Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

„Mensch, wo bist du?“

von Pfarrer Mag. Roland Werneck, Studienleiter an der Evangelischen Akademie Wien

 

 

Sonntag, 10.5. 2009

Am heutigen Muttertag denke ich an alle Mütter, die Angst um ihre Söhne und Töchter haben, besonders an die Mütter, die in den Krisenregionen unserer Welt leben.

Vor 2 Jahren habe ich während eines internationalen Jugendcamps hautnah erlebt, wie es Familien im Nahen Osten geht.

Es waren Jugendliche aus Israel und Palästina, die in Rechnitz im Burgenland zwei Wochen miteinander verbracht haben. Wir haben mit ihnen Rollenspiele entwickelt.

Ein palästinensisches Mädchen hat die Mutter eines israelischen Burschen gespielt, der zur Armee einberufen wird. Der junge Mann überlegt sich, ob er sich traut, den Militärdienst zu verweigern. Der Vater will ihm das verbieten, für ihn wäre das eine Schande für die ganze Familie. Das kommt nicht in Frage.

Die Mutter fühlt sich zerrissen zwischen ihrem Sohn und ihrem Mann. Soll sie ihrem Sohn zuraten, den Militärdienst zu verweigern und zu riskieren, dass er ins Gefängnis muss? Oder soll sie sich wegen der Ehre der Familie auf die Seite ihres Mannes stellen?

Im Gespräch nach dem Rollenspiel sagt das Mädchen, jetzt versteht sie zum ersten Mal, dass auch israelische Mütter Angst haben um ihre Kinder, dass sie Mütter sind wie überall auf der Welt. Bisher hat sie die andere Seite nur als Feinde in Uniform wahrgenommen, ohne Gesichter, ohne Gefühle.

Wer versucht, die Ängste des Feindes selbst zu spüren, hat den ersten Schritt zur Veränderung getan.

 

 

Montag, 11.5.2009

Mensch, wo bist du? - Das ist das biblische Leitwort, unter dem sich demnächst ca. 100.000 Menschen in der norddeutschen Stadt Bremen zum Evangelischen Kirchentag versammeln.

„Mensch, wo bist du?“ ruft Gott im Paradies Adam und Eva zu, die sich vor ihm verstecken wollen, weil sie von der verbotenen Frucht gegessen haben.

Als werdender Vater merke ich schon jetzt, wie sich Wichtigkeiten in meinem Leben verschieben. Unser Kind ist noch nicht geboren, aber es nimmt in unserem Alltag schon jetzt immer mehr Raum ein. Für die Geburt und die Zeit danach müssen die Vorbereitungen getroffen werden. Anmeldung im Krankenhaus, Geburtsvorbereitungskurs,  Babypflegekurs. Die Auswahl eines Kinderwagens ist eine mindestens ebenso große Herausforderung wie der Kauf eines Autos. Ich habe das Gefühl, ich betrete unbekanntes Neuland. Die Vorfreude auf das Kind mischt sich mit der Unsicherheit, wie ich die neuen Aufgaben als Vater bewältigen werde. Ich nehme mir vor,  in den Wochen nach der Geburt viel Zeit für meine Frau und unser Kind zu haben.

Jeder Mensch trägt Verantwortung für sein eigenes Leben, aber auch für das Leben anderer. Als Vater trage ich ebenso wie die Mutter eine besondere Verantwortung für mein Kind. Es braucht mich, ist vollständig auf mich angewiesen. Eltern können sich vor ihren Kindern nicht verstecken wie es Adam und Eva im Paradies versucht haben. Tag und Nacht sind sie gefragt, werden sie gebraucht.

Auch wenn ein neugeborenes Kind noch nicht sprechen kann, werden seine Eltern von ihm ständig gerufen: Mensch, wo bist du?

 

 

Dienstag, 12.5.2009

Passkontrolle! Vielen von uns ist die Situation von früher vertraut. Wer über die Grenze fahren will, muss seinen Reisepass vorzeigen. Die Daten werden kontrolliert, ein strenger Blick des Grenzbeamten, und wenn alles gut geht, wird man durchgewunken.

Im modernen Europa des sogenannten „Schengen-Raumes“ sind die Grenzkontrollen weggefallen. Ich bin beruflich viel unterwegs und genieße das Privileg, die Landesgrenzen ohne Kontrollen passieren zu können. Ich kann mich noch gut an die Gefühle erinnern, die in mir hoch kamen, wenn ich vor 20 und mehr Jahren in ein osteuropäisches Land einreisen wollte. Einreiseformulare mussten ausgefüllt, persönliche Fragen beantwortet werden. Manchmal ist es mir passiert, dass ich abgewiesen wurde. Auf die Frage nach der Begründung bekam ich keine Antwort. Ich fühlte mich ohnmächtig und wütend.

Vor ein paar Tagen bin ich mit dem Zug nach Rumänien gefahren. An der sogenannten „Schengen-Grenze“ nach Ungarn wurden die Reisepässe kontrolliert. Ein Mann aus meinem Abteil wurde von den Beamten aus dem Zug geholt. Da waren sie wieder, die Gefühle. Ohnmacht und Wut.

Grenzen sind Orte, wo sich Macht und Ohnmacht zeigt. Wo die einen über die Freiheit des anderen entscheiden.

Mensch, wo bist du?

 

 

Mittwoch, 13. 5.2009

Wo Menschen unterwegs sind, hinterlassen sie Spuren. Bei Begräbnissen wird in den Ansprachen das Leben der Verstorbenen gewürdigt, ihre besondere Bedeutung, ihre Spuren für Angehörige und Bekannte hervorgehoben.

Wo Menschen unterwegs sind, hinterlassen sie aber auch noch andere Spuren. Jeder und jede von uns hinterlässt einen sogenannten „ökologischen Fußabdruck“. Wie dieser aussieht, hängt von meinem Lebensstil ab. Alles, was ich verbrauche, hinterlässt Spuren: Wasser, Energie, Treibstoff, Nahrung, Kleidung. Alle Rohstoffe, die ich verbrauche, benötigen Platz zum Nachwachsen auf unserer Erde.

Experten haben ein Rechenmodell entwickelt, so dass jeder seinen eigenen „ökologischen Fußabdruck“ berechnen kann. Das ist die Fläche, die nötig ist, um meinen Lebensstil abzudecken. Diese Fläche wird mit den vorhandenen Ressourcen unseres Planeten Erde in Beziehung gesetzt.

Menschen aus den USA haben durchschnittlich den größten „ökologischen Fußabdruck“. Wenn alle so leben würden wie sie, bräuchten wir fast sechs Planeten. Für die durchschnittlichen Österreicher bräuchten wir immer noch mehr als zwei Planeten. Der menschliche  Verbrauch ist weltweit größer als die Ressourcen, die uns unsere Erde zur Verfügung stellt.

Die derzeitige Finanz-und Wirtschaftskrise ist ein guter Zeitpunkt, um über unseren Lebensstil nachzudenken und unser Verhalten zu verändern. Es geht darum, welche Spuren wir zukünftigen Generationen hinterlassen.

Mensch, wo bist du?

 

 

Donnerstag, 14.5. 2009

Einen gar nicht geringen Teil meiner Arbeits- und Freizeit bin ich unterwegs im Internet. Dieses Medium hat sich in den letzten 10 Jahren rasant entwickelt. Viele können sich gar nicht mehr vorstellen, wie das Leben ohne Internet funktioniert hat.

Wenn ich schnell ein Zitat suche, schaue ich im Internet nach. Wenn ich wissen will, was meine ehemaligen Schulkollegen machen, kann ich mich dort informieren.

Was ich früher mühsam in Bibliotheken recherchieren musste, finde ich jetzt innerhalb weniger Minuten. Ich buche meinen Urlaub über das Internet, ich lese Nachrichten im Internet.  Alles geht schnell und unkompliziert. Ich finde das meistens sehr praktisch und hilfreich.

Manchmal ist mir das aber auch unheimlich.

In Diskussionsforen werden in aggressivem Ton oft Dinge anonym geschrieben, die man sich so im direkten Gespräch nicht zu sagen traut. Beim Schreiben am Computer schaue ich meinem Gegenüber nicht in die Augen. Meine Sorge ist, dass bei allem praktischem Daten- und Informationsaustausch im Internet die direkte zwischenmenschliche Begegnung zu kurz kommt.

So hat es auch etwas Beruhigendes und Tröstliches: Wenn ich jemanden wirklich kennen lernen will, muss ich ihn oder sie sehen und mich direkt mit der Person unterhalten. Das wirkliche Leben spielt sich nicht im Internet ab.

 

 

Freitag, 15.5.2009

Ostersonntag ist ein guter Tag, um auf den Friedhof zu gehen. Nach dem Ostereiersuchen im Garten  war ich mit meiner Frau am Grab meines Vaters, der vor drei Jahren verstorben ist. Er war in der Familie zuständig für das Verstecken der Nester und Eier und freute sich immer mit uns, wenn alles Versteckte wieder eingesammelt war. Nach seinem Tod habe ich diese Aufgabe von ihm übernommen.

Im Frühling denken wir lieber über das Leben und die Liebe nach als über das Sterben und den Tod. Das ist traditionell mehr ein Thema für den Herbst.

Aber Menschen sterben unabhängig von der jeweiligen Jahreszeit – genau so wie Kinder auch zu jeder Jahreszeit geboren werden. Der Tod lässt sich wie das Leben nicht durch unseren Kalender eingrenzen.

Da stehe ich am Grab des Vaters und frage mich, was er uns zu sagen gehabt hätte in diesem Jahr. Ich kann es nur vermuten. Er fehlt mir. Mensch, wo bist du?  Vater, wo bist du?  Die Frage bleibt am Grab ohne Antwort. Da ist die Trauer, aber da ist auch Trost und Hoffnung. Für mich ist es auch eine  Frage, die mit Ostern zu tun hat. Mir fällt das Lied ein, das wir am Vormittag in der Kirche gesungen haben:

Jesus lebt, mit ihm auch ich! Tod, wo sind nun deine Schrecken? Er, er lebt und wird auch mich von den Toten auferwecken. Er verklärt mich in sein Licht, dies ist meine Zuversicht.

 

 

Samstag, 16.5. 2009

Endlich 1968! Vor kurzem wurde an der Evangelischen Akademie in Wien dieser Film gezeigt. Zeitzeugen berichten vom Aufbruch einer ganzen Generation. Ich bin in gewisser Hinsicht auch ein 68er, denn in diesem Jahr bin ich in die Volksschule gekommen. Von den gesellschaftlichen Umbrüchen dieser Zeit habe ich damals natürlich noch nichts mitbekommen. Meine Mutter hat mich vor den langhaarigen Gammlern gewarnt und die „Beatle-Musik“, wie jede Art von Popmusik damals genannt wurde, schrecklich gefunden.

Die Generation der 68er war auf der Suche nach einer neuen Gesellschaft. „Make love, not war“ – „Liebe, nicht Krieg“ war eine ihrer Parolen. Autoritäten wurden in Frage gestellt, neue Moralvorstellungen eingefordert. Ein neuer Humanismus war das Ziel.

Was ist aus den 68ern geworden? Die Zeugen von damals erzählen, dass ihr Leben von der damaligen Aufbruchsstimmung geprägt geblieben ist. Manche sind stolz auf das, was sie erreicht haben, andere sind enttäuscht, dass nicht mehr viel übrig geblieben ist.

Ich finde es schade, dass es an diesem Abend nicht zu einem Gespräch zwischen den Generationen gekommen ist. Die heute 20-Jährigen hätten sicher so manche kritische Frage an die heute über 60-Jährigen stellen können.

Mensch, wo bist du? Jede Generation muss sich neu auf die Suche machen. Jede Generation darf Fehler machen. Wichtig ist, dass keine glaubt, sie hat die Wahrheit allein für sich gepachtet.