Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Helga Kohler-Spiegel
Sonntag 23. August 2009
Selbst christlich geprägt, interessiert mich die Frömmigkeit
anderer Menschen, ich finde faszinierend, wie Menschen in
verschiedenen Kulturen ihren Glauben leben, welche Rituale sichtbar
sind, wie sie beten. Und diesen Sommer habe ich entdeckt, wie
Menschen mitten im Trubel einer asiatischen Großstadt beten – ganz
selbstverständlich das Tempo des Alltags unterbrechen für ein kurzes
Gebet, für ein Ritual. Im ersten Moment ist es ungewohnt, wenn so
sichtbar Männer wie Frauen, junge Paare, ältere Menschen oder Kinder
an der Buddhastatue vorbeikommen, ihre Schuhe ausziehen,
niederknien, sich verneigen und ihre Rituale vollziehen. Mitten in
der Stadt sitzen Mönche da, um die Menschen mit Reisbesen und Wasser
zu segnen, mit Gebeten zu begleiten. Ein kleiner Wollfaden, den der
Mönch einem um das Handgelenk bindet, erinnert daran, gesegnet zu
sein.
Ein Sonntag in einer asiatischen
Großstadt, daneben ist es laut und schnell und das Leben ist
hektisch. Und dennoch: Durch den Tag hindurch fällt mir auf, wie
viele Menschen ein solches Bändchen um das Handgelenk tragen, weil
sie gesegnet sind. Und ich weiß, dass ich heute, wenigstens am
Sonntag – vermutlich ohne Wollfaden am Handgelenk – gesegnet sein
möchte…
Montag 24. August 2009
Lotusblumen und Kerzen und Räucherstäbchen werden geopfert, Wasser
ausgeschüttet für die Schöpfung… es gibt etwas zu tun, um das Gebet
sichtbar zu machen. Als ich ein Kind war, habe ich das auch so
erlebt: Es gab religiös einiges zu tun: Wallfahrten und
Gottesdienste, Feiern zuhause, ich kannte den Ablauf der Riten, die
Lieder und die Gebete. Natürlich war es auch manchmal langweilig,
aber es gab etwas zu tun.
Manches davon hat sich Verlauf der
Jahrzehnte verloren, manches wurde verändert oder es hat für mich an
Bedeutung verloren. Und doch denke ich öfters: Es war schön, in
diesen Riten Orientierung zu haben, zu wissen, was zu tun ist und
darin auch ein Stück geborgen zu sein. Nur damit Sie mich nicht
falsch verstehen: Ich möchte nicht zurück zu den alten religiösen
Formen. Aber manchmal, wenn ich – wie im Sommer – die so
selbstverständlich im Alltag gelebten Riten einer anderen Kultur,
einer anderen Religion erlebe, erinnert mich das daran: Vielleicht
zünde ich heute eine Kerze für jemanden an, vielleicht ein
Stoßgebet. Und dann weiß ich: Eine kleine spirituelle Geste am
heutigen Tag – das ist gut.
Dienstag 25. August 2009
Ich empfinde es immer wieder als Privileg, wegfahren zu können und
Neuem, manchmal auch Fremdem zu begegnen, über den eigenen
Tellerrand zu schauen und zu sehen, wie andere Menschen leben und
arbeiten.
Es ist schon eigenartig: Im Urlaub
sind wir oft fasziniert vom „Fremden“, von einer anderen Kultur, von
einer anderen Religion. Zuhause, muss ich eingestehen, habe ich ja
auch die Möglichkeit, Menschen zu begegnen, die anders leben als
ich, die mir manchmal ungewohnt und fremd sind. Aber im eigenen Land
bin ich daran oft weniger interessiert, ich bewerte viel schneller,
es nervt mich, wenn andere „bei uns“ anders tun und leben, ich bin
weniger geduldig.
Eigentlich habe ich mir heuer
vorgenommen, das als eine Art Souvenir aus meinem Urlaub
mitzunehmen: Das Interesse an Neuem, auch an Fremdem. Vielleicht ist
es bei Ihnen etwas anderes, was Sie als eine Art Souvenir aus dem
Sommer mitnehmen: Die Ruhe des Urlaubs, der Abstand… Es wäre schön,
sich wenigstens etwas davon in den Alltag mitzunehmen.
Mittwoch 26. August 2009
Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Kinderbuch „Frederick“. Die
Maus Frederick ist ein Außenseiter: Während alle anderen Mäuse
fleißig Vorräte für den Winter sammeln, sitzt Frederick scheinbar
tatenlos und faul in der Sonne. Im Winter, als die Nahrung der Mäuse
aufgebraucht ist und die Mäuse ihn vorwurfsvoll nach seinen
gesammelten Vorräten fragen, packt Frederick seine "Vorräte" aus:
Mit Sonnenstrahlen, bunten Farben und Worten, die er im Sommer
eingefangen hat, kann er jetzt im kalten, dunklen Winter den
Mitbewohnern Wärme und Freude vermitteln. Als Frederick den Mäusen
ein selbst verfasstes Gedicht über die Schöpfung und den
Jahreszeitenwechsel vorträgt, rufen die Mäuse erstaunt aus: "Aber
Frederick, du bist ja ein Dichter". Und er antwortet: "Ich weiß es,
Ihr lieben Mäusegesichter". So findet der Sonderling Frederick
Anerkennung…
Am Ende des Sommers, am Beginn eines
neuen Tages mag ich Ihnen diesen vielleicht vertrauten Gedanken
mitgeben, wenn Sie sich heute auf den Weg machen: Die Bilder
aufnehmen, nach innen nehmen, was schön und anregend ist: Die Farben
des Morgens, die Bäume, das Gesicht eines lieben Menschen – damit
wir Bilder haben für die kargen Tage.
Donnerstag 27. August 2009
Als ich ein Kind war, nahmen wir den Rhythmus des Jahres viel
stärker als heute entlang der Natur und den entsprechenden Pflanzen
wahr. Die ersten Schneeglöckchen machten deutlich, dass der Winter
seine Kraft verliert, die Himmelschlüssel zeigten das Frühjahr an,
mit den Pfingstrosen war klar, jetzt kommt bald wirklich der Sommer.
Wenn der Monat kein „R“ mehr im Namen hatte, durfte man barfuß
gehen. Und dann natürlich die Herbstzeitlose, die gnadenlos sichtbar
machte, dass der Sommer zur Neige geht.
Als Kind haben wir daran gelernt, wie
Zeit sich strukturiert und wie Veränderung geschieht, der Rhythmus
gab uns Orientierung und Sicherheit – und lehrte uns früh, dass
diese Bewegungen nicht in unserer Hand liegen. Ganz
selbstverständlich haben wir gelernt, wie die Zeiten kommen und
gehen, wie wir uns einzufügen haben in diesen Kreislauf. Heute, wenn
ich die ersten Herbstzeitlosen sehe, fällt mir das wieder ein: Den
Rhythmus kenne ich, das Werden und Vergehen. Das kann ich
wahrnehmen, genießen und manchmal auch betrauern. Aber es ist nicht
in meiner Hand – und das ist wohl gut so.
Freitag 28. August 2009
So gegen Ende der Arbeitswoche stehe
ich manchmal schon schwerer auf, ich merke die Anstrengung der Woche
und freue mich auf das Wochenende, sofern es arbeitsfrei ist. Es ist
nicht ganz leicht zu akzeptieren, dass ich für vieles mehr Zeit
brauche als früher, dass ich auch für Erholung mehr Zeit brauche,
dass mein Tempo langsamer und meine Kraft ein bisschen weniger wird.
Zugegeben, das ist in meinem Fall noch
nicht dramatisch, aber so ganz allmählich spürbar. Doch es gilt,
diese leisen Veränderungen ernst zu nehmen, ihnen einen gewissen
Tribut zu zollen: Den Tag mit Gymnastik und Körperübungen zu
beginnen oder zu beenden, Zwischenzeiten und Übergänge für Pausen zu
nutzen, Bewegung nicht zu streichen, nur weil das Wetter schlecht
ist….
Natürlich muss ich manchmal über mich
selbst schmunzeln, wenn ich sehe, dass ich meine Zeit gestalte als
wäre ich zwanzig Jahre jünger. Natürlich weiß ich, dass das nicht
klug ist – und dennoch vergesse ich es öfters. Die Müdigkeit gegen
Ende der Arbeitswoche macht es mir manchmal deutlich: Es ist nicht
ganz einfach zu akzeptieren, das die eigenen Kräfte begrenzt sind.
Samstag 29. August 2009
Es geht auf’s Wochenende zu – und da
habe ich mir vorgenommen, endlich wieder mal richtig aufzuräumen,
Ablagen freizumachen und manch Altes wegzuwerfen. Manche Jahre haben
wir gesagt: Was wir ein ganzes Jahr lang nicht gebraucht haben,
braucht man gar nicht mehr – also können wir das wegwerfen.
Allmählich, mit dem Älterwerden, wurde der Zeitraum „ein Jahr“ immer
kürzer, und es war klar: Nur weil ich etwas in einem Jahr nicht
brauchte, kann es mir dennoch im nächsten Jahr wieder nützlich sein.
So hat sich das Aufräumen, das Weggeben verändert, die Anzahl an
Gegenständen, die ich aufbewahre, wird größer… Kann ich etwas
weggeben, wenn ich es zwei oder drei Jahre nicht mehr gebraucht
habe? Was mache ich dann mit manchen Dingen, die in Kisten verpackt
oder im Keller lagern?
Eigentlich wollte ich dieses
Wochenende aufräumen, aber das ist gar nicht so leicht. Ich muss
alles in die Hand nehmen, bevor ich entscheiden kann, ob ich es
behalte oder wegwerfe. Und all die Erinnerungen, die da auftauchen,
wenn ich diesen Schrank räume…
Vielleicht mache ich dieses Wochenende
lieber einen Spaziergang oder treffe mich mit Freunden, eigentlich
kann das Aufräumen auch noch ein bisschen warten… Oder doch nicht?
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