Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

Morgengedanken

von Superintendentin Luise Müller (Innsbruck)

 

 

Sonntag, 7.6.2009

Opas Zeugnis

Neulich hat mir meine Mutter alte Urkunden unserer Familie geschenkt. Eine davon ist ein Zeugnis meines Großvaters und zwar sein Abschlusszeugnis nach sieben Jahren Werktagsschule aus dem Jahr 1910. Nur in Religion und Sprachlehre hatte er eine Zwei, sonst lauter Sehr gut, bzw. fast Sehr gut.

Ich kann mir meinen Opa nicht als Kind vorstellen, und das liegt nicht daran, dass ich ihn nur als älteren Menschen in Erinnerung habe. Es liegt an seiner Persönlichkeit. Als er dieses Abschlusszeugnis in Händen hielt war er schon Halbwaise, sein Vater als Ernährer der Familie war tot. Auch die Mutter starb früh, und mein Großvater musste bald für seine Geschwister sorgen. Trotzdem absolvierte er eine Berufsausbildung, er lernte Flaschner, wie sein Vater und sein Großvater vor ihm. Er fertigte Dachrinnen und legte Wasserleitungen, flickte Töpfe und Pfannen und Gießkannen in seiner Werkstatt und stellte aus Blech wahre Kunstwerke her.

Er ging gerne in die Schule, es war ein Privileg für ihn, möglichst viel lernen zu dürfen. Das erzählte er auch immer wieder meiner Schwester und mir, seinen Enkelinnen. „Was du gelernt hast, kann dir keiner wegnehmen“, sagte er. „Du kannst dein Geld verlieren, deinen ganzen Besitz, deine Heimat. Aber das, was du gelernt hast ist ein Schatz, der dir bleibt“.

Was ich von ihm gelernt habe ist die Zuversicht ins Leben, die er aus seiner evangelischen Überzeugung gewonnen hatte. Als er starb, durfte ich den Text aussuchen, der der Beerdigungspredigt zugrunde lag. Und ich wählte das Jesuswort: Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.

 

 

 

Montag, 8.6.2009

Der Liebesbrief

Meine Großeltern führten nach meiner Einschätzung eine sehr nüchterne Ehe. Da gab es nicht viel Herumgerede, über Gefühle wurde schon gar nicht gesprochen, Schmerzen und Schwierigkeiten gehörten zum Leben, man ertrug und bewältigte sie. Harte Arbeit war sechs Tage in der Woche angesagt und wurde ohne irgendein Murren erledigt. Ich habe meine Großeltern nie Zärtlichkeiten austauschen sehen.

Umso erstaunter war ich, als ich den wunderschönen Liebesbrief fand, den mein Opa meiner Oma schrieb, als sie beide an todbringendem Krebs erkrankt waren, er daheim war und sie im Krankenhaus lag, 100 km von daheim weg.

Zuerst schreibt er ihr vom Alltag und der Arbeit, wie der Haushalt unserer Großfamilie auch ohne sie erledigt werden kann, wer sich nach ihrem Befinden erkundigt hat, und dass es ihm auch nicht wirklich gut geht. Aber dann erzählt er ihr vom Garten und schreibt: „Heute war ich noch einmal im Garten und habe mir die vergehende Blumenpracht angesehen. Den Erfolg, den du, liebe Frau durch deiner unermüdlichen Hände Fleiß mit bewirkt hast durftest du leider nicht sehen. Es wäre wirklich eine Freude gewesen, wenn wir beide die schönen Augusttage im Garten hätten verbringen können. Aber wir wollen nicht murren und das Unvermeidliche mit Würde tragen.“

In ein paar Wochen heiratet meine jüngere Tochter. Ihr und ihrem Mann wünsche ich eine Ehe, wie sie meine Großeltern hatten: Voller Verlässlichkeit, Durchhaltevermögen und Vertrauen. Und dort, wo sie angebracht sind, tiefe, echte Gefühle.

 

 

 

Dienstag, 9.6.2009

Tagesabläufe

In meinem Schreibtisch liegt eine Mappe, auf der  steht „Persönliches“. Drin ist ein buntes Sammelsurium von höchst interessanten Schriftstücken. Briefe von Freunden und Verwandten, Einladungen, Fotos. Außerdem eigene Texte. Nichts Hochgeistiges, keine Predigt, kein Vortrag, sondern Alltagsbeschreibungen. Manchmal, wenn gar nichts mehr ging, dann habe ich mir einfach die Dinge, die nicht so liefen wie geplant, von der Seele geschrieben. Und solche Zettel habe ich, Gott sei es gedankt, aufgehoben. Sie erinnern mich an ein Leben, das ich schon längst wieder vergessen hatte. Mit Beruf, drei kleinen Kindern und in einem Pfarrhaus wohnend. Tage, die gefüllt waren mit Störungen der geplanten Abläufe, mit kurzfristig notwendig gewordenen Veränderungen, weil wieder mal der Tisch voller Kinder saß, denen ich die Rechenaufgaben erklären sollte, weil anstatt der einen Freundin gleich drei gekommen waren, und weil der kleine Bruder es ausnutzte, dass seine Mutter mit den großen Schwestern beschäftigt war. Weil meine Koreferentin für den Bibelkreis abgesagt hatte, oder mein Mann später heimkam als geplant.

 

Meistens schafften wir es trotzdem gut, den Tag zu überstehen. Und wenn am Abend alle Kinder im Bett lagen, hatte ich meistens schon wieder vergessen, was mir dieser Tag an Prügeln zwischen die Füße geworfen hatte. Es hat uns reich gemacht, dass wir unsere Planungen nicht für das Leben gehalten haben, sondern für etwas, das man notfalls über den Haufen werfen kann. Sorgt nicht für den morgigen Tag, steht im Neuen Testament. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat. Ja, das hat mich über Wasser gehalten, in vielen Zeiten meines Lebens.

 

 

 

Mittwoch, 10.6.2009

Der blaue Brief

Einen der Briefe, die mir regelmäßig Bauchweh bereiteten, habe ich aufgehoben. Adressiert ist er an Familie Müller, und sein Text lautet: Gemäß § 19 Absatz 4 des Schulunterrichtsgesetzes wird darauf hingewiesen, dass die Leistungen von xy  in den Pflichtgegenständen Deutsch, Latein, Geographie und Wirtschaftskunde, Mathematik und Physik aufgrund der während des Unterrichtsjahres bisher erbrachten Leistungen bei größerer Gewichtung der zuletzt erbrachten Leistungen mit „Nicht genügend“ zu beurteilen sind. Briefe mit diesem Text haben wir während der Schulzeit unseres Sohnes fast jedes Jahr bekommen. Der zitierte stammt aus der dritten Klasse Gymnasium, die er dann doch nicht wiederholen musste, obwohl es am 22. Mai, dem Datum, an dem der Brief geschrieben wurde, offensichtlich so aussah.

Ich kann mich noch gut erinnern, welchen Ärger solche Schriftstücke auslösten. Beim wieder mal scheinbar gescheiterten Kind, bei uns, seinen Eltern, bei der ganzen Familie. Inzwischen hat unser Sohn – nach etlichen Umwegen -  sein Fachhochstudium abgeschlossen, gehört zur arbeitenden Bevölkerung und ist auf einem guten Weg. Dies sage ich allen Eltern, denen es heuer ähnlich geht wie mir durch mehrere Jahre. Die an ihren Kindern zweifeln, an sich, am System. Manches von dem Stress, den wir uns machten war unnötig, manches durchaus berechtigt. Aber wovor ich alle warnen möchte ist, ihr Kind plötzlich nur noch im Lichte der schulischen Leistungen zu sehen. Unsere Kinder sind mehr als das, was sie in der Schule leisten. Sie sind eine Gabe Gottes, ein Geschenk, für das wir Eltern dankbar sein können.

 

 

 

Donnerstag, 11.6.2009

Schubladen aufräumen

Ab und zu kommt ja niemand drum rum, mal wieder die Schubladen aufzuräumen, die man sonst eigentlich eher vergisst. So eine Schublade gibt’s bei mir im Schlafzimmer.

 

Die Konfirmationsfliege unseres Sohnes, ein Plastikrosenkranz, den mir eine alte Katholikin mal geschenkt hat und vieles andere findet sich darin. Vor allem viele Blätter Papier. Angefangen bei Muttertagsgedichten über Briefe an Großeltern und Tanten, die dann doch nicht abgeschickt wurden, Anfänge von maschinengetippten Krimis, bis hin zu wichtigen Mitteilungen wie:  „Liebe Mama, ich habe mir eine neue Zahnbürste genommen, weil sie, die alte, schon so ausgebürstet war. Ich wünsche dir und deinem Gesellen eine gute Nacht und viele Bussis“.

 

Solche Zettel fand ich öfter, wenn ich am Abend ins Bett ging auf meinem Kopfkissen. Einer davon, ein Blatt Schreibmaschinenpapier, beinhaltet eine Entschuldigung: „Liebe Mama, ich möchte mich für das, was ich gesagt habe, entschuldigen.“ Ja, manchmal ging es heiß her bei uns. Zwei berufstätige Eltern, drei Kinder, ein offenes Haus, in dem viele kleine und große Menschen ein und aus gingen, da fielen schon mal in der Hitze des Gefechts Worte, Sätze, die einem hinterher leid taten. Und dann gab es die Bitten um Entschuldigung. Nicht nur von den Kindern, auch von uns, wenn wir übers Ziel hinausgeschossen waren.

 

Wir sind nicht schlecht gefahren, indem wir so miteinander umgegangen sind. Zugegeben haben, wo wir einen Fehler gemacht hatten aber mit der Bitte um Entschuldigung deutlich den Wunsch geäußert haben, dass die Fehler nicht über die gegenseitige Zuneigung triumphieren dürfen, dass Verletzungen heilen können, wenn man nur will.

 

 

 

Freitag, 12.6.2009

Ermahnungen

Als ich neulich ein Rezept suchte, fiel sie mir wieder mal in die Hände. Eine Nachricht meiner Mutter, die sie auf einem kleinformatigen Reklameschreibblock schnell hingeschrieben und einem Päckchen beigelegt hatte, das sie mir am Anfang meines Theologiestudiums geschickt hatte. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich um verschiedene Dinge gebeten hatte. Unter anderem um eine Flasche Magenbitter, die in meiner Heimat hergestellt wird. Sie schickte mir alles, bis auf den Magenbitter und schrieb dazu: „Anstelle des Magenbitters habe ich dir ein paar warme Socken eingepackt, die helfen auch, wenn dir kalt ist. Eine Theologiestudentin säuft nicht!!!“

 

Der letzte Satz hatte drei Ausrufezeichen.

Ich erinnere mich vage, dass ich die Kälte, die ich scheinbar mit dem höherprozentigen Alkohol bekämpfen wollte, nur vorgeschoben hatte. Viel mehr gings mir darum, gewisse männliche Mitstudenten zu beeindrucken. Das ist mir dann ohne die Flasche auch gelungen. Seit 35 Jahren bin ich mittlerweile mit dem, der mir damals am wichtigsten war, verheiratet.

 

Was mich damals ärgerte war das Klischee, die Ermahnung meiner Mutter: Eine Theologiestudentin säuft nicht. Was dachte sie nur von mir! Ein paar Tage war ich beleidigt, dann suchte ich nach Alternativen. Mittlerweile relativiere ich ihre Reaktion längst. Aus meinem eigenen Leben als Mutter weiß ich: Mütter können gar nicht anders, sie müssen ermahnen. Aber manchmal müssen Kinder auch über gut gemeinte Ermahnungen hinwegsehen, und das tun, was sie tun müssen.

 

 

 

Samstag, 13.6.2009

Neue Tiroler Stimmen

Neue Tiroler Stimmen, so lautet der Titel einer Zeitung, die vor mir liegt. Untertitel: Für Gott, Kaiser und Vaterland. Das Blatt trägt das Datum 8. November 1879. Es gehört zu dem Wenigen, was aus dieser Zeit in unserem Archiv auffindbar ist. Unter der Überschrift „Die tirolische Glaubenseinheit“ wird über die Einweihung der ersten evangelischen Nordtiroler Kirche berichtet.

 

Der Verfasser schreibt: Unter den Eigenthümlichkeiten des Landes Tirol nimmt die Einheit des Glaubens den ersten Rang ein; sie ist jenes Gut, welches uns am meisten von andern Ländern unterscheidet…umso tiefer ist unser Schmerz bei dem Gedanken, daß man diese Glaubenseinheit feierlich begraben hat…“ Und er schreibt weiter: „Es ist jetzt eine Thatsache, dass in Innsbruck eine protestantische Gemeinde besteht, dass dieselbe eine katholische Kapelle erworben hat und in derselben öffentlich den protestantischen Gottesdienst feiert.“

 

Das, was für die evangelischen Christinnen und Christen im Land nach vielfältigen Hindernissen endlich zur Gründung einer evangelischen Pfarrgemeinde geführt hatte und Grund zu großer Freude war, war offensichtlich für einen Teil der Katholiken fast der Untergang des Abendlandes.

 

Seltsam aktuell wirkt dieses alte Papier. Damals verstand man unter Glaubenseinheit das Römisch-Katholische. Im gerade zu Ende gegangenen Europawahlkampf versuchten einige das Christliche, gleich welcher Konfession gegenüber anderen Religionen als diesem Land angemessener zu fordern, ebenfalls mit der Unterstellung, dass das andere grundsätzlich verdächtig sei. Zum Glück war diese Meinung im 19. Jahrhundert ebenso die einer Minderheit wie heutzutage. Es ist an uns, dass das auch so bleibt.