Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Dr. Angelika Pressler, Psychotherapeutin und
Supervisorin, Salzburg
Sonntag 3. Oktober 2010
Mögen Sie auch das Farbenspiel, wie es die Herbstsonne
hervorzaubert? Ganz so als wollte sie uns vor den langen, dunklen
Wintertagen noch einmal an die Buntheit und Vielfalt des Lebens
erinnern.
Ich ging neulich spazieren; es war ein wunderschöner Tag. Doch trotz
der spätsommerlichen Wärme war der Herbst schon zu riechen und zu
schauen: Die Klarheit der Luft, die beginnende Buntheit in den
Bäumen, das schräg einfallende Sonnenlicht. Vor allem die Farben
hatten es mir angetan. Und ich dachte mir: Wie seltsam wäre es, wenn
es keine Farben gäbe. Wenn alles grau wäre. Oder schwarz weiß.
Eintönig und langweilig wäre das Leben.
Und dann denke ich mir: Komisch, die Farben des
Herbstes erfüllen unser Auge und unser Herz; aber im
gesellschaftlichen Zusammenleben erschreckt uns die Buntheit, machen
die anders Färbigen Angst, erzeugen Unsicherheit und Abwehr.So lieb
und vertraut uns die Herbstfarben sind, so fremd und anders scheinen
die Menschenfarben.
Ich wünsche Ihnen für den heutigen Tag
farbenfrohe Augenblicke, bunte Begegnungen und offene Augen für die
Fremdheit des anderen Menschen.
Montag, 4. Oktober 2010
Haben Sie heute nach dem Aufstehen auch überlegt: Was ziehe ich an?
Welche Farben passen zu meiner Stimmung? Gerade im Herbst spielen ja
Farben eine große Rolle, und ich meine damit wahrlich nicht die neue
Herbst- und Winterkollektion mit so lustigen Bezeichnungen wie „
wintertürkis“ oder „kürbissmaragd“.
Nein, ich denke, in dieser Jahreszeit steigt unser Bedürfnis nach
Farbigkeit und Licht. Gerade weil die Morgendämmerung später kommt
und der Abend früher herein bricht. Da tut es gut, den reichhaltigen
Farbtopf der Natur zu bestaunen, vielleicht etwas davon mit nach
Hause zu nehmen: Gelbe Ahornblätter, braun glänzende Kastanien, die
orange-roten Früchte der Heckenrose, die – als Juckpulver verwendet,
da und dort noch „Hedschibetsch“ heißen.
Ja, Farbe ins Leben bringen! Dass es uns wieder juckt! Darauf
achten, was mein Leben bunt macht – hinaus grasen aus den eintönigen
Grünanlagen der Gewohnheit, die an uns haftet wie eine Klette in der
dunstigen Sommerhitze. Klare, farbige Buntheit, dafür ist mir der
Herbst ein Wegweiser und dafür mag ich ihn sehr.
Dienstag, 5. Oktober 2010
Gerne bin ich heute wieder – quasi von Mund zu Ohr – bei Ihnen zu
Gast, um in aller Frühe abermals über die Farbenpallette der
Herbsttage zu staunen. In heimlichen Momenten denke ich mir: Gott
muss eine große Malerin sein, oder überhaupt ein genialer Künstler,
weil so viel Unterschiedliches, Buntes und Vielfältiges auf dieser
Welt da ist. Die orange-roten Laubwälder im Salzburger Flachgau, die
gelben Lärchenwälder im Lungau, die rot-gelben Weinrieden in der
Wachau und im Burgenland.
Aber da gibt es auch Farben, die sich beißen. Rot und blau ist
Bauernsau – das war ein Spruch in meiner Kindheit. Der gilt heute
schon längst nicht mehr. Die Freiheit der Farbkombinationen ist
nahezu unendlich geworden. Allerdings nur in der Kleidermode und in
der Innenarchitektur.
Im
Zwischenmenschlichen – da ist die Farbenlehre eng. Alles, was den
erlernten Sehgewohnheiten wiederspricht, wird aussortiert, weil es
fremd ist. Du trägst nicht unsere Farbe – deshalb gehörst du nicht
zu uns!
Nojo, ob andere, fremde Farben nicht doch auch bereichern können? –
Ich wünsche Ihnen diese Erfahrung für den heutigen Tag.
Mittwoch, 6. Oktober 2010
Nicht nur Farben birgt der Herbst, er ist auch
die Zeit für Frucht-Einbringen, Ernten, aus-der-Fülle-schöpfen,
Bilanz-Ziehen.
In
einem Gedicht von Rainer Maria Rilke heißt es:
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Und obwohl ein herbstlich frostiger Morgen noch
in meinen Augen klebt, mag ich mich fragen: In meinem Leben – welche
Früchte wird es geben? Kann ich vielleicht heute, am 6. Oktober
2010, schon auf gute Ernte hoffen? Zum Beispiel rückblickend auf das
vergangene Arbeitsjahr? Da ist doch einiges sehr gut gelaufen, da
waren doch diese Glücksmomente, diese Farbtupfer.
Und ich will mich auch fragen: Wo brauche ich
noch mindestens zwei südlichere Tage – Wärme, Hitze, Licht,
Unbeschwertheit, Freiheit? Wo brauchen Sie noch zwei südlichere
Tage?
Und ganz besonders gefällt mir bei Rilke der Vers
… „und jage die letzte Süße in den schweren Wein“.
Das ist ein wunderschönes Bild für das Älter
werden. Wau! Da steht mir ja sehr viel Schönes bevor!
Donnerstag, 7. Oktober 2010
Im
herbstlichen Farbtiegel bin ich neulich in Gelb-Orange eingetaucht.
Ein Spaziergang in den Gärten von Schloss Hellbrunn in Salzburg, und
schwupp – weg war ich, geblendet vom dunkel gelb-orangen
Sonnenlicht, aufgesogen von den schwarzen Schatten. Letztere in Form
von fetzig dunklen Wolken, die über den Himmel fegten. Da ist mir
ein altes Lied vom österreichischen Barden Wilfried in den Sinn
gekommen, vielleicht kennen Sie es ja auch:
Du
hast mir mein Orange verpatzt.
Du hast mir einen schwarzen Fleck gekratzt
In mein oranges Lebensbild.
Du hast aus mir einen Schrei gemacht,
Du hast meinen Glauben in den Wind gelacht,
Hast ihn zerdrückt wie nassen Schnee.
Auch das ist Herbst: Er erinnert an Abschied,
Verlust, Trennung; und die Herbststürme gemahnen an unseren eigenen
Zorn, weil das Unwägbare, Schwarze scheinbar unser Lebensbild
zerstört.
Nojo, und ein Stück Selbstmitleid ist bei
Wilfried auch dabei. Und ich denke – das ist mir und Ihnen nicht
fremd.
Doch apropos mein „oranges Lebensbild“: Was ist
Ihr Bild vom Leben, von einem geglückten, erfüllten Leben?
Freitag, 8. Oktober 2010
Heute muss ich um Ihr Nachsehen bitten. Während ich nämlich in
dieser Woche mit Ihnen über die Bedeutung der herbstlichen Buntheit
sinniert habe, näherte sich ein heftiges Wettertief mit kalten
Temperaturen, Regen und Nebel. Nix bunt. Nix lebendig. Nix
Erntedank. Einfach nur grauslich. Auch das ist Herbst.
Und da fallen mir Geschichten von Menschen ein,
die in meine psychotherapeutische Praxis gekommen sind. Oft sind es
Geschichten, die sprachlos machen; verschluckte Trauer, Tränen und
Einsamkeit, scheinbar aussichtslose, immer wiederkehrende
Erfahrungen von Scheitern, unterdrückter Wut, Hass. Manche dieser
Lebens- und Leidgeschichten nehmen mir den Atem. Sie sind wie die
unwirtliche Seite des Herbstes.
Aber was mich staunen lässt: Wie viele dieser
Menschen immer wieder die Kraft hatten aufzustehen. Wie sie es
schaffen, auch bunte Farbkleckse in ihrem Leben wahrzunehmen, die
die fremden, dunklen Farben der Seele leise durchbrechen.
Vielleicht müssen wir manchmal in den Winkel der schwarzen
Farblosigkeit unserer Seele eintauchen, um das Farben Sehen wieder
neu lernen zu können.
Samstag, 9. Oktober 2010
Wenn Sie in der Früh beim Kaffee sitzen, und ich
nehme jetzt an, Sie sind schon lange verheiratet, oder leben in
einer Lebensgemeinschaft – wenn Sie also in aller Früh ihr wertes
Gegenüber anschauen, passiert es da nicht manchmal, dass Sie sich
fragen: Meine Güte, wer ist der Fremde da neben mir? Und es ist, als
ob Sie Farben erblicken, die Sie noch nie gesehen haben, für die sie
auch kein Wort haben. Einfach fremd, so vollkommen anders. Und dann
fassen Sie sich wieder und sehen ein vertrautes, lieb gewordenes
Gesicht.
Nun, die herbstliche Natur ist voll von Farben, aber am buntesten
ist wohl der Mensch selber. Ein einziges Farbenspiel. Da kann es
schon vorkommen, dass eine Farbe dabei ist, die ich nicht mag. Ist
es nicht so, dass mein Gegenüber, ein scheinbar Vertrauter, immer
auch der ganz Andere ist, ein Fremder? Das macht Angst. Und deshalb
sehnen wir uns oft nach Einfärbigkeit. Am besten sollten alle weiß
sein, oder zuckerlrosa.
Wie viel Regenbogen ertragen wir Menschen? – Aber der Regenbogen ist
wie eine Brücke, die uns behutsam von einer Farbe in die andere
gleiten lässt…
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