Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Pfarrer Roland Werneck, Studienleiter der Evang. Akademie in
Väterkarenz
Sonntag, 26. September 2010
Noch nie haben mich so viele mir
unbekannte Menschen angesprochen, wenn ich in Wien unterwegs bin wie
in den letzten drei Monaten. Nein, ich bin nicht im Fernsehen
aufgetreten und mein Bild war auch in keiner Zeitung. Die Menschen
interessieren sich auch gar nicht für mich, wenn sie mich
ansprechen, sondern für meine 15 Monate alte Tochter, die ich in
meiner Karenz betreue. Sie wollen wissen, wie alt sie ist, wie sie
heißt oder seit wann sie gehen kann.
Für mich ist das eine irritierende
Erfahrung. Ich bin es gewohnt, in der Straßenbahn oder U-Bahn
Zeitung zu lesen, um mich herum meist schweigende, eher grantig
dreinschauende Gesichter.
Dank meiner Tochter ist das nun
anders. Sie schafft es immer wieder, in die grantigen Gesichter ein
Lächeln zu zaubern. Es sind kurze Begegnungen mit sehr
unterschiedlichen Menschen: Mit Älteren, mit Jugendlichen, mit
Geschäftsleuten, mit Migranten. Ich erlebe, dass für ein Kleinkind
das Geschlecht, das Alter oder die Hautfarbe keine Rolle spielen.
Meine Tochter freut sich über jedes Lächeln, das sie zurückbekommt.
Wir leben in einer Gesellschaft, in
der die verschiedenen Gruppen von manchen Politikern und Medien
gerne gegeneinander ausgespielt werden: Junge gegen Alte, Arbeitende
gegen Arbeitslose, Eltern gegen Kinderlose. Vielleicht können wir ja
von unseren Kindern lernen, wie es geht, Brücken zu bauen, und die
Vereinzelung zu durchbrechen. Eine kurze Begegnung, ein Lächeln, ein
paar Worte können am Anfang stehen.
Montag, 27. September 2010
Seit drei Monaten habe ich mir keinen
Wecker mehr gestellt. Mein natürlicher Wecker liegt im Kinderzimmer
und macht sich fast jeden Tag um die gleiche Zeit bemerkbar. Meine
15 Monate alte Tochter fordert sehr deutlich ein, wenn es ihrer
Meinung nach Zeit ist, Frühstück zu machen. Die Struktur meines
Tagesablaufs ist von ihren Bedürfnissen geprägt. Fehler werden
sofort bemerkt, mangelnde Aufmerksamkeit wird nicht geduldet – ob es
der Frühstücksbrei ist, der zu heiß ist, oder wenn ich vergessen
habe, Bananen einzukaufen. Mein Stundenplan richtet sich nicht nach
Bürozeiten oder vereinbarten Gesprächs- und Sitzungsterminen, so wie
ich es gewohnt bin, sondern nach den Schlaf- und Essgewohnheiten
meiner Tochter. Ich schaffe es nicht, meine e-mails regelmäßig zu
lesen und möglichst schnell zu beantworten.
„Entschleunigung“ ist ein Stichwort,
das sich bei vielen im Berufsleben gestressten Menschen zunehmend
großer Beliebtheit erfreut. Die Geschwindigkeit des Alltagslebens
nimmt insgesamt zu, die technischen Entwicklungen fördern diese
Tendenz immer mehr. Ständige Erreichbarkeit ist für viele
selbstverständlich. So wächst die Sehnsucht, dieser Hektik zu
entfliehen.
Ich erlebe den Umgang mit Kindern auch
in dieser Hinsicht als sehr heilsam. Die Wichtigkeiten des Lebens
verschieben sich. Ich lerne, dass es nicht darum geht, möglichst
viel an einem Tag unterzubringen, sondern jede Stunde des Tages als
Geschenk anzunehmen.
Dienstag, 28. September 2010
Ich kenne viele Großväter, die sich in
ihrer Pension bewusst viel Zeit für ihre Enkelkinder nehmen. Sie
sagen: Jetzt möchte ich das nachholen, was ich als Vater versäumt
habe.
Die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie ist nicht nur ein Problem für Frauen, sondern eben auch für
viele Männer.
Meine persönliche Erfahrung ist, dass
es allen Beteiligten gut tut, wenn sich beide Eltern Zeit für ihre
Kinder nehmen können: Den Vätern, den Müttern und vor allem den
Kindern. Wann, wenn nicht in den ersten Lebensjahren ist die beste
Zeit, um eine tragfähige Beziehung zu den Kindern wachsen zu lassen?
Ich bin sehr froh und dankbar, dass ich durch die Väterkarenz die
Möglichkeit habe, meine Tochter in ihrem zweiten Lebensjahr intensiv
zu begleiten. Ich habe das Glück, dass mein Arbeitgeber dafür großes
Verständnis hat. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass der Wunsch, in
Karenz zu gehen, unter Vätern weit verbreitet ist, aber leider gibt
es immer noch sehr viele Arbeitgeber, die diesen Wunsch nicht
akzeptieren wollen. So ist die Zahl der Karenzväter in Österreich im
Vergleich zu anderen europäischen Ländern immer noch relativ klein.
In der Bibel ist das Bild des Vaters
durchwegs positiv besetzt. Der Vater ist der Liebende, der
Großzügige, der Verzeihende. Viele Menschen in unserer Gesellschaft
können mit der Bibel schon deshalb wenig anfangen, weil sie diese
Vatererfahrung nie gemacht haben. Ich wünsche unseren Kindern Väter,
die lieben, die großzügig sind, die verzeihen können. Vielleicht ist
die Möglichkeit der Väterkarenz ein Schritt in diese Richtung.
Mittwoch, 29. September 2010
In unserer Gesellschaft zählt die
Geduld zu den vornehmen Tugenden. Wir lernen im Lauf unseres Lebens
alle das Warten – im ärztlichen Wartezimmer, auf Bahnhöfen,
Flughäfen, auf Ämtern oder in der Telefonschleife. Warten erfordert
Geduld. Weil ich ein lernwilliger Mensch bin und auch schon ziemlich
viel gewartet habe, bin ich auch grundsätzlich sehr geduldig. Für
ungeduldige Menschen habe ich nicht viel Verständnis, sie irritieren
mich, ich finde sie manchmal fast unanständig.
Seit einigen Monaten lebe ich mit
einem extrem ungeduldigen Menschen zusammen. Meine Tochter, jetzt 15
Monate alt, hält nichts von der vornehmen Tugend Geduld. Wenn sie
Hunger hat, will sie essen, und das sofort. Alle meine
Erklärungsversuche, dass z.B. Kartoffeln eine gewisse Kochzeit
benötigen, um essbar zu sein, scheitern kläglich.
In der Bibel zählt die Geduld nicht zu
den erstrebenswerten Eigenschaften. Jesus und die Apostel
vertrösteten niemanden und ließen sich nicht vertrösten. Sie
predigten den Menschen, dass das Reich Gottes nahe ist und sie
deshalb ihr Leben ändern sollen, nicht irgendwann einmal, sondern
jetzt, sofort. In der Bibel gibt es so etwas wie eine „heilige
Ungeduld“: Die Hungrigen werden gespeist, die Kranken geheilt, die
Trauernden getröstet – alles ohne Wartezeit.
Vielleicht ist meine ungeduldige
Tochter näher an der biblischen Botschaft als ich, der Geduldige.
Donnerstag, 30. September 2010
Vor ein paar Tagen hat meine 15 Monate
alte Tochter ein neues Zauberwort entdeckt: Es heißt „Nein“. Sie
artikuliert es im Brustton der Überzeugung und schüttelt dabei ihren
Kopf heftig hin und her. Wenn ich sie frage, ob sie müde ist oder ob
sie aus der Badewanne aussteigen will, ist die Antwort meist ein
überzeugtes „Nein“.
Noch hält sich der Widerspruch meiner
Tochter in Grenzen, noch schaffe ich es, mit ihrem „Nein“
einigermaßen souverän umzugehen.
Das überzeugte „Nein“ meiner Tochter
führt mich aber zu den grundsätzlichen Fragen, die es zwischen
Generationen immer gibt. Was ist das für eine Welt, die wir unseren
Kindern überlassen? Wie wird diese Welt aussehen, wenn meine Tochter
erwachsen ist? Wird sie in einem Umfeld leben können, in dem
Konflikte ohne zerstörerische Gewalt gelöst werden? Wird es eine
Welt sein, in der die Verteilung der Reichtümer gerechter ist als
heute? Und wird die Zerstörung der Umwelt und der Klimawandel ihre
Lebensqualität beeinträchtigen?
Werden unsere Kinder und Enkelkinder
einmal „Ja“ sagen können zu dieser Welt, die wir ihnen hinterlassen,
oder wird es ein „Nein“ mit Kopfschütteln sein?
Sagen wir nicht, wir haben keinen
Einfluss auf diese Antwort. Welche Welt wir unseren Kindern
hinterlassen, liegt an uns allen selbst. Ich freue mich darauf, wenn
meine Tochter das „Ja“ sagen lernt. Ich wünsche mir, dass sie später
einmal „Ja“ sagen kann zu dieser Welt, in die sie geboren wurde.
Freitag, 1. Oktober 2010
Letzte Woche durfte ich beim Frühstück
einen Vorgeschmack des Himmels erleben. Während ich meine 15 Monate
alte Tochter mit ihrem Brei fütterte, nahm sie einen zweiten Löffel,
holte damit etwas Brei aus der Schüssel und führte ihn zu meinem
Mund.
In einer alten jüdischen Legende heißt
es, dass im Himmel die Menschen einander gegenseitig füttern werden,
weil es dort nur Löffel mit meterlangen Stielen gibt.
Was ist der Mensch? Ist er von Geburt
an ein soziales Wesen, das liebevoll auf seine Umgebung schaut, oder
ist der Mensch des Menschen Wolf, wie es ein Philosoph einmal
ausgedrückt hat?
In meiner Karenzzeit verbringe ich
neuerdings viel Zeit auf Spielplätzen. Für manche Kinder ist es kein
Problem, ihre Schaufeln und Kübeln mit anderen zu teilen, andere
achten sehr darauf, dass ihnen niemand etwas wegnimmt. Als
Beobachter habe ich manchmal den Eindruck, dass es vor allem die
Väter und Mütter sind, die nervös darauf achten, dass ihre Kinder
nur mit den eigenen Sachen spielen.
Ob unsere Kinder sozial und
hilfsbereit werden oder Egoisten, die nur auf das Eigene schauen -
als Vater oder Mutter habe ich das nicht alleine in der Hand, aber
ich bin meinem Kind ein erstes Vorbild, das es prägt.
Die Bibel beantwortet die Frage „Was
ist der Mensch?“ in einem Psalm so: „Du hast ihn wenig niedriger
gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt“.
Wenn wir unseren Kindern so begegnen, wird der Himmel einmal über
uns allen aufgehen.
Samstag, 2. Oktober 2010
Die zahlreichen Erntedankfeste im
Herbst können ein guter Anstoß sein, darüber nachzudenken, wofür wir
in unserem Leben persönlich dankbar sind. Ich bin dankbar dafür,
dass ich durch meine 15 Monate alte Tochter gerade die Möglichkeit
habe, eine neue Welt kennen zu lernen. Nach mehr als 20 Jahren
Berufsleben in Pfarrgemeinde, Schule und Erwachsenenbildung bilde
ich mich in meiner Karenzzeit neuerdings auf Kinderspielplätzen,
beim täglichen Kochen und in anderen Haushaltsdingen fort.
Meine Gespräche drehen sich im Moment
hauptsächlich nicht um Studientage oder Podiumsdiskussionen, sondern
um gesunde Kinderernährung, Schlafgewohnheiten von Kleinkindern und
Bekleidungsfragen.
Ich bin dankbar dafür, mit meiner
Tochter in einer wichtigen Phase ihrer Entwicklung viel Zeit
verbringen zu dürfen. Ich freue mich über ihre Fortschritte beim
Gehen und Sprechen. Während sie ihre Welt entdeckt, sich über den
Löwenzahn auf der Wiese genau so freuen kann wie über die vom Baum
gefallenen Kastanien, entdecke ich mit ihr die Welt neu. Ich lerne,
über die bunt gefärbten Blätter zu staunen, über die üppigen
Weintrauben, die Schäfchenwolken am Himmel. Erntedank bekommt mit
Kindern eine neue Dimension. Sie können uns lehren, dass das
scheinbar Selbstverständliche nicht selbstverständlich ist, dass
unsere Welt voller wunderbarer Geheimnisse ist.
In einem biblischen Psalm lese ich:
„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes
getan hat.“
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