Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Bernd Hof,
evangelischer Krankenhaus- und Gefängnisseelsorger aus Innsbruck
Sonntag, 6.7.2008
Der
Gottesdienst im Gefängnis ist für mich immer etwas ganz Besonderes.
Denn so aufmerksame Zuhörer finde ich sonst selten. Für die
Häftlinge ist der Gottesdienst eine der ganz wenigen Abwechslungen
im einförmigen Gefängnisalltag. Viele müssen ja 22 Stunden pro Tag
in der Zelle verbringen. Da ist der Gottesdienstbesuch eine
willkommene Abwechslung. Und so nehmen am Gottesdienst im Gefängnis
viele teil, die seit Jahrzehnten keine Kirche betreten haben. Die
wissen oft nicht, wie man sich in der Kirche normalerweise benimmt.
So muss ich manchmal um Ruhe bitten, aber auch beim Abendmahl genau
erklären, worum es geht – gar nicht so einfach in ein, zwei Sätzen.
Meistens
entsteht im Gefängnisgottesdienst eine konzentrierte Atmosphäre. Bei
der Predigt bemühe ich mich besonders, auf die Lage der Häftlinge
einzugehen, ihre Ängste und Hoffnungen zur Sprache zu bringen. Und
ich spreche vom Neuanfang, den der Glaube ermöglicht, und von der
inneren Freiheit. So interessierte Zuhörer wie da habe ich sonst
kaum, denn sie wissen ja: Mein Leben muss anders werden. Wenn wir
dann bei der Kommunion um den Altar stehen und uns nachher die Hände
geben und den Kreis schließen, dann merke ich: Die Gemeinschaft, die
Christus stiftet, hat wirklich keine Grenzen.
Montag, 7.7.2008
Eigenartig: Wenn ich sage, ich gehe als Seelsorger in Altersheime,
in Krankenhäuser und ins Gefängnis, dann haken die meisten beim
dritten ein: Ins Gefängnis gehen Sie auch? Das muss wohl besonders
schwer sein!
Dass
Seelsorge im Heim und im Krankenhaus keine Kleinigkeit ist, weiß
wohl jeder. Warum meint man dann, im Gefängnis muss es besonders
schwer sein? Ich denke, das liegt vor allem daran, dass die meisten
Menschen schon in einem Altersheim gewesen sind und auch im
Krankenhaus. Aber ein Gefängnis hat kaum jemand betreten. So wirkt
es fremd und bedrohlich.
Tatsächlich verbirgt sich eine eigene Welt hinter den
Gefängnismauern, mit eigenen Regeln und Gesetzen – aber das ist ja
in Kasernen und in den meisten Heimen und Krankenhäusern gar nicht
so viel anders. Die Einschränkung der Freiheit ist freilich
deutlicher, wenn man immer wieder vor schweren Gittertüren steht. In
dieser Gefängniswelt leben Menschen: Untersuchungshäftlinge, die
Monate auf die Verhandlung warten, dann die Frauen und Männer, die
schon wissen, dass sie jahrelang nicht hinauskommen werden –
getrennt von ihren Familien, oft ohne Zukunftsbild. Einer hat mich
mit den Worten begrüßt: Schön, dass Sie da sind, Herr Pfarrer, mit
Ihnen kann ich normal reden.
Ja, und
die Justizbeamtinnen und –beamten (früher hat man „Wärter“ gesagt),
sie haben auch kein leichtes Leben. Für sie alle sind wir Seelsorger
da - das ist nicht immer leicht, aber immer wieder nötig und
sinnvoll.
Dienstag, 8.7.2008
Einsamkeit prägt das Leben vieler Menschen. Einsame gibt es in jedem
Alter, in jeder Lebenslage. Besonders viel Einsamkeit gibt es im
hohen Alter und im Gefängnis. Ein Langzeit-Häftling hat es besonders
drastisch ausgedrückt. Er hat gesagt: „Erst hab ich es geträumt,
jetzt werde ich das Bild auch bei Tag nicht mehr los: Ich bin
lebendig begraben. Ich spüre mich selbst im Sarg liegen, der Sarg
liegt im kalten Grab und hat oben ein Fenster. Durch dieses Fenster
kann ich hinaufschauen, oben sehe ich das Viereck der Graböffnung
und darüber den Himmel – sonst nichts. Ich bin lebendig begraben.“
Und der Häftling fährt fort: „Nur manchmal, ganz selten ändert sich
meine Lage: Wenn ich Besuch bekomme. Da werde ich wieder lebendig,
da kann ich zuhören und jemand hört mir zu, da wird mir warm ums
Herz, Gefühle regen sich und können ausgesprochen werden. Wenn ich
Besuch bekomme, dann werde ich wieder ein lebendiger Mensch. Aber
wann bekomme ich schon Besuch ...“
Die
meisten Häftlinge klagen darüber, dass sie selten besucht werden.
Ich denke, das wird besser werden, wenn wir angeblich freien
Menschen wissen, wie wichtig, ja wie lebenswichtig Besuche im
Gefängnis sind. Jesus hat übrigens gemeint, dass das zum Wichtigsten
im Leben gehört: Kranke und Gefangene besuchen.
Mittwoch, 9.7.2008
„Wie
gehen Sie denn mit den Kriminellen um?“, hat mich jemand gefragt,
nachdem er gehört hat, dass ich als Seelsorger ins Gefängnis gehe.
Ich habe ihm geantwortet: „Ich begegne ihnen so wie Ihnen – als
meinesgleichen. Wir sind alle Menschen. Und wir sind alle
Gesetzesbrecher.“ Er hat mich verständnislos angeschaut, darum habe
ich gesagt: „Ich weiß ja nicht, wie Sie es mit der Steuererklärung
halten – meine ist sicher nicht lupenrein. Und umgebracht hab ich
bisher noch keinen, aber wie viele Menschenleben hab ich im Lauf der
Jahre schon als Autolenker gefährdet ... Es ist, Gott sei Dank,
immer gut gegangen, aber das ist nicht mein Verdienst. Die im
Gefängnis sind erwischt worden, ich nicht – DAS ist der
Unterschied.“
Mein
Gesprächspartner hat nicht glauben können, dass ich das ernst meine.
Aber es ist mir ganz ernst; und es steht doch schon in der Bibel:
Wir Menschen sind alle Sünder. Wir haben alle ein vernichtendes
Urteil verdient.
Darum
begegne ich den Menschen im Gefängnis selbstverständlich als
meinesgleichen. Und ich werde wütend, wenn sogenannte freie Bürger
sich so viel besser vorkommen und finden, die Strafen müssen
verschärft werden und im Gefängnis muss es wieder härter zugehen.
Man soll ja niemand etwas Böses wünschen – aber denen würde ich es
gönnen, dass sie eine Zeit lang das Gefängnis von innen sehen, das
würde ihre Meinung sicher verändern.
Donnerstag, 10.7.2008
Bei den
Gesprächen im Gefängnis kommt auch manchmal die Rede auf den
Glauben. Dabei haben Afrikaner meist weniger Hemmungen als wir.
Letzte Woche hab ich einen Mann aus Nigeria, der frisch inhaftiert
war, gefragt, wie es ihm geht: „How do you do?“ Seine Antwort: „I am
fine, I believe in god.“ – Mir geht’s gut, ich glaube an Gott.
So
spontan sprechen wir unterkühlten Europäer nicht. Aber dass der
Glaube eine Hilfe, eine Stütze im Gefängnis ist, das höre ich öfter.
Heraußen kann man es sich ja fast nicht vorstellen, was die
Verhaftung mit sich bringt: Trennung von Familie und Freunden,
Unmöglichkeit, irgendetwas selbst zu regeln, Gefährdung des
Arbeitsplatzes, völlig unklare Zukunft, totale Hilflosigkeit und
Abhängigkeit, Tag und Nacht mit wildfremden Menschen auf engstem
Raum zusammengesperrt sein – im Gefängnis wird dir praktisch alles
genommen, was dich sonst im Leben trägt. Kein Wunder, dass sich da
immer wieder Menschen umbringen.
„Wenn
ich keinen Glauben hätte, ich weiß nicht, was ich täte“, solche
Sätze höre ich öfters in der Justizanstalt. Und vor seiner
Entlassung hat mir ein Häftling gesagt: „Es klingt vielleicht
komisch, aber ich bin froh, dass ich eingesperrt worden bin. Denn da
hab ich Zeit gehabt, nachzudenken. Und ich hab zum Glauben und zum
Beten zurückgefunden. Jetzt weiß ich: Ich kann wirklich neu
anfangen. Gott sei Dank.“
Freitag, 11.7.2008
Wenn das
Gericht ein Urteil spricht, dann trifft das nicht nur den
Verurteilten, sondern auch die Familie. Schon wenn die Verhaftung in
der Zeitung steht, ändert sich das Verhalten der Umwelt, berichten
Angehörige von einer Art gruseliger Neugier der lieben Bekannten.
Und wenn das Urteil feststeht, dann steht bei den meisten auch die
Mit-Verurteilung der Familie fest: Irgendwie sind die sicher mit
schuld. Schließlich sind sie ja die Angehörigen eines Kriminellen.
Da kann ein Angehöriger schon das Gefühl bekommen, ich bin auch
verurteilt, isoliert, von einer Gefängnismauer umgeben. Oft kommen
auch noch materielle Sorgen dazu, weil der Inhaftierte ja als
Arbeitskraft ausfällt.
Besonders wenn es um längere Haftstrafen geht, stehen das viele
Angehörige nicht durch. Jede zweite Ehe zerbricht unter diesen
Umständen, habe ich gelesen. Und vor kurzem hat mir wieder ein
junger Mann geklagt, seine Eltern wollten von ihm nichts mehr wissen
- jetzt, wo er im Gefängnis sei.
Dabei
ist das Bewusstsein: „Es gibt Menschen, die denken an mich, die
halten zu mir“, für die meisten im Gefängnis DIE Quelle von Kraft
und Hoffnung. Und auch die Frage, wie es nachher weitergeht, ob
jemand ins normale Leben zurückfindet oder ob’s weiter bergab geht –
das entscheidet sich wesentlich daran, ob seine Angehörigen zu ihm
stehen oder nicht. Darum brauchen die Familien von Häftlingen
besonders viel Hilfe und Zuwendung, finde ich.
Samstag, 12.7.2008
Von der
Freiheit träumen alle im Gefängnis. Jeder hofft darauf, die
Halbstrafe zu bekommen, also schon nach der halben Zeit entlassen zu
werden. Auch bei guter Führung und geordneten sozialen Verhältnissen
erfüllt sich diese Hoffnung nur selten. Nach drei Vierteln der vom
Gericht verhängten Haftzeit dürfen schon mehr hinaus – na,
irgendwann geht für jede Insassin und jeden Insassen der Traum von
der Freiheit in Erfüllung und es öffnet sich für sie die kleine Tür
im großen Gefängnistor.
Und
dann? Dann ist die Lage der Entlassenen so verschieden, wie sie vor
der Verhaftung war: Der eine kehrt zu seiner Familie zurück und kann
gleich wieder seinen Arbeitsplatz einnehmen, die andere steht auf
der Straße und weiß nicht wohin. Und fast alle müssen ihre
Gefängniszeit verstecken. Denn wer im Gefängnis war, der ist und
bleibt als Krimineller abgestempelt.
So
verschweigen viele die Vorstrafe, weil sie sonst keine Arbeit
bekämen – und wenn’s herauskommt, sind sie den Arbeitsplatz erst
recht los. Und mancher Vater, manche Mutter behaupten daheim, sie
seien zur Arbeit im Ausland gewesen. Denn sie müssen fürchten, dass
die Kinder sonst zu Außenseitern gestempelt werden.
Irgendwann wird jede Strafe aus dem Vorstrafenregister getilgt –
aber die Verurteilung durch die lieben Mitmenschen bleibt oft noch
über den Tod hinaus bestehen. Dabei leben wir doch alle von Gottes
Gnade und Vergebung.
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