Morgengedanken

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ORF Regionalradios

 

 

 

„Weisheit aus der Wüste“ - Die Botschaft der frühen Mönche

von Pater Bernhard Eckerstorfer, Stift Kremsmünster

 

 

Sonntag, 14. November 2010

Mit 18 Jahren kaufte ich mir auf einem Flohmarkt einen Band mit Weisheiten der so genannten Wüstenväter. Anfangs konnte ich mit den Geschichten und knappen Sinnsprüchen wenig anfangen. Doch allmählich fing ich Feuer. Ich merkte, dass mir die rauen, aber geisterfüllten Gestalten des 4. und 5. Jahrhunderts näher sind als ich gedacht hatte. In den letzten 20 Jahren sind sie mir dann ans Herz gewachsen.

Da wird zum Beispiel erzählt, wie jemand den Mönch Paision fragt: „Was soll ich mit meiner Seele tun? Sie ist gefühllos und fürchtet Gott nicht.“ Ich stelle mir vor, wie einer mit sich selbst tief unglücklich ist und bei einem Einsiedler Hilfe sucht. Sein Inneres ist leblos, er nimmt nichts mehr wahr, auch Gott nicht. Aber er macht sich auf zu einem anderen, und so kann ihm geholfen werden. Was wird ihm aber Paision antworten?

Der lässt ihn nicht allein in seiner Not. Er gibt ihm aber nicht fordernde Ratschläge oder gute Wünsche. Vielmehr nimmt er den Druck von ihm und schickt ihn auf den Weg mit den Worten: „Geh, und schließ dich einem gottesfürchtigen Menschen an. Indem du dich ihm anvertraust, lehrt er dich, das Leben neu zu entdecken und Gott zu fürchten.“

Das Beispiel eines anderen kann mir helfen zu sehen, wie Leben gelingt. In diesem Sinne sind die frühen Mönche, die vor 1600 Jahren lebten, auch für mich zu Lehrmeistern geworden. (AP 639)

 

 

Montag, 15. November 2010

Die frühen Mönche in den Wüsten des Orients beherrschten die Kunst, mit wenigen Worten viel zu sagen. Vielleicht sind sie auch deshalb heute wieder so gefragt, weil bei uns alles so wortreich und undurchschaubar geworden ist.

Ein schlichter Satz eines Wüstenvaters beeindruckt mich ganz besonders: „Baue nicht auf deine eigene Gerechtigkeit; was geschehen ist, ist geschehen; und übe Enthaltsamkeit von der Zunge und vom Bauch.“ (AP 6) Aus der dreifachen Anleitung spricht der große Erfahrungsschatz der frühen Mönche.

„Nicht auf die eigene Gerechtigkeit bauen.“ Das bedeutet: Nimm dich zurück, vergleiche dich nicht mit anderen, hasche nicht nach ihrem Lob; das endgültige Heil kann dir nur Gott geben. So wirst du entlastet: Du musst nicht alles selber leisten.

Dann: „Lass dich nicht etwas gereuen, was bereits geschehen ist.“ Wenn wir ständig den missglückten Dingen und verpassten Gelegenheiten nachtrauern, lähmen wir uns selbst. In der Gegenwart leben bedeutet, sich von der Vergangenheit befreien zu können, weil wir sie der Barmherzigkeit Gottes überlassen.

Zum richtigen Umgang mit dem eigenen Ich und seinem Denken gehört schließlich der Leib: „Übe Enthaltsamkeit von der Zunge und vom Bauch.“ Schweigen können und Maß halten befreit den Menschen. Wie könnte sonst die Seele rein und der Geist wach bleiben?

 

 

Dienstag, 16. November 2010

Die Wüstenväter stellen Gott über alles und richten sich radikal auf ihn hin aus. So sagt Altvater Isidor: „Von allen Einstellungen ist besonders diese gefährlich: Seinem Herzen zu folgen, das heißt, seinem eigenen Denken und nicht dem Gesetz Gottes.“ (AP 365)

Es war eine breite Bewegung, als im 4. und 5. Jahrhundert zehntausende Menschen von den Dörfern und Städten des Niltales in die Wüsten zogen. Sie trennten sich von allem, was für sie früher Bedeutung hatte: Beziehungen, Besitz, Status. Ihr neues Leben in der Einöde hat etwas Unbedingtes und Kompromissloses, das uns beeindrucken mag.

Allerdings, unserem heutigen Freiheitsdrang entspricht das nur eingeschränkt. Dennoch, glaube ich, haben die frühen Mönche Ägyptens uns viel zu sagen: Freiheit besteht für sie nicht nur in der Unabhängigkeit von äußerlichen Bindungen. Vor allem wollten sie sich von den eigenen Einbildungen lösen.

Von daher bleiben sie unserer Ich-zentrierten Zeit fremd. Ihre Botschaft ist für uns heute eine Herausforderung: Äußere Freiheit kann zu subtilen Zwängen führen, denen wir oft unbewusst folgen. Deshalb wollen die Mönche nicht dem Eigenwillen, sondern den Geboten Gottes folgen. Sie wussten: Nur wer über sich hinauswächst und von einer anderen Macht ergriffen wird, ist wirklich frei.

 

 

Mittwoch, 17. November 2010

Ein Mönch in der Wüste Ägyptens wurde gefragt: „Was muss ich tun, um gerettet zu werden?“ Der Altvater war gerade dabei, ein Seil zu flechten. Ohne von seiner Arbeit aufzublicken, antwortete er: „Hier, du siehst es.“ (N 91)

Wir können uns ausmalen, wie überrascht der Besucher war. Stundenlang ist er wohl durch die Wüste zum Einsiedler gegangen. Wahrscheinlich hatte er einen spirituellen Rat erwartet, einen Sinnspruch, der großartig klingt und mit dem er sogar angeben hätte können. Doch der Altvater hatte erkannt, was der Besucher braucht: Nicht große geistliche Übungen oder asketische Leistungen helfen ihm weiter, nicht eine radikale Änderung des Lebens, sondern ein neuer Blick für den ganz normalen Alltag.

Ich kann mir vorstellen, dass der Besucher anfangs enttäuscht war über diese Antwort. Aber bei der Heimkehr durch die Wüste ging ihm ihre Weisheit auf. Deshalb erzählte er diese Begebenheit weiter. Er hatte gelernt, seinen Alltag mit anderen Augen zu sehen und in den ganz einfachen Beschäftigungen neuen Sinn zu entdecken. Und wenn er wieder einmal niedergeschlagen war oder davonlaufen wollte, sah er den Mönch vor sich, wie er auf der Matte sitzt und arbeitet. Und wie er nicht einmal aufblickt bei der Frage „Was muss ich tun, um heil zu werden?“, sondern weiter arbeitet und murmelt: „Hier, du siehst es.“

Vielleicht brauchen auch wir heute einen neuen Blick für den ganz normalen Alltag.

 

 

Donnerstag, 18. November 2010

Wie können wir Jesu Lehre heute umsetzen? Das fragten sich schon die frühen Mönche. Und sie kamen auf originelle Ideen, wie der tiefere Sinn eines Bibelverses verstanden werden kann. Jesus sagt zum Beispiel: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für den Nächsten hingibt. (Joh 15, 13) Wir können einwenden: Ich habe wohl kaum die Gelegenheit, mein Leben für jemanden anderen so aufs Spiel zu setzen. Auch für die Mönche in der Wüste war das nicht im wörtlichen Sinn verlangt; der christliche Glaube war mittlerweile nicht mehr verboten, Märtyrer gehörten der Vergangenheit an. Doch sie wollten ein anderes Martyrium, ein echtes Zeugnis ihres Glaubens geben.

Und so findet Altvater Poimen in Jesu Wort einen tieferen Sinn, der auch für uns heute aktuell ist. Sein Leben für den Nächsten hingeben bedeutet: Jemand beleidigt dich und du kämpfst darum, ihn nicht auch zu beleidigen. Oder jemand übervorteilt dich, und du erträgst es und zahlst es ihm nicht heim. Poimen sagt: Dann hast du dein Leben für den Nächsten hingegeben.

 

 

Freitag, 19. November 2010

„Denk an deinen Todestag!“ – „Halte dir den Tod täglich vor Augen, dann wirst du nicht sündigen.“ – „Altvater Arsenios hatte seine Sterbestunde immer präsent.“ Tod und Sterben nehmen für die frühen Mönche einen wichtigen Stellenwert ein.

Das liegt heute nicht gerade im Trend. Wir verdrängen den Tod, gerade den eigenen. Geht es nicht in unserer Welt vor allem um Fortschritt und Steigerung? Wir sträuben uns, wenn uns von außen Grenzen gesetzt sind.

Die Wüstenväter waren dagegen überzeugt: Den Tod brauchen wir für die Kunst des Lebens! Der Gedanke an den Tod führt die Mönche zu einer Leichtigkeit des Seins. Von einigen ist zwar überliefert, dass sie Angst vor dem Sterben hatten. Aber sie haben mit dem Tod gerechnet – täglich.

Ein Altvater fragt einen anderen: „Warum bist du nie entmutigt?“ Er antwortet: „Weil ich jeden Tag damit rechne zu sterben.“

In diesem Sinne möchte ich Sie an diesem Freitagmorgen bitten: Stellen Sie sich vor, sie würden sterben. Welcher Blick fiele da auf Ihre Pläne und Ziele, auf Ihr Tun und Leben?

Diese Perspektive hilft mir, zielstrebig und gelassen ans Werk zu gehen. Manches verblasst, was mir sonst wichtig erscheint – etwa: Was denken die anderen von mir? Mein nahender Tod führt mir drastisch vor Augen, wer ich eigentlich bin und was meine Aufgabe ist. (AP 227, AP 308, AP Syst XXI,7, vgl. auch AP 230)

 

 

Samstag, 20. November

Die Wüstenväter des 4. und 5. Jahrhunderts faszinierten die Menschen im damaligen Ägypten, aber ihre radikale Lebensweise befremdete auch. Von Altvater Ephraim hieß es, er würde vorbildlich als Mönch leben und könne sich immer beherrschen. Seine Schüler behaupteten: „Wir haben noch nie erlebt, dass er aus der Fassung geriet!“ Einige Leute trachteten nun danach, ihn bloßzustellen. Sie dachten: „Wenn wir ihm eine Frau schicken, die ihn verführen soll, wird er entweder schwach oder sehr zornig!“ So bezahlten sie eine Prostituierte und gaben ihr den Auftrag: „Geh zu dem heiligen Mann in die Einsiedelei!“ Das tat sie auch; er aber begegnete ihr freundlich und führte sie auf den Marktplatz. Dort sagte er zu ihr: „Tue hier, was du vorhast.“ Sie sah jedoch auf die Menge ringsherum und antwortete: „Wie können wir das tun, wo so viele Menschen herumstehen? Wir müssen uns doch schämen!“ Da sagte der Mönch Ephraim: „Wenn wir uns schon vor den Menschen schämen, wie viel mehr müssen wir uns vor Gott schämen, der auch das im Dunkeln Verborgene sieht und ans Licht bringt (1 Kor 4, 5).“ Da wandte sich die Frau beschämt ab und ging weg.

Und die, die Altvater Ephraim bloßstellen wollten, haben sich selber bloßgestellt. (frei nach AP 215)

 

 

 

„AP“ zitiert nach: Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, übersetzt von Bonifaz Miller. Trier: Paulinus-Verlag 41998.