Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Propst Florian Huber (St. Jakob, Innsbruck)
Sonntag, 13.06.2010
Ein Sonntagnachmittag vor vielen
Jahren. Ich entschließe mich mit einigen meiner Schüler aus dem
Paulinum in Schwaz ganz spontan, den Gipfel auf der anderen
Talseite, das Stanserjoch, zu besteigen. Das ist keine große
alpinistische Herausforderung.
Wir fahren mit dem Auto zu einem
Parkplatz und gehen zuerst zu Fuß auf den Georgenberg, beliebtes
Ziel vieler Pilger und Wanderer, die den Hinweg durch den Wald
schätzen, in der wunderschönen barocken Kirche der Benediktiner von
Georgenberg-Fiecht einen besinnlichen Gedanken fassen, beten,
Gottesdienste feiern, ins Gasthaus einkehren. Wir tun das alles
nicht, sondern machen uns auf den Weg hinauf in den dahinter
liegenden Wald. Der Weg ist schmal, aber ausgetreten. Da sind wir
nicht die ersten. Aber vielleicht die ersten, die gedankenlos ohne
Wasser losmarschiert sind - im Vertrauen darauf, dass oben überall
aus dem Berg Wasser hervor sprudelt.
Der Tag ist sehr heiß und unsere
Ausschau nach Wasser erfolglos. Wir quälen uns auf den Gipfel hinauf
und auf einem anderen Weg herunter. Auf der ganzen Strecke kein
Wasser. Wasser ist unser einziges Thema.
Schlussendlich, die Zunge am Gaumen,
kommen wir halb verdurstet wieder auf dem Georgenberg an. Und da:
Ein Brunnen mit fließendem Wasser. Immer wieder, wenn ich dort
vorbeikomme, denk ich an dieses Erlebnis. Und seither höre ich das
Wort Jesu mit anderen Ohren: „Wer Durst hat, komme zu mir“(Joh 7,37)
Montag, 14.06.2010
Ich bin mit meiner Mutter auf dem
Tappeinerweg in Meran unterwegs. Da sehen wir vor uns eine kleine
Gruppe von Wanderern um etwas auf dem Boden herumstehen. Das macht
uns natürlich neugierig. Wir stellen uns dazu, schauen, was es da zu
sehen gibt. Und in der Tat: So etwas haben wir beide noch nicht
gesehen. Mindestens zwanzig bis dreißig Raupen bewegen sich
aneinandergehängt am Boden langsam vorwärts. Wir kommen miteinander
ins Gespräch. Was ist das? Wir tauschen unsere Überraschung aus.
Niemand aus der Runde hat so etwas schon einmal gesehen. Einer weiß
Bescheid: Das ist eine Prozessionsraupe.
Während unserer Unterhaltung nehme ich
am Rande wahr, dass zwei Wanderer zu uns dazukommen, hinten stehen,
zuhören, was es da gibt, denn zu sehen gibt es nichts. Unsere Rücken
versperren den Blick. Plötzlich höre ich hinter mir: „Mensch, die
Stimme kenne ich, das ist ja der Florian!“
Es ist eine Studienkollegin aus der
Zeit meines Theologiestudiums in Deutschland. Viele Jahre nicht mehr
gesehen, nichts mehr von ihr gehört. Sie hat mich an der Stimme
wiedererkannt. Das hat mich beeindruckt.
Aus den vielen Stimmen eine Stimme
heraushören! Seit diesem Erlebnis bete ich mit einem anderen
Erfahrungshintergrund: Gott, hilf mir, dass ich deine Stimme aus den
vielen Stimmen, die täglich auf mich eindringen, heraus höre.
Dienstag, 15.06.2010
Ein Kindheitserlebnis. Ich muss an die
elf Jahre alt gewesen sein. Meine Schulstadt ist mir noch fremd
gewesen. Den Weg vom Bahnhof zur Schule, den habe ich gekannt. Das
war aber schon das einzige.
So war es eine mühsame Sache, mich zum
Geschäft, in dem ich etwas kaufen sollte, durchzufragen. Ich bin
sehr froh gewesen, endlich vor dem Ladentisch zu stehen. Ich musste
warten. Meine Nervosität stieg. Ich spürte einen gewaltigen Druck in
mir, alles rasch zu erledigen. Sonst würde ich meinen Zug nach Hause
versäumen, und das hätte eine lange Wartezeit bedeutet. Die Zeit
wurde immer knapper. Mit einer normalen Gehgeschwindigkeit konnte
ich es nicht mehr schaffen.
Endlich bin ich dran gekommen, habe
bestellt, bezahlt, das Wechselgeld und den Beleg eingesteckt, bin
hinaus aus der Tür und mit vollem Tempo zum Bahnhof, ohne nach
rechts und links zu schauen. Es hat gedauert, bis ich entdeckt habe,
dass das nicht der Weg sein konnte, auf dem ich hergekommen bin. In
meinem Drang, den Zug noch zu erreichen, habe ich die Richtung
verwechselt und bin in die falsche Richtung gerannt - mit vollem
Einsatz.
An dieses Erlebnis habe ich im Laufe
meines Lebens oft gedacht. Entscheidungen zu treffen ohne die nötige
Ruhe, ohne Überlegung, ohne Übersicht, das geht nicht gut. Das Wort
Jesu bekommt vor diesem Erfahrungshintergrund einen eigenen Klang:
„Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen
habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.“ (Mt, 11,28)
Mittwoch, 16.06.2010
Die Wege in Assisi sind mir sehr
vertraut. Auch solche, die abseits liegen. Ich kenne mich dort aus.
Selbstverständlich besuche ich auf meinen Wegen durch Assisi immer
auch in der Kirche Santa Chiara das Original des Kreuzes, das
ehemals im halb zerfallenen Kirchlein San Damiano vor den Toren der
Stadt zu Franziskus gesprochen hat: „Bau meine Kirche wieder auf.“
Dieses Kreuz habe ich mir oft und gut
angeschaut: Christus, der einen hier nicht als Leidender anschaut,
sondern als der Auferstandene, der den Tod besiegt hat. Der
Querbalken des Kreuzes ist im Hintergrund der ausgestreckten Arme
Jesu so ausgebildet, dass er ein Grab darstellt, das leere Grab. Auf
dem Kreuzbild von San Damiano ist christlicher Glaube verdichtet
dargestellt, abgebildet.
Ich kenne nicht nur die Wege in
Assisi, sondern auch das Kreuzbild von San Damiano – habe ich
gedacht, solange bis ich mich einmal von der Seite her dem Kreuz
genähert habe. Bis dahin war für mich alles auf ebenes Holz, auf
ebene Fläche gemalt, ein glattes Bild. Da habe ich erstmals
entdeckt, dass das für den Kopf Christi nicht gilt. Christus neigt
sich dem Betrachtenden zu.
Franziskus hat wie selten einer den
Menschen Christus nahe gebracht. Seit meiner überraschenden
Entdeckung habe ich dieses Bild vor Augen, wenn es darum geht, von
einem Gott zu reden, der sich in Christus uns Menschen zugewandt
hat.
Donnerstag, 17.06.2010
Ignatius von Loyola ist mir wichtig
geworden. Deshalb habe ich bei einer Fahrt nach Spanien auch Orte,
die für ihn bedeutsam waren, besucht. Darunter auch das
Benediktinerkloster Montserrat.
Das Gebirge von Montserrat, zu Deutsch
„zersägter Berg“, ist ein sehr beeindruckender Anblick. In lebhafter
Erinnerung habe ich auf der Serpentinenstrasse zum Kloster die große
Zahl von geparkten Bussen. In der Klosterkirche und davor waren
Massen. Alle wollten vor die schwarze Madonna. Lange musste ich in
der Reihe anstehen. Natürlich habe ich mir auch den berühmten
Knabenchor von Montserrat angehört. Und dann habe ich etwas getan,
was die meisten der Besucherinnen und Besucher dort nicht tun: Ich
bin eine Nacht geblieben. Der Kontrast zwischen dem Event des Tages
und der Stille des Abends könnte nicht größer sein. Wir waren zu
zweit die einzigen Gäste.
Wenn ich zurückdenke, so ist es für
mich wichtig, beides erlebt zu haben: Den Andrang, das Anstehen, das
nicht allein dort sein, die vielen, durchaus unterschiedlich
motivierten Besucherinnen und Besucher - und die Stimmung des
Abends, die als so ganz anders allem Tiefe und Dichte gegeben hat.
Vor allem der Evangelist Johannes ist
es, der nicht nur von spektakulären Zeichen Jesu berichtet, sondern
für den das Wort vom Bleiben in Jesus und bei Jesus ein sehr
wichtiges ist. „Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch.“ (Joh 15,4)
Freitag, 18.06.2010
Einige Jahre bin ich über Pfingsten
immer mit einer Gruppe von Schülern nach Assisi gefahren. Dabei sind
wir immer zu Fuß zur Einsiedelei Carceri hinauf gewandert. Dort
haben wir auf einem kleinen freien Waldstück die Hl. Messe gefeiert.
Ich bin in meinem Leben viele Male
Zelebrant oder einfach Mitfeiernder bei der Hl. Messe gewesen. Ich
möchte nicht behaupten, dass ich immer und jedes Mal ganz bei der
Sache war. Nicht jede Feier ist erhebend und berührend gewesen und
intensiv und wesentlich. Manchmal hat sich etwas ereignet, was so
nicht geplant, nicht planbar und vorhersehbar gewesen ist und was
einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat. So auch eine Messe in
der Nähe der Einsiedelei Carceri.
Wir haben uns im Kreis auf dem Boden
gesetzt und zu Beginn ein Lied gesungen. Auf einmal war er da: Wie
aus dem Nichts ein großer Hund, freundlich in seinem Wesen,
überhaupt nicht Angst machend – ich habe nämlich Angst vor Hunden.
Er hat sich seinen Platz in unserem Kreis gesucht. Er war ganz ruhig
und aufmerksam, die ganze Feier hindurch. Vor dem Schlusssegen ist
er auf einmal weg gewesen und wurde nicht mehr gesehen. Da war uns
Franziskus sehr nahe, seine Liebe zu den Geschöpfen und dass
christlicher Glaube wesentlich und nicht nur so nebenbei mit der
Bewahrung der Schöpfung, mit einem verantwortlichen Umgang mit ihr
zu tun hat.
Samstag, 19.06.2010
Ein Halbwandertag war angekündigt. Ich
habe einen Alternativhalbwandertag angeboten, d.h. Aufbruch um drei
Uhr in der Früh und dann eine Fußwanderung ca. vierzig Kilometer vom
Schwazer Paulinum zur Wallfahrtskirche nach Mariastein. Ich habe
tatsächlich einige gefunden, die mit mir gehen wollten. Ich habe den
Weg vorher mit dem Fahrrad erkundet. So habe ich schon gewusst, dass
es nur wenige Passagen gibt, die fußgängerfreundlicher Waldweg sind.
Der Großteil der Strecke war asphaltiert. Dass das in die Knie geht,
das habe ich dann erlebt. Und überhaupt: Vierzig Kilometer so aus
dem Stand heraus auf einmal, das war nicht ohne. Gegen Ende hin, als
das Ziel so gar nicht nahen wollte, habe ich bei manchen die
Versuchung gespürt aufzugeben, sich einfach hinzusetzen und zu
sagen: „Bestellt mir ein Taxi, wenn ihr zu einer Telefonzelle kommt“
oder „ich warte bis mich jemand mitnimmt“. Selber bin ich dann in
Mariastein mit meinen Knieschmerzen so angekommen, dass man mir
alles hätte bieten können, ich wäre trotzdem keinen Schritt mehr
weiter gekommen und gegangen.
Es ist nicht einfach gewesen. Wir
haben einander zugeredet, nicht aufzugeben, durchzuhalten. Wir haben
niemand auf der Strecke lassen wollen, zurücklassen. Wir haben
gemeinsam ankommen wollen. „Ein Christ ist kein Christ“, hat
Augustinus einmal gesagt. Christen gibt es nur im Plural. Wir
brauchen einander.
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