Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
„Weisheit aus der Wüste“ - Die Botschaft der frühen Mönche
von Pater Bernhard Eckerstorfer, Stift Kremsmünster
Sonntag, 14. November 2010
Mit 18 Jahren kaufte ich mir auf einem Flohmarkt einen Band mit
Weisheiten der so genannten Wüstenväter. Anfangs konnte ich mit den
Geschichten und knappen Sinnsprüchen wenig anfangen. Doch allmählich
fing ich Feuer. Ich merkte, dass mir die rauen, aber geisterfüllten
Gestalten des 4. und 5. Jahrhunderts näher sind als ich gedacht
hatte. In den letzten 20 Jahren sind sie mir dann ans Herz
gewachsen.
Da wird zum Beispiel erzählt, wie jemand den Mönch Paision fragt:
„Was soll ich mit meiner Seele tun? Sie ist gefühllos und fürchtet
Gott nicht.“ Ich stelle mir vor, wie einer mit sich selbst tief
unglücklich ist und bei einem Einsiedler Hilfe sucht. Sein Inneres
ist leblos, er nimmt nichts mehr wahr, auch Gott nicht. Aber er
macht sich auf zu einem anderen, und so kann ihm geholfen werden.
Was wird ihm aber Paision antworten?
Der lässt ihn nicht allein in seiner Not. Er gibt ihm aber nicht
fordernde Ratschläge oder gute Wünsche. Vielmehr nimmt er den Druck
von ihm und schickt ihn auf den Weg mit den Worten: „Geh, und
schließ dich einem gottesfürchtigen Menschen an. Indem du dich ihm
anvertraust, lehrt er dich, das Leben neu zu entdecken und Gott zu
fürchten.“
Das Beispiel eines anderen kann mir helfen zu sehen, wie Leben
gelingt. In diesem Sinne sind die frühen Mönche, die vor 1600 Jahren
lebten, auch für mich zu Lehrmeistern geworden. (AP 639)
Montag, 15. November 2010
Die frühen Mönche in den Wüsten des Orients beherrschten die Kunst,
mit wenigen Worten viel zu sagen. Vielleicht sind sie auch deshalb
heute wieder so gefragt, weil bei uns alles so wortreich und
undurchschaubar geworden ist.
Ein schlichter Satz eines Wüstenvaters beeindruckt mich ganz
besonders: „Baue nicht auf deine eigene Gerechtigkeit; was geschehen
ist, ist geschehen; und übe Enthaltsamkeit von der Zunge und vom
Bauch.“ (AP 6) Aus der dreifachen Anleitung spricht der große
Erfahrungsschatz der frühen Mönche.
„Nicht auf die eigene Gerechtigkeit bauen.“ Das bedeutet: Nimm dich
zurück, vergleiche dich nicht mit anderen, hasche nicht nach ihrem
Lob; das endgültige Heil kann dir nur Gott geben. So wirst du
entlastet: Du musst nicht alles selber leisten.
Dann: „Lass dich nicht etwas gereuen, was bereits geschehen ist.“
Wenn wir ständig den missglückten Dingen und verpassten
Gelegenheiten nachtrauern, lähmen wir uns selbst. In der Gegenwart
leben bedeutet, sich von der Vergangenheit befreien zu können, weil
wir sie der Barmherzigkeit Gottes überlassen.
Zum richtigen Umgang mit dem eigenen Ich und seinem Denken gehört
schließlich der Leib: „Übe Enthaltsamkeit von der Zunge und vom
Bauch.“ Schweigen können und Maß halten befreit den Menschen. Wie
könnte sonst die Seele rein und der Geist wach bleiben?
Dienstag, 16. November 2010
Die Wüstenväter stellen Gott über alles und richten sich radikal auf
ihn hin aus. So sagt Altvater Isidor: „Von allen Einstellungen ist
besonders diese gefährlich: Seinem Herzen zu folgen, das heißt,
seinem eigenen Denken und nicht dem Gesetz Gottes.“ (AP 365)
Es war eine breite Bewegung, als im 4. und 5. Jahrhundert
zehntausende Menschen von den Dörfern und Städten des Niltales in
die Wüsten zogen. Sie trennten sich von allem, was für sie früher
Bedeutung hatte: Beziehungen, Besitz, Status. Ihr neues Leben in der
Einöde hat etwas Unbedingtes und Kompromissloses, das uns
beeindrucken mag.
Allerdings, unserem heutigen Freiheitsdrang entspricht das nur
eingeschränkt. Dennoch, glaube ich, haben die frühen Mönche Ägyptens
uns viel zu sagen: Freiheit besteht für sie nicht nur in der
Unabhängigkeit von äußerlichen Bindungen. Vor allem wollten sie sich
von den eigenen Einbildungen lösen.
Von daher bleiben sie unserer Ich-zentrierten Zeit fremd. Ihre
Botschaft ist für uns heute eine Herausforderung: Äußere Freiheit
kann zu subtilen Zwängen führen, denen wir oft unbewusst folgen.
Deshalb wollen die Mönche nicht dem Eigenwillen, sondern den Geboten
Gottes folgen. Sie wussten: Nur wer über sich hinauswächst und von
einer anderen Macht ergriffen wird, ist wirklich frei.
Mittwoch, 17. November 2010
Ein Mönch in der Wüste Ägyptens wurde gefragt: „Was muss ich tun, um
gerettet zu werden?“ Der Altvater war gerade dabei, ein Seil zu
flechten. Ohne von seiner Arbeit aufzublicken, antwortete er: „Hier,
du siehst es.“ (N 91)
Wir können uns ausmalen, wie überrascht der Besucher war.
Stundenlang ist er wohl durch die Wüste zum Einsiedler gegangen.
Wahrscheinlich hatte er einen spirituellen Rat erwartet, einen
Sinnspruch, der großartig klingt und mit dem er sogar angeben hätte
können. Doch der Altvater hatte erkannt, was der Besucher braucht:
Nicht große geistliche Übungen oder asketische Leistungen helfen ihm
weiter, nicht eine radikale Änderung des Lebens, sondern ein neuer
Blick für den ganz normalen Alltag.
Ich kann mir vorstellen, dass der Besucher anfangs enttäuscht war
über diese Antwort. Aber bei der Heimkehr durch die Wüste ging ihm
ihre Weisheit auf. Deshalb erzählte er diese Begebenheit weiter. Er
hatte gelernt, seinen Alltag mit anderen Augen zu sehen und in den
ganz einfachen Beschäftigungen neuen Sinn zu entdecken. Und wenn er
wieder einmal niedergeschlagen war oder davonlaufen wollte, sah er
den Mönch vor sich, wie er auf der Matte sitzt und arbeitet. Und wie
er nicht einmal aufblickt bei der Frage „Was muss ich tun, um heil
zu werden?“, sondern weiter arbeitet und murmelt: „Hier, du siehst
es.“
Vielleicht brauchen auch wir heute einen neuen Blick für den ganz
normalen Alltag.
Donnerstag, 18. November 2010
Wie können wir Jesu Lehre heute umsetzen? Das fragten sich schon die
frühen Mönche. Und sie kamen auf originelle Ideen, wie der tiefere
Sinn eines Bibelverses verstanden werden kann. Jesus sagt zum
Beispiel: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für
den Nächsten hingibt. (Joh 15, 13) Wir können einwenden: Ich habe
wohl kaum die Gelegenheit, mein Leben für jemanden anderen so aufs
Spiel zu setzen. Auch für die Mönche in der Wüste war das nicht im
wörtlichen Sinn verlangt; der christliche Glaube war mittlerweile
nicht mehr verboten, Märtyrer gehörten der Vergangenheit an. Doch
sie wollten ein anderes Martyrium, ein echtes Zeugnis ihres Glaubens
geben.
Und so findet Altvater Poimen in Jesu Wort einen tieferen Sinn, der
auch für uns heute aktuell ist. Sein Leben für den Nächsten hingeben
bedeutet: Jemand beleidigt dich und du kämpfst darum, ihn nicht auch
zu beleidigen. Oder jemand übervorteilt dich, und du erträgst es und
zahlst es ihm nicht heim. Poimen sagt: Dann hast du dein Leben für
den Nächsten hingegeben.
Freitag, 19. November 2010
„Denk an deinen Todestag!“ – „Halte dir den Tod täglich vor Augen,
dann wirst du nicht sündigen.“ – „Altvater Arsenios hatte seine
Sterbestunde immer präsent.“ Tod und Sterben nehmen für die frühen
Mönche einen wichtigen Stellenwert ein.
Das liegt heute nicht gerade im Trend. Wir verdrängen den Tod,
gerade den eigenen. Geht es nicht in unserer Welt vor allem um
Fortschritt und Steigerung? Wir sträuben uns, wenn uns von außen
Grenzen gesetzt sind.
Die Wüstenväter waren dagegen überzeugt: Den Tod brauchen wir für
die Kunst des Lebens! Der Gedanke an den Tod führt die Mönche zu
einer Leichtigkeit des Seins. Von einigen ist zwar überliefert, dass
sie Angst vor dem Sterben hatten. Aber sie haben mit dem Tod
gerechnet – täglich.
Ein Altvater fragt einen anderen: „Warum bist du nie entmutigt?“ Er
antwortet: „Weil ich jeden Tag damit rechne zu sterben.“
In diesem Sinne möchte ich Sie an diesem Freitagmorgen bitten:
Stellen Sie sich vor, sie würden sterben. Welcher Blick fiele da auf
Ihre Pläne und Ziele, auf Ihr Tun und Leben?
Diese Perspektive hilft mir, zielstrebig und gelassen ans Werk zu
gehen. Manches verblasst, was mir sonst wichtig erscheint – etwa:
Was denken die anderen von mir? Mein nahender Tod führt mir
drastisch vor Augen, wer ich eigentlich bin und was meine Aufgabe
ist. (AP 227, AP 308, AP Syst XXI,7, vgl. auch AP 230)
Samstag, 20. November
Die Wüstenväter des 4. und 5. Jahrhunderts faszinierten die Menschen
im damaligen Ägypten, aber ihre radikale Lebensweise befremdete
auch. Von Altvater Ephraim hieß es, er würde vorbildlich als Mönch
leben und könne sich immer beherrschen. Seine Schüler behaupteten:
„Wir haben noch nie erlebt, dass er aus der Fassung geriet!“ Einige
Leute trachteten nun danach, ihn bloßzustellen. Sie dachten: „Wenn
wir ihm eine Frau schicken, die ihn verführen soll, wird er entweder
schwach oder sehr zornig!“ So bezahlten sie eine Prostituierte und
gaben ihr den Auftrag: „Geh zu dem heiligen Mann in die
Einsiedelei!“ Das tat sie auch; er aber begegnete ihr freundlich und
führte sie auf den Marktplatz. Dort sagte er zu ihr: „Tue hier, was
du vorhast.“ Sie sah jedoch auf die Menge ringsherum und antwortete:
„Wie können wir das tun, wo so viele Menschen herumstehen? Wir
müssen uns doch schämen!“ Da sagte der Mönch Ephraim: „Wenn wir uns
schon vor den Menschen schämen, wie viel mehr müssen wir uns vor
Gott schämen, der auch das im Dunkeln Verborgene sieht und ans Licht
bringt (1 Kor 4, 5).“ Da wandte sich die Frau beschämt ab und ging
weg.
Und die, die Altvater Ephraim bloßstellen wollten, haben sich selber
bloßgestellt. (frei nach AP 215)
„AP“ zitiert nach: Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch
Gerontikon oder Alphabeticum genannt, übersetzt von Bonifaz Miller.
Trier: Paulinus-Verlag 41998.
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