabungen aber auch ihren Fleiß bewundert. Sonntag für Sonntag saß
sie an der Orgel ihrer Heimatkirche und begleitete den Gottesdienst.
Das Taschengeld, das sie damit verdiente wurde in Reitstunden
umgesetzt, die den Eltern bei fünf Kindern zu teuer gewesen wären.
Um ihre Sprachkenntnisse zu vervollkommnen, ging sie für ein Jahr
nach Kolumbien. Nach ihrem glänzenden Abschlussexamen stand ihr die
Welt offen. Lukrative Angebote bei großen Firmen lockten. Sie aber
ging zurück nach Kolumbien, wohl wissend, dass das Leben dort
gefährlich sein konnte. Lachend verabschiedete sie sich von mir:
„Leben ist immer lebensgefährlich, ganz gleich, wo ich lebe.“
Nach einem kurzen Ausflug ins
Transportgeschäft zog sie sich zurück und wurde Lehrerin an einer
Dorfschule. Sonntags spielt sie wieder die Orgel wie einst in
Kindertagen. Zusammen mit ihrem Mann versucht sie, die
Lebensbedingungen der Menschen etwas zu erleichtern. Sie weiß, es
ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber es ist eben ihr
kleiner Teil.
Kolumbien ist längst ihre Heimat
geworden. Wenn sie wüsste, dass sie für mich eine Heldin des Alltags
ist, würde sie bloß lachen. Aber dieses ihr Lachen hat mir noch
jedes Mal das Herz erwärmt.
Samstag, 19.4.2008
Wir sind einander bei einem
Spaziergang begegnet. Ich kannte ihn nicht, sah nur, dass ihm die
Steigung des Weges ein wenig Mühe beim Atmen bereitete. Als wir
wieder bergab gingen, trafen wir ihn noch einmal, diesmal ohne
Begleiter. „Ach, der ist mir zu schnell geworden, so kann ich nicht
mehr“, gestand er uns. Wir setzten uns gemeinsam auf eine Bank und
er fing zu erzählen an. Von seiner Landwirtschaft berichtete er, die
er schließlich aufgeben musste, weil keines der Kinder den Hof
übernehmen wollte. Dann war er über 20 Jahre mit dem Kleinbus von
den Dörfern ringsherum zu den Schulen gefahren. Heute konnte er auch
das nicht mehr. Aber seine Fahrschüler, die längst den Kinderschuhen
entwachsen sind, sind ihm noch immer zugetan und er freut sich, wenn
er sie sieht. Er war allein und wirkte doch nicht einsam. Ob nicht
darin die wahre Lebenskunst verborgen liegt.
Von Heldinnen und Helden des Alltags
habe ich eine Woche lang erzählen dürfen. Von Menschen, die ohne je
eine Auszeichnung oder Medaille bekommen zu haben, zu den wahren
Helden des Lebens zählen. Keiner und keine unter diesen wollte oder
will je auf einen Sockel gehoben werden. Sie versuchten und
versuchen nur konsequent das zu leben, wozu sie innerlich geleitet
und vielleicht auch getrieben sind, bzw. wurden. Die beste
Auszeichnung ist wohl jene, es ihnen nachzutun, so wie es auch im
Evangelium heißt: „Gehe hin und tue desgleichen.“
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