Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Dr. Jutta Henner (Wien)
Sonntag, 14. Februar 2010
Europäische Kirchen legen im heurigen
Jahr 2010 einen besonderen Schwerpunkt auf das Thema „Migration“.
Millionen Menschen leben weltweit fern ihrer Heimat, die sie aus den
unterschiedlichsten Gründen verlassen haben – oder verlassen
mussten. Fremde leben mitten unter uns. Das ist eine
Herausforderung, auch für Kirchen, Gemeinden und einzelne
Christinnen und Christen! Wie gehen wir mit Menschen um, die zu uns
kommen mit ihren eigenen Gewohnheiten und ihrer Sprache, mit ihren
Hoffnungen und Erwartungen, die oft nicht dem entsprechen, was sie
dann hier in der Realität erfahren?
Wie soll man umgehen mit denen, die
auf der Flucht sind vor politischen Machthabern, vor Hungersnot oder
vor konkreter persönlicher Verfolgung?
Mein Blick geht in die Bibel. Dort
lässt sich zum Thema „Fremde unter uns“ Überraschendes entdecken.
Nicht nur, dass bereits in biblischer Zeit Menschen auf der Flucht
waren, meist aus den gleichen Gründen wie heute. Nein, die Bibel hat
hinsichtlich des Umgangs mit Fremden eine brisante, eine bis heute
aufrüttelnde Botschaft, so lese ich im 5. Buch Mose: „Gott hat die
Fremdlinge lieb“ (10,19). Fremde mit den Augen Gottes sehen, ändert
also die Perspektive grundlegend!
Montag, 15. Februar 2010
Die Bibel erzählt von zahlreichen
„Migranten“, erzählt von dem, was sie erleben auf ihrem Weg in die
Fremde. Sie verlassen ihre vertraute Umgebung, gehen ins Ungewisse,
meist nicht freiwillig!
Ich denke an Josef, den seine elf
Brüder verraten und verkaufen, und der so als Sklave nach Ägypten
kommt. In Ägypten erkennt man die Begabungen des jungen Joseph - und
er darf wirken zum Wohl der einheimischen Bevölkerung! Joseph ist
ein Beispiel gelungener Integration - er darf im Lande bleiben, er
darf arbeiten und bekommt nach und nach eine Schlüsselposition.
Schließlich gründet er eine Familie - mit einer Einheimischen, einer
Ägypterin. Seine Brüder, die ihn einst nach Ägypten verkauft hatten,
werden ihm später in Ägypten wieder begegnen. Eine große Hungersnot
hat jetzt sie aus ihrer Heimat nach Ägypten fliehen lassen...
Eine Generation lang wird es gut gehen
in Ägypten, doch dann, nach einem Regierungswechsel, wachsen die
Sorge und das Misstrauen unter den Einheimischen, ob denn die
Fremden nicht zu zahlreich würden. Die aus Sicht der Ägypter
„Fremden“, Gottes erwähltes Volk, werden bedrängt. In dieser Not
bricht das Volk im Vertrauen auf Gottes Wort und seine Verheißungen
in eine ungewisse Zukunft auf.
Dienstag, 16. Februar 2010
Wer immer Fremden begegnet, die auf
der Flucht sind, wird von ihnen dieselben Erfahrungen hören.
Erfahrungen, um die auch schon die Bibel weiß: Hunger, Krieg,
politische Verfolgung, schlechte Wirtschaftslage, persönliche
Verfolgung, all das führt zum Aufbruch. Doch zunächst wartet eine
schwierige, lange Reise auf Flüchtlinge. Am vermeintlichen Ziel
angekommen, fangen die Probleme erst an: Flüchtlinge sind
unwillkommen, niemand hat sie gerufen, der Kampf ums tägliche Leben
und Überleben, die Härten des Alltags beginnen. Eine tückische
Situation. Zu welchen Mitteln darf man greifen, um im Land bleiben
zu dürfen, um dort überleben zu können? Für mich gehört es zu den
bewegenden Erfahrungen, wenn ich einem Flüchtling eine Bibel in
seiner Sprache schenke, mit ihm oder ihr ins Gespräch zu kommen, zu
hören, wie es den Menschen geht.
Ich erlebe immer wieder staunend, wie
existentiell Menschen auf der Flucht und in der Fremde die Bibel
lesen. Sie finden sich und ihre Situation, ihre Hoffnungen und ihre
Enttäuschungen, ihre Verzweiflung und ihre Einsamkeit in ihren
biblischen Vorbildern. „Als ich das zu lesen begann, dachte ich, da
geht es nur um mich, genauso erlebe ich es auch. Und das hilft mir!“
Mittwoch, 17. Februar 2010
Liest man in der Bibel nach, was dort
über die Fremden und den Umgang mit ihnen gesagt ist, wird man
überrascht sein! Gott selbst steht auf der Seite der Fremden. Er
führt Menschen heraus aus Not und bedrängenden Verhältnissen, er
warnt davor, Fremde auszubeuten und gering zu achten. Die Bibel
erzählt immer wieder davon, wie gerade Fremde in Gottes Plan eine
wichtige Rolle spielen.
Ich könnte die Geschichte von Rut
erzählen. Ihre Schwiegereltern waren mit ihren zwei Söhnen aus
Bethlehem geflohen, als es wieder einmal eine Hungersnot gab. Nach
dem Tod ihres Vaters heirateten die beiden Söhne „einheimische
Frauen“. Der frühe Tod der Söhne stellt ihre Frauen vor eine
schwierige Entscheidung: Wo ist ihr zuhause: Dort, wo sie geboren
und aufgewachsen sind? Oder dort, von wo ihre Männer gekommen waren,
und wohin die Schwiegermutter jetzt zurückkehren will? Eine der
beiden, Ruth, entscheidet sich für letzteres, kehrt mit ihrer
Schwiegermutter Noomi zurück nach Bethlehem. Dort wird sie dankbar
dafür sein, dass man für Fremde sorgt. Sie wird noch einmal
heiraten. Ihr Enkel wird König David sein. Und das
Matthäusevangelium scheut nicht davor zurück, sie, die Fremde, im
Stammbaum Jesu zu nennen.
Donnerstag, 18. Februar 2010
Menschen der Bibel haben immer wieder
selbst die Erfahrung gemacht, Fremde zu sein. Abraham, der auf
Gottes Weisung hin aufgebrochen war in ein ihm unbekanntes Land, das
Volk Israel in Ägypten... Ja, sogar Jesus selbst, so berichtet die
Bibel, war als kleines Kind mit seinen Eltern auf der Flucht vor
Verfolgung durch König Herodes in Ägypten.
Gerade Verfolgung und Flucht, so weiß
die Bibel zu erzählen, kann aber dank Gottes Hilfe zum Segen für
alle Beteiligten werden! Hätte sich das Evangelium, die frohe
Botschaft von Jesus Christus, überhaupt so rasch ausgebreitet, wenn
nicht die Apostel durch Verfolgungen immer weiter in die antike Welt
zerstreut worden wären? Hätte Paulus, der große Apostel, seine
Reisen unermüdlich fortgesetzt, wäre er nicht immer wieder gewaltsam
von Orten seines Wirkens vertrieben worden? Wichtige Weggefährten
für ihn, das Missionarsehepaar Priska und Aquila aus Rom, wird er
überhaupt treffen, weil sie vor Verfolgung aus Rom nach Griechenland
geflohen waren. Verfolgte Christen - bis heute ein trauriges
Kapitel, das nicht verschwiegen werden darf. Aber dennoch: Wie viel
Segen geht von denen aus, die vor Verfolgung fliehen, die ihren
Glauben mitbringen in andere Regionen, auch zu uns?
Freitag, 19. Februar 2010
Die Bibel lädt jedenfalls dazu ein,
den Fremden als Gast zu sehen, offen auf ihn zuzugehen und dabei dem
Vorbild Gottes zu folgen, der den Fremden lieb hat. Es ist spannend,
dass in den Sprachen, in denen die Bibel verfasst wurde, das Wort
für den „Fremden“ gleichbedeutend ist mit dem für den „Gast“.
Gastfreundschaft und Fremdenfreundlichkeit sind also dasselbe! Im
Hebräerbrief im Neuen Testament werden wir herzlich eingeladen:
„Gastfrei zu sein vergesst nicht, denn dadurch haben einige ohne ihr
Wissen Engel beherbergt.“ (Hebr 13, 2) Ich übersetze den Text
anders: „Fremdenfreundlich zu sein vergesst nicht, denn dadurch
haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“.
Fremdenfreundlichkeit kann
überraschende Begegnungen schenken! Ich denke an das biblische
Beispiel, das Abraham gegeben hat. Zur Mittagshitze saß er am
Eingang seines Zeltes, so erzählt die Bibel. Drei fremde Männer,
überraschende Gäste stehen vor ihm. Er erweist ihnen überwältigende
herzliche Gastfreundschaft. Die Begegnung mit den drei Fremden wird
für Abraham und seine Frau Sara zum Segen werden – Gott selbst war
es, der bei ihnen zu Gast war.
Samstag, 20. Februar 2010
Die Bibel erzählt in eindrücklicher
Weise vom Schicksal Fremder, sie ruft aber auch immer wieder in
Erinnerung, dass Fremde besonderen Schutz genießen, sie nicht
ausgebeutet und unterdrückt werden dürfen. Ich finde es eine
bedenkenswerte Einrichtung in biblischer Zeit, dass eben nicht bei
der Ernte alles abgeerntet werden darf, sondern großzügig für Arme
und Fremde etwas zurückgelassen werden soll, dass diese von den
abgeernteten Feldern aufsammeln dürfen.
Jesus selbst sind Fremde am Herzen
gelegen. Ihm war es ein Anliegen, seinen Jüngerinnen und Jüngern
einzuschärfen, worauf es bei seiner Nachfolge ankommt. Jesus sprach
gerne in Gleichnissen, in Bildern. So erzählte er das Gleichnis vom
Weltgericht. Nicht die vermeintliche Frömmigkeit, nicht der Glaube –
nein, etwas ganz anderes ist diesem Gleichnis zufolge im Letzten
entscheidend dafür, das Reich Gottes zu erben! „Ich bin ein Fremder
gewesen und ihr habt mich aufgenommen“. Glaube bewahrheitet sich im
Leben! „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan
habt, das habt ihr mir getan“, Fremdenfreundlichkeit also als
Kriterium für Glaubwürdigkeit, als Prüfstein der Nachfolge Jesu? Ja,
das gilt es zu bedenken – und vor allem zu leben!
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