Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
von Johann Pock, Professor für Pastoraltheologie in Wien
Sonntag, 31.10.2010 – Der Herbst als Bild des Lebens
Ich liebe stimmungsvolle Herbsttage! Das Weinlaub, das zwischen gelb
und rot glänzt; das letzte Grün auf den Wiesen; Nebelschwaden, die
aus Gräben, Feldern und Wäldern aufsteigen. Und gleichzeitig stimmen
mich solche Tage auch traurig – weil sie den Winterschlaf der Natur
anzeigen; weil die Tage wieder so kurz und die Nächte so lang sind.
Gerade am Tag vor Allerheiligen ist die Natur für mich ein schönes
Bild für das Leben: Das Leben besteht aus Werden und Vergehen, aus
bunten und grauen Tagen, aus frischen und müden Momenten. Und auch
der Herbst des Lebens bietet bei aller möglichen Beschwernis noch
viel Buntes.
So mancher blickt vielleicht mit Wehmut zurück auf Frühling und
Sommer des Lebens; auf ergriffene und vergebene Chancen.
Dietrich Bonhöffer sagt dazu: „Es gibt ein erfülltes Leben trotz
vieler unerfüllter Wünsche.“ Das ist für mich sehr tröstlich. Denn
als Christ glaube ich, dass mit dem Herbst und dem Winter des
Lebens, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Wie die Natur im
Frühjahr wieder erblüht, so gibt es auch für uns ein neues Leben.
Diese Gewissheit nimmt mir die Traurigkeit und lässt mich
zuversichtlich die Wunder des Herbstes genießen.
Montag 1.11.2010 – Allerheiligen – Heilige des Alltags
An welche Heiligen denken Sie heute zu Allerheiligen? An Ihren
Namenspatron? An Mutter Teresa oder den Heiligen Franz von Assisi?
Oder denken Sie an Menschen, die für Sie Heilige waren oder sind?
Jeden Tag im Jahr verehren wir besondere, heiliggesprochene
Menschen. Aber heute denke ich an die vielen Heiligen des Alltags,
die ein Stück Himmel auf die Erde gebracht haben: Durch ihr Lachen;
durch ihr Vorbild; oder durch ihre Lebensweisheiten.
Allerheiligen verbinden viele traditionell mit dem Gang auf den
Friedhof. Wie viele heilige Männer und Frauen da wohl liegen mögen?
So traurig es ist, am Grab von lieben Menschen zu stehen, so sehr
zeigt es mir zugleich, wie wichtig es ist, das Leben mit seinen
Chancen ernst zu nehmen. Heilige sind für mich Menschen, die solche
Chancen genützt haben; die die Welt ein klein wenig besser gemacht
haben.
So finde ich auf dem Friedhof meine Großmutter mit ihrem einfachen,
selbstverständlichen Glauben. Ich finde meinen Vater, der sich für
seine Familie aufgeopfert hat. Und ich finde Nachbarn und Freunde,
die mich ein Stück meines Lebens begleitet haben. Sie alle sind für
mich Heilige des Alltags.
Dienstag 2.11.2010 – Allerseelen – Verstorbenengedächtnis als Signal
zum Leben
Mit Allerseelen verbinden wir das Gedächtnis an unsere Verstorbenen.
Als Kind hatte ich dabei immer das Bild vom Jüngsten Gericht aus
meiner Heimatkirche vor Augen: Wie die Menschen im Feuer sitzen und
der Teufel mit seinen Krallen die Verdammten in die Hölle zieht.
Mittlerweile weiß ich, dass die Rede vom „Fegefeuer“ anders zu
verstehen ist: Die Seelen werden von Gott gereinigt von allem, was
im Leben falsch gelaufen ist. Gott vollendet an den Verstorbenen das
Unvollendete.
Daher gefällt mir auch die Einstellung von John Henry Newman zum
Sterben, wenn er sagt: „Fürchte dich nicht, dass dein Leben enden
wird, fürchte vielmehr, dass es nie beginnen wird.“
Christliche Botschaft hat im Zentrum nicht den Tod, sondern das
Leben: Das Leben hier und jetzt – und das Leben, das uns nach dem
Tod verheißen ist. Allerseelen ist für mich ein Anstoß, neu auf mein
eigenes Leben zu schauen und die mir geschenkte Lebenszeit gut zu
nützen. Und ich tue das nicht aus Angst vor dem möglichen Ende,
sondern aus Freude über jeden Tag, den das Leben mir gibt.
Oder wie es der Philosoph Sören Kierkegaard gesagt hat: "Erinnere
dich an die Vergangenheit, träume von der Zukunft, aber lebe heute!“
Mittwoch 3.11.2010 – Seelsorge als Hilfe zum „Leben in Fülle“
„Ich will, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben!“ Dieses
Wort aus dem Johannesevangelium ist für mich eine der wichtigsten
Aussagen Jesu. Mit unserer katholischen Kirche verbinden viele
Menschen neben den schönen Gottesdiensten vor allem auch viele
Gebote und Verbote, die das Leben regeln.
Dabei wird leicht übersehen, dass alle Regeln nur dem Leben der
Menschen dienen sollen. Das katholische Kirchenrecht endet mit dem
Satz: Das Heil des Menschen ist das oberste Gesetz. Im Christentum
geht es also um das Leben – mit allen Sonnen- und Schattenseiten;
mit Höhepunkten und Abgründen.
Dieses Leben in Fülle zu ermöglichen – das ist der Sinn von
Seelsorge. Wenn ich auf der Universität junge Frauen und Männer zu
Seelsorgerinnen und Seelsorgern ausbilde, dann versuche ich sie
dafür zu begeistern, Menschen zu einem gelingenden Leben zu
verhelfen. Und das heißt für mich konkret, dass die Freuden und
Hoffnungen, die Sorgen und Nöte der Menschen an erster Stelle
stehen.
Was für jeden einzelnen zu einem Leben in Fülle dazugehört, mag ganz
unterschiedlich sein. Christlich gehört dazu jedenfalls die
Gewissheit, dass dieses Leben nicht im Nichts endet, sondern in der
Fülle, die wir Gott nennen.
Donnerstag 4.11.2010 – Ein Kind als Wunder des Lebens
Eine der schönsten Aufgaben für mich als Priester ist eine
Kindertaufe. Ein zartes, beginnendes Leben in den Händen zu halten
und diesem Kind und seinen Eltern sagen zu können: Dein Leben ist
geborgen in der Hand Gottes – das bewegt mich jedes Mal. In dem
kleinen Kind sind alle Chancen des Lebens vorhanden, aber auch alle
Gefährdungen. Als Eltern, als Erzieher, als Seelsorger begleiten wir
dieses Leben – aber vom ersten Atemzug an ist es ein selbständiger
Mensch mit einer ganz eigenen Zukunft.
So bin ich jedes Mal sehr demütig vor dem Wunder des Lebens – und
auch voller Hoffnungen und Sorgen: Welches Leben wird auf dieses
Kind warten? Gebe ich ihm mit meinem Umgang mit der Schöpfung noch
einen guten Lebensraum? Wird es einen Zugang zum Glauben finden?
Ein kleines Kind zeigt mir, wie großartig das Leben ist. Es lehrt
mich Verantwortung für das Leben – und eine große Gelassenheit: Dass
es zwar auf mich ankommt als Begleiter, aber dass das Kind sein
Leben leben wird.
Freitag, 5.11.2010 – Jesus als Weg, Wahrheit und Leben
Wie kann mein Leben gelingen? Diese Frage stellen sich viele
Menschen – und finden ganz unterschiedliche Antworten darauf.
Für manche gehört dazu eine erfüllende Partnerschaft und Kinder.
Andere finden die Erfüllung in ihrem Beruf, im Sport oder auch in
einem ehrenamtlichen Dienst. Wieder andere sagen: Hauptsache ich bin
gesund.
Es gibt kein Patentrezept für ein gelingendes Leben – denn die Wege
dahin sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Und doch gibt
Jesus selbst einen Hinweis, wenn er sagt: „Ich bin der Weg, die
Wahrheit und das Leben!“
An Jesu Beispiel lerne ich, dass das Leben nicht unbedingt
konfliktfrei oder schmerzfrei ist. Sein Weg ist es, sich auf andere
Menschen einzulassen; den Armen zu helfen; sich nicht zu schnell
anzupassen und sich gegen jede Ungerechtigkeit aufzulehnen. Seine
Wahrheit besteht nicht in Lehrsätzen, sondern in seinem unbedingten
Vertrauen auf Gott. Und sein Leben ist ein Leben, das nicht zuerst
auf sich selbst schaut, sondern für die anderen da ist.
Gar keine schlechte Alternative für ein gelingendes Leben, finde
ich.
Samstag, 6.11.2010 – Die Melodie des Lebens
Jedes Leben ist einzigartig und wertvoll. In den Mühlen des Alltags
vergisst man aber sehr leicht, dieses Leben zu schätzen. So vieles
ist zu tun; so vieles belastet mich – und gerade an grauen
Novembertagen besteht die Gefahr, trübselig zu werden.
Von Rolf Zerfaß, einem Pastoraltheologen, stammt das Wort: „Ein
Freund ist ein Mensch, der dich an die Melodie deines Lebens
erinnert, wenn du in der Gefahr bist, sie zu vergessen.“
Das heißt, dass das Leben aus einer Fülle von Tönen besteht: Auf-
und absteigend; wohlklingend – und manchmal auch etwas schräg.
Manche Töne klingen vielleicht klar – und manche eher dumpf. Aber
zwischen all diesen Tönen in Dur oder Moll, fröhlich oder klagend –
da gibt es einen Refrain, eine Melodie, die sich durchzieht – die
Melodie meines Lebens.
Christliche Seelsorge verstehe ich dahingehend, Menschen aufmerksam
zu machen auf ihre eigene Lebensmelodie. Und manchmal gelingt es,
dass jemand dabei entdeckt: Die eigene Melodie wird unterstützt von
anderen Melodien, von Menschen, die das eigene Leben begleiten – vor
allem aber von der Melodie Gottes. Denn nur im Zusammenklang aller
dieser Melodien entsteht das Musikstück, das sich Leben nennt.
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