Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Angelika Pressler, katholische Theologin und Psychotherapeutin aus Salzburg

 

Sonntag 1. November 2009

Heute am Allerheiligentag möchte ich Ihnen zuerst einmal alles Gute zum Namenstag wünschen. Sie stutzen? Heute Namenstag? Nein. – Freilich! Denn heute wird an alle Heiligen gedacht.

Ich denke dabei gar nicht an die von der Kirche auserwählten heiligen Männer und Frauen aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit, die uns mit mehr oder weniger spektakulären Biographien Staunen machen. Ich denke an Sie und mich. Denn ein Stück Heiligkeit tragen wir alle ins uns.

Was ist es, das uns normal Sterbliche auch zu Heiligen machen kann? Was ist mir heilig, was ist heil in mir und um mich herum?

Wir werden ja nahezu überschwemmt mit unheiligen Personen und Zuständen. Ist es da nicht umso wichtiger, den Blick zu schärfen für eine andere Perspektive; dafür, dass es in jedem Leben sehr wohl Spuren gibt, die von Heiligkeit erzählen können.

Davon, dass wir Gutes, Heiliges in uns tragen, selbst wenn im Laufe eines Lebens so manche Güte abgestorben scheint. Aber sie ist da und wartet auf ihre Wiederbelebung.

Deshalb ist es gut, sich heute an Allerheiligen an unsere Begabung zur Heiligkeit zu erinnern.

Montag, 2. November 2009, Allerseelen

Wenn die Tage kürzer werden, das Morgendämmern sich weit in den Vormittag hineinzieht und die Lichter am Friedhof lange Schatten aus der Vergangenheit werfen, dann kann es schon sein, dass der Trübsinn Einkehr hält in so manche Seele, dort bleibt und seine traurigen Lieder anstimmt. Allerseelen, die Tage im November können alle Seelen rühren. Auch die ihre?

Dann lassen Sie sich berühren. Denn es tut gut, sich seiner inneren Welt zu vergewissern. Zeit und Muße dafür verwenden, um im eigenen Haus der Seele wieder mehr Orientierung zu bekommen. Da und dort Ballast abwerfen, längst verloren Geglaubtes finden, vom Staub befreien und sich am wieder gewonnenen Glanz erfreuen. Aber es geht nicht darum, das Glück vergangener Sonnentage aufzupolieren. Viel wichtiger scheint es mir, immer wieder jene Dreh- und Angelpunkte des gelebten Lebens in den Blick zu nehmen, in denen Spuren eigener Heiligkeit und Seligkeit sichtbar geworden sind. Vielleicht müssen wir diese Spuren nur neu lesen lernen, oder neu buchstabieren, was es heute heißen kann, dass wir auch Seliges und Heiliges in uns tragen.

Dienstag, 3. November 2009

Am frühen Morgen mute ich Ihnen und mir erneut die Frage zu: Was macht uns heilig? Und ich bin dabei auf einen Begriff gestoßen, der merkwürdig altmodisch klingt. Auf das Wort TUGEND, das verwandt ist mit dem Wörtchen taugen.

Ich sinniere mutig weiter und frage: Welche Tugenden braucht es, damit unsere eigene Heiligkeit tauglich, brauchbar wird? Und flugs bin ich bei den Kirchenvätern und den alten Griechen. Gab es da nicht so etwas wie Kardinalstugenden? Kardinalstugend – da steckt das lateinische Wort „cardo" drinnen, das bedeutet: Türangel, Dreh- und Angelpunkt. Also: Die Kardinalstugenden sind so etwas wie eine Tür, ein Scharnier zur eigenen Heiligkeit.

Tugenden, so lese ich bei Aristoteles, fallen nicht vom Himmel, sie müssen gelernt, eingeübt werden. Und sie haben nichts gemein mit jenen aus der bürgerlichen Neuzeit, wie Fleiß, Anständigkeit, Pünktlichkeit und vor allem Gehorsam.

Die vier aristotelischen Tugenden lauten: Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit. Wau! Und die könnten das Scharnier zu unserer Heiligkeit sein?

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen einen tugendhaften Tag!

 

Mittwoch, 4. November 2009

Wie geht es Ihnen auf Ihrem Weg durch die Tage nach Allerheiligen? Sind Sie schon wach genug, um mit mir auf dem Pfad der Tugenden zu gehen, ein paar Gedankenfäden zu spinnen? Zum Beispiel über die erste Kardinalstugend, die Gerechtigkeit.

Gemeint ist nicht die Gerechtigkeit, die als Frau mit verbundenen Augen vor so manchem Justizgebäude thront. Ich meine auch nicht eine Gerechtigkeit, deren Triebfedern Unzufriedenheit und Neid sind. Ich meine jene Gerechtigkeit, wie sie bei Aristoteles, bei Thomas von Aquin aber auch bei Konfuzius zu finden ist.

Die Gerechtigkeit als Tugend des Herzens und des Verstandes. Die Gerechtigkeit als Haltung und Einstellung zum anderen Menschen. Eine solche Tugend ist verwandt mit der Solidarität. Aber Solidarität ist nie neutral. Solidarisch kann ich nie mit allen sein, Solidarität wählt aus, trifft Optionen, hat immer etwas zu tun mit Entscheidung für ganz bestimmte Menschen, Werte und Überzeugungen. Gerecht ist eine Gesellschaft nur dann, wenn die Schwachen und Minderheiten in ihr einen Namen und einen guten Ort haben.

In diesem Sinn wünsche ich heute einen tugendhaften Tag.

Donnerstag, 5. November 2009

Ich erlaube mir heute wieder laut über eine Kardinalstugend nachzudenken, eine beinahe ausgestorbene. Ehrlich gesagt, ich hatte auch schon selber fast vergessen, dass sie bei den alten Griechen und Kirchenvätern eine Tugend ist, die Klugheit.

Hand auf’s Herz: Wann haben sie zuletzt einen klugen Menschen getroffen? Oder einen klugen Kommentar in den Medien gelesen. Ja sicher: Es wimmelt von Neunmalklugen, Oberg‘scheiten und Besserwissern. Aber die Klugheit scheint ein rares Gut geworden zu sein. Sie spricht eine leise Sprache, sie hetzt nicht, sondern wägt ab. Sie wirft nicht alles in einen Topf, sondern differenziert. Die Tugend der Klugheit ist anstrengend, weil sie auf schwierige Fragen keine einfachen Antworten parat hat.

Das Gegenteil von Klugheit ist Dummheit im Sinne der Ignoranz. Wenn ich mich recht erinnere, ist bei Thomas von Aquin die „ignorantia" – eine Art von Sünde.

Achtsam werden auf die Tugend der Klugheit, das wäre doch was für den heutigen Tag. Denn Tugenden sind doch wie Herzschrittmacher, um das eigene Heiligsein reifen zu lassen.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen einen tugendreichen Tag.

Freitag, 6. November 2009

Freuen Sie sich auf das Wochenende? Haben Sie frei oder müssen Sie arbeiten? Wird es eine Unterbrechung des Alltags geben oder geht es weiter im gleichen Trott?

Mich selber beschäftigen immer noch die Kardinalstugenden und der Weg zum persönlichen Allerheiligen. Von einer Tugend möchte ich Ihnen heute wieder erzählen. Es ist die Mäßigkeit. Wieder ein altbackenes Wort, das ein bisschen muffig riecht. Vielleicht könnte Mäßigkeit heute übersetzt werden mit: Ein gute Balance finden zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Genuss und Verzicht, zwischen Hoch-Zeiten und Tief-Zeiten. Work-Live-Balance heißt das so schön neudeutsch.

Die Tugend der Mäßigkeit ist nicht zu verwechseln mit Langeweile oder Gleichgültigkeit. Wenn mir alles gleich gültig ist, habe ich längst vergessen, klug abzuwägen, wofür ich mich entscheide, was jetzt, an diesem Punkt meines Lebens angegangen werden muss.

Wenn Tugenden wie Herzschrittmacher sind, die helfen, das eigene Heiligsein reifen zu lassen, dann braucht es Mäßigung, ein gutes Augenmaß, um den Rhythmus des Lebens am Pulsieren zu halten.

In diesem Sinn - einen tugendreichen Tag für Sie.

Samstag, 7. November 2009

Noch einmal wage ich in früher Stunde den Griff in die alte, fast vergessene Schatzkiste der Tugendlehre. Heute geht es um ein seltsam Ding, um die Tugend der Tapferkeit. Freilich, so wie Aristoteles und die Kirchenväter sie betrachteten, hat die Tapferkeit wenig mit Medaillen und Orden zu tun. Und noch weniger mit Mutproben oder Zähne zusammenbeißen, Augen zu und durch.

Tapferkeit meint das Maß zwischen Feigheit und Verwegenheit, sie braucht die Fähigkeit unterscheiden zu können und den Mut zur eigenen Meinung. Tapferkeit hat also viel mehr mit Klugheit als mit Kühnheit zu tun. Ein anderes Wort für Tapferkeit heißt heute wohl Zivilcourage. Dazu kann niemand verpflichtet werden, ich kann sie höchstens lernen, Schritt für Schritt.

Und für mich wird langsam verständlich, was die Alten in ihrer Tugendlehre bezweckt hatten: Sich einzuüben in das große Projekt Menschlichkeit.

So gesehen sind die Tugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit wahrliche Schrittmacher, um das zu stützen und zu stärken, was uns heilig macht: Ein menschliches, warmes, kluges Herz.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen einen tugendhaften Tag.