Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Mag. Christian Wiesinger
Sonntag, 7.12.2008
Die Katze vor dem Mausloch, oder: Berührendes im Alltag finden
In meinem Pfarrhof leben zur Zeit auch
drei Katzen. Immer wieder kann ich beobachten, dass sie im
Pfarrgarten irgendwo auf der Lauer liegen – mit der ihnen eigenen
Aufmerksamkeit. Sie warten konzentriert – und doch ganz lässig, fast
wie nebenbei.
Diese Konzentration und Wachsamkeit
wünsche ich mir für viele Situationen in meinem Leben: Ich möchte
manche kostbaren Worte, die jemand ausspricht, nicht überhören – oft
eröffnet mir ein Wort einen tieferen Sinn.
Ich möchte mich in einer Begegnung
wirklich berühren lassen von dem, was den anderen Menschen gerade
bewegt.
Ich möchte mir beim Hören von Musik
oder beim Hören einer Geschichte die Wahrheit, die darin liegt, zu
Herzen gehen lassen.
Ich möchte die Augenblicke nicht
versäumen, die mein Leben weit und voll Freude machen.
Ich glaube, dass es in meinem Alltag
viel Wertvolles gibt, das klein und unscheinbar ausschaut, das sich
leicht verstecken oder wieder verflüchtigen kann, das meine
Aufmerksamkeit braucht.
Und eigentlich ist diese Geschichte,
die bei den Katzen begonnen hat, ja nichts anderes: Die lässige
Konzentration meiner Katzen, eine Kleinigkeit, die ich nebenbei
gesehen habe, gibt mir zu denken über das aufmerksame Warten im
Leben. Ich möchte besonders im Advent gern so erwartungsvoll und
wachsam sein dafür, wo Gott mich mit dem Leben berührt.
Montag, 8.12.2008
Die großen Erwartungen rund um die Taufe
Kinder zu taufen ist eines der vielen
Dinge, die ich als Priester besonders gern tue. Ich freue mich, wenn
ich höre, dass ein Kind auf die Welt gekommen ist.
Beim Treffen mit den Eltern und Paten
zur Vorbereitung der Taufe gibt es viele Themen – die Freude über
die Geburt und manchmal die Sorge um die Gesundheit. Was sich mit
einem neuen Kind alles verändert im Leben einer Familie und das
Bemühen, dem Baby Geborgenheit und Liebe zu schenken.
Und so viel gibt es, das zum ersten
Mal geschieht im Leben eines Menschen, und so viel davon wird
beachtet und gewürdigt: Die erste Ausfahrt mit dem Kinderwagen, und
nach und nach dann das erste Lächeln, der erste Zahn und die ersten
Schritte…
Ganz viele Erwartungen begleiten diese
Zeit: Wir hoffen auf ein glückliches Leben, wir denken daran, welche
Umwelt das Kind prägen wird. Wir fragen uns, welchen Charakter das
Kind hat und welche Fähigkeiten es entwickeln wird können.
Bei der Taufe selbst kommen dann all
diese Themen vor – Freude und Erwartungen, Sorgen und gute
Absichten. Es wird spürbar und wir feiern miteinander, dass mit
jedem Menschen eine neue Welt anfängt. Wir feiern die Liebe Gottes
zu einem konkreten Menschen und zu uns allen.
Heute am Fest Maria Empfängnis feiern
wir den Anfang einer besonderen Erwartung. Wir feiern, dass Gott uns
ganz nahe kommen will, und dass er das lange vorbereitet. Ein Kind
wird geboren und alles darf ganz neu anfangen.
Dienstag, 9.12.2008
Der Toni und sein „und dann?“…
Der Toni ist ein Kind aus meiner
Pfarre. Er ist gerade 8 Jahre geworden und alle bei uns kennen ihn –
er ist oft mit seinen Eltern und seiner großen Schwester in der
Kirche, er spielt gut Fußball und ist ein aufgeweckter und
selbstbewusster Bub.
Vor einiger Zeit hat der Toni mit mir
etwas gespielt, das Sie vielleicht auch kennen: Er hat mich gefragt,
was ich denn jetzt nachher, nach der Messe noch mache. Ich hab ihm
gesagt, was ich vorhabe, und er hat weitergefragt: „Und was machst
du dann?“ Ich hab wieder geantwortet, und er: „Und dann?“
So ist das ein paar Minuten lang
gegangen – es hat uns beiden Spaß gemacht; und dann ist die Mutter
vom Toni gekommen.
Ich musste nachher noch lang darüber
nachdenken, über diese Fragen: „Und dann? – und dann?“
Manchmal macht es mir ja Freude, auf
ein Ziel zu schauen und mir vorzustellen, was „dann“ sein wird.
Manchmal wär’s auch gut, am Beginn einer Sache zu fragen „und dann?“
um zu merken, ob die Mühe, die ich investiere, gut eingesetzt ist.
Und manchmal gibt es Mut, zu wissen,
dass „dann“, nach einer schwierigen oder traurigen Zeit wieder die
Sonne lacht. Schließlich kann ich über den Tag hinaus, über das
jeweils nächste Projekt hinaus mein Leben hinterfragen lassen: „Und
dann?“
Im Advent schauen wir aus, nach dem,
was „dann“ ist, nach dem, der kommt. Der Advent ist jedes Jahr neu
die vierwöchige Erinnerung, dass es ein wunderbares „und dann“ gibt
– ein Fest am Ende dieser Zeit.
Was erwartet Sie heute? Und dann?
Mittwoch, 10.12.2008
„…es geht eh alles so schnell“
„Es geht eh alles so schnell“, hat
jemand an einem der letzten sonnigen Herbsttage zu mir gesagt, und
damit gemeint: „Das Wetter wird sich bald ändern“. Und mitgeklungen
ist noch mehr: Ein Tag nach dem anderen läuft dahin, die
Jahreszeiten wechseln – und alles ist so schnell vergangen.
Vieles soll, wenn es nach uns geht, ja
auch schnell gehen – ich will an einer Kassa nicht lang warten
müssen, ich will eine Reparatur bald erledigt haben. Und vieles soll
ich schnell machen – und merke dann, dass mich das auch oft
überfordert.
Vieles geht uns zu schnell – das
beklagen nicht nur die alten Menschen, die auch früher besonders um
die Kürze des Lebens gewusst haben.
Wie die sonnigen Herbsttage kommt es
uns so vor, als ob die schönen Zeiten besonders schnell vergehen.
Wenn ich im Advent die Kinder frage,
ob die Zeit bis Weihnachten nicht schnell vergeht, so sagen sie mir,
dass es ja noch so lang dauert…
So lerne ich wieder einmal von den
Kindern – dass die Aufmerksamkeit auf das, was kommt, die Zeit
vielleicht ein wenig langsamer vergehen lässt. Ich lerne, dass ich
auf das Wesentliche schaue, und wach werde für alles, was auf meinem
Weg liegt.
„Es geht eh alles so schnell“, da
schwingt vielleicht auch die Trauer um alles Vergängliche mit – wohl
gar nicht so sehr, dass die Zeit vergeht, sondern dass mein Leben
vergeht. Aber das macht nichts, wenn ich die Zeit des Lebens bewusst
und wach lebe. Und schließlich erwarte ich danach für mich etwas,
das noch besser ist als eine Weihnachtsfeier.
Donnerstag, 11.12.2008
Das „Unterpfand der kommenden Herrlichkeit“ und die Nachspeisgabel…
Ich mag Süßes sehr gern, und einer
guten Nachspeise kann ich selten widerstehen. Darum freut mich die
kleine Gabel, die hinter dem Teller liegt und mir schon am Beginn
des Essens sagt, dass es noch eine gute Nachspeise geben wird…
Die kleine Dessert-Gabel fällt mir oft
ein, wenn ich einen Begriff höre, der im kirchlichen Sprachgebrauch
vorkommt. Vom „Unterpfand der kommenden Herrlichkeit“ ist manchmal
in einem Gebet die Rede. Gemeint ist damit für mich wohl jedes
Zeichen, das mich hinweist auf das Wunderbare, das ich erwarte.
Im Advent steckt da die Vorfreude auf
Weihnachten darin – natürlich für all die, die sich auch wirklich
freuen können. Aber Advent heißt auch für die, die gerade wenig
Grund zur Freude sehen, dass das Fest kommt. Eine Zeit als Zeichen
für das, was kommt.
Eine Einladung zu einem
Geburtstagsfest ist auch so etwas – ein Zeichen, dass etwas
Besonderes zu erwarten ist, dass jemand, den ich kenne, ein Stück
seines Lebens mit mir teilt. Die Einladung ist ein Vorbote, dass es
einen Grund gibt zum Feiern.
Den Ausdruck „Unterpfand der kommenden
Herrlichkeit“ verstehe ich auch so, dass es nach diesem Leben noch
etwas zu erwarten gibt. Eine Erwartung an das Leben über die
Lebenserwartung hinaus. Und nicht nur irgendetwas erwarte ich mir,
sondern etwas Wunderbares, unsäglich Schönes – eben die
„Herrlichkeit“.
Der Advent erinnert mich daran. Und
hin und wieder auch die kleine Gabel hinter dem Teller…
Freitag, 12.12.2008
Die Landschaft als Lehrmeisterin
Ich lebe sehr gern im Weinviertel. Ich
bin dort aufgewachsen und seit einigen Jahren wohne ich wieder dort.
Oft geht mir richtig das Herz auf, wenn ich beim Blick aus dem
Fenster die Landschaft sehe.
Wenn ich aufmerksam bin und mir die
Zeit für einen zweiten Blick nehme, dann lehrt mich die Landschaft
viel über mein Leben (und ich weiß schon, dass Sie das in den Bergen
und in der Ebene und in der Stadt genauso erfahren können): Die
Sanftheit der Hügel weist mich hin auf die Zärtlichkeit, die
manchmal so wohl tut. Die Vielfalt der Farben, ihre Abstufungen und
immer neuen Zusammenstellungen erinnert mich an die Buntheit des
Lebens und die vielen Farben einer Lebensgeschichte. Ein großer
Baum, der fest verwurzelt ist, macht mich aufmerksam auf meine
Wurzeln. In den Sonnenstrahlen, die mein Gesicht wärmen, geht mir
Kraft und Wohlbehagen der Zuneigung auf. Ein Weg lässt mich meinen
Lebensweg erkennen, mit Kurven und weiten Ausblicken, bergauf und
bergab. Und manchmal denke ich an gar nichts anderes, sondern nehme
nur wahr und erlebe einfach die Fülle der Schönheit, der Stimmungen,
der Farben und der Gerüche – und wahrscheinlich lerne ich dann am
allermeisten.
Ich warte also schon darauf, vom
Weinviertel immer wieder eine Anregung zum Nachdenken zu bekommen.
Ich erwarte mir mehr als nur die Oberfläche.
Samstag, 13.12.2008
Der fehlende Ton – ein Bild der Sehnsucht in einem Gedicht von Selma
Meerbaum-Eisinger
Vor Jahren habe ich ein Gedicht von
Selma Meerbaum-Eisinger entdeckt. Sie war ein jüdisches Mädchen aus
Czernowitz und starb 1942 mit 18 Jahren in einem deutschen Lager.
Darin spricht sie von einem Lied, in
dem ein Ton fehlt. Trotz aller Versuche ist er zunächst nicht zu
finden. Und dann erklingt bei einer Taste plötzlich kein Ton – genau
dieser wäre der, der fehlt. So bleibt die Sehnsucht nach diesem Ton,
es bleibt die Trauer über alles, was nicht werden konnte.
Das Gedicht bringt etwas zum Ausdruck,
was ich auch von mir kenne. Es benennt die Sehnsucht, die zu meinem
Leben gehört. Es erinnert mich an das, was mir fehlt. Das Gedicht
redet auch von mancher Trauer in mir: Ich denke an Personen, die mir
fehlen, an vertane Chancen, an meine Grenzen und an meine
Unzulänglichkeit. Ich denke an ungenutzte Talente.
Der Advent ist für mich eine Zeit, die
meiner Sehnsucht Raum gibt. Da ist Platz für das noch Ungelebte, und
Platz für neue Erwartungen, neue Hoffnung.
Das Lied, dem ein Ton fehlt, wird so
bleiben, wie es ist. Am Ende des Advents kommt dann ein anderes Lied
– die himmlische Musik des weihnachtlichen Gloria. Dieses Lied
erwarte ich, zum Lied der Sehnsucht dazu. Ich weiß, dass bei allen
Liedern des heurigen Weihnachtsfestes auch wieder etwas offen
bleiben wird. Das gehört zu meinem Menschsein.
Aber ich glaube an ein Neues Lied, das
die Sehnsucht endlich stillt. Ich warte auf einen Advent, wo ich
endgültig ankommen kann – beim ganzen Leben, ich bei Gott und Gott
bei mir.
Sehnsuchtslied
Leise schlägst in deinem Lied du einen Ton an –
und dir ist, als fehlte noch etwas.
Und du suchst verwirrt bei allen Tönen,
ob sie dir nicht sagen können,
wo’s zu finden, wo und wie und wann…
Doch der eine ist zu blass
und zu lüstern ist der zweite
und der dritte ist so voll mit Weite –
viel zu voll.
Du suchst lange – Moll und Dur und Moll
werden lebend unter deinen Händen.
Und dann schlägst du plötzlich eine Taste an,
und – es kommt kein Ton.
Und das Schweigen ist dir wie ein dumpfer Hohn,
denn du weißt es plötzlich ganz genau:
Dieser fehlt dir. Wenn ihn deine Hände fänden,
fiele ab von deinem Lied der Bann,
wär’ das Ende nicht mehr leer und grau.
Und du rührst und rührst die Taste –
fragst dich, wo hier wohl die Hemmung liegt,
suchst, ob nicht doch deiner Hände Weiche siegt,
deine Augen betteln voll Verlangen.
Kein Ton kommt. Einsamkeit bleibt nun zu Gaste
in dem Lied, das dir so schwer und süß gereift.
Um den ungespielten Ton wirst du nun ewig bangen,
bangen um das Glück, das dich nur leicht gestreift
in den leisen Nächten, wenn der Mond dich wiegt
und die Stille deine Tränen nicht begreift.
9.1.1941
(aus: Selma Meerbaum Eisinger, Ich bin in Sehnsucht eingehüllt,
Fischer Taschenbuch Verlag 5394, S. 44) |