Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr -
6.08 Uhr,
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr,
ORF Regionalradios
"Gesichter der Trauer"
von Wolfgang Olschbaur, Bregenz
Sonntag, 21. November 2010
Wenn der Lebenspartner stirbt, führt das oft in eine schwere
Lebenskrise. Wieder zurückfinden ins Leben heißt, nicht nur den
Verlust zu überwinden, sondern auch eine neue Rolle zu finden, eine
neue Identität. Oft müssen Blockaden und Hemmungen überwunden
werden.
Eine 40-jährige Frau hat ihren Mann bei einem Autounfall verloren.
Sie hat sich vor Schmerzen ins Schweigen verkrochen, hat mit
niemandem darüber reden können aus Angst, sich im Gefühlschaos zu
verlieren. Sie hat auch den Tod ihres Mannes nicht beweinen können.
Erst nach langer Zeit hat sie sich jemandem anvertraut. Da ist es
aus ihr herausgebrochen. Sie hat das erste Mal in ihrem Leben laut
geschrien und gerufen, dass sie die Nase voll habe - und plötzlich
hat sie weinen können. Das Bild ihres Mannes ist vor ihr
aufgetaucht. Sie konnte ihm nun alles sagen, auch wie sehr sie ihn
immer noch liebt.
Heute besucht ihre Tochter das Gymnasium. Sie arbeitet halbtags in
einer Boutique. Den Rest des Tages verbringt sie mit einer
Ausbildung zur Computertechnikerin. "Ich habe nie gedacht", meint
sie, "dass ich jemals noch so viel Energie bekommen würde, um alle
diese Dinge ohne Angst zu schaffen. Gott sei Dank, das Leben ist
schön, es ist auf jeden Fall einen Versuch wert!"
Montag, 22. November 2010
Der Tod eines Kindes ist für Eltern das Schlimmste, was man sich
vorstellen kann. Da schenkt Gott einem ein Kind. Und dann nimmt er
es einem wieder weg. Wer kann das fassen?
Die junge Mutter beginnt von ihrem sechsjährigen Sohn zu erzählen.
Wie er mit Fieber ins Krankenhaus eingeliefert worden ist. Und dann
der Anruf, sie soll kommen, so schnell es geht. "Man habe alles
versucht", sagt der Arzt und drückt ihr sein Mitgefühl aus. Aber sie
hört das wie aus einer fremden Welt.
Später hat sie angefangen, ihrem Sohn Briefe zu schreiben: "Ich habe
nicht gewusst, wie ernst es um dich steht, mein Kind. Ich hatte
keine Chance, Dich zurückzuhalten."
Nach Monaten tiefer Verzweiflung hat sie sich versöhnt mit dem
Schicksal ihres verstorbenen Kindes - und mit sich selbst. Im
letzten Brief an den Sohn schreibt sie, dass sie ihn nun loslassen
werde, damit auch er Ruhe findet. Sie will in ihrem Herzen die
schönen Erinnerungen und das Gefühl der Liebe bewahren. Sie stellt
ein Bild auf mit einem blühenden Rosenstrauch und sagt, dort wo die
Trauer so unendlich groß gewesen ist, da haben ihre Tränen die Erde
weich gemacht. Aus der ist neues Leben gewachsen, ein Rosenstrauch.
Dienstag, 23. November 2010
Einem Neunjährigen sind die Eltern gestorben. Verkehrsunfall. Ein
benachbartes Ehepaar hat sich seiner angenommen und hat ihn später
adoptiert.
Zuerst schien es, als würde er ganz gut fertig werden damit. Er hat
nicht einmal geweint. Dann hat er in der Schule keine Aufgaben mehr
gemacht.
Daheim hat er sich eingeschlossen, hat sich regelrecht verkrochen,
auch in sich selbst.
Eines Tages wurde er sehr wütend: "Meine Eltern haben mich alleine
gelassen. Ich hätte sie so sehr gebraucht." Es hat lange gedauert,
bis er eingesehen hat, dass er nun ohne sie weiter leben muss. Dann
hat er endlich geweint. "Das hilft", sagt er, "es macht den
steinernen Berg vor meiner Brust weich wie Pudding", und malt eine
bunte Zeichnung: Einen Berg und einen Pudding.
Nun hat er sich verabschiedet. Er hat den Eltern noch einen Brief
geschrieben: "Jetzt weiß ich, dass ihr nicht mehr da seid für mich.
Ihr fehlt mir sehr. Aber jetzt muss ich euch loslassen". Er hat eine
Kerze angezündet, den Brief verbrannt und die Asche am nächsten Tag
ans Grab getragen. Dann hat er gesagt: "Jetzt habt ihr endlich Zeit
für euch selbst. Ihr könnt ganz beruhigt sein, meine neuen Eltern
sind sehr gut zu mir. Ich werde es schaffen, ganz bestimmt."
Mittwoch, 24. November 2010
Die Frau hat gerade erfahren, dass sie Mutter werden wird. Ihr Mann
ist nicht erfreut. Er schließt sie nicht liebevoll in die Arme. Er
fürchtet, dass ihnen das Kind im Weg stehen würde. Sie fällt in
Schwermut und fühlt sich sehr allein gelassen. Ihr Mann ist höflich
und zuvorkommend. Aber er freut sich nicht auf das Kind.
Die Tage vergehen, der Termin der Geburt kommt näher. Die zukünftige
Mutter richtet ein Kinderbettchen her und schmückt es mit den Farben
des Regenbogens. Da fällt ihr auf, dass es in ihrem Körper so
furchtbar still geworden ist. Sie versucht, ihre Ängste zu
verbannen. Aber ihr Baby hat sich nie wieder bewegt.
Im Krankenhaus bekommt sie Beruhigungsmittel. Den andern Müttern
werden ihre Neugeborenen wie kleine Menschenbündel auf den Bauch
gelegt. Sie aber fällt in tiefe Traurigkeit. Ihr Mann tröstet sie
und sagt, es hätte noch schlimmer kommen können.
Sie hat ihr totes Kind noch sehen dürfen und berühren. Sie muss
nicht verdrängen, ein Kind gehabt zu haben. Sie weiß, was sie
verloren hat. Die Trauer kann aus ihrer Seele fließen. Jetzt geht
sie gern zum kleinen Grab und fragt: "Was soll ich machen?".
"Überlass das dem lieben Gott", sagt das Kind, "der wird sich schon
um dich kümmern."
Donnerstag, 25. November 2010
Kann man trauern, bevor das eingetreten ist, was man befürchtet?
Eine Frau hat erfahren, dass ihr Mann unheilbar krank ist. Die Ärzte
haben es ihr schonend beigebracht. Sie müsse mit dem Schlimmsten
rechnen.
Nach dem ersten Schock über den zu erwartenden Tod, hat sie
begonnen, alles in Ruhe zu bedenken. Sie ist drauf gekommen, dass es
noch viel aufzuarbeiten gibt in ihrer Beziehung. Allmählich hat sie
das Unabwendbare zugelassen, hat es nicht mehr weggeschoben mit
falschen Hoffnungen auf ein Wunder. Ihr ist klar geworden, dass sie
ohne ihn auskommen wird müssen.
Ihre vorweggenommene Trauerarbeit hat ihr Leben und das ihrer
Familie verändert. Die Zeit wurde wertvoll. Sie haben sie genützt
mit Liebe und Nähe. Sie haben zusammen geweint und gelacht und haben
sich alles gesagt, was ihnen noch auf dem Herzen lag.
Der Mann ist daheim gestorben. Der Schmerz über den Verlust war
groß. Aber sie hatte einen Vorsprung. Sie musste nicht im Brunnen
tiefer Trauer versinken. Sein Sterben und wie sie damit umgegangen
ist, hat ihr eine neue Sicht auf das Leben gegeben und die Zeit, die
ihnen geschenkt war.
Nach drei Jahren hat sie ihre Ausbildung zur Dolmetscherin
abgeschlossen. Die Angst vor einer neuen Beziehung ist gewichen.
"Ich bin bereit", sagt sie und lächelt.
Freitag, 26. November 2010
"Ich sehe meinen Mann jeden Tag bei der Nachbarin ein- und ausgehen.
Er betrügt mich. Ich bin verzweifelt und ich weiß nicht, was ich
machen soll."
Nun ist sie geschieden. Sie wäre seelisch langsam gestorben, wenn
sie nicht losgelassen hätte.
Zuerst musste aber die Wut heraus, der Zorn, wegen der vielen Dinge,
die sie hinuntergeschluckt hat aus Angst, den Partner zu verlieren.
Und wie sich ihre Gefühle allmählich versteinert haben.
Am Tiefpunkt hat sie ihre besondere Begabung wieder entdeckt. Das
Malen. "Beim Malen kann ich Abschied nehmen", sagt sie. Abschied von
ihrem Traum-Mann, den es nie gegeben hat, Abschied vom "Alleinsein
in der Ehe" und vom "Alleingelassenwerden".
Es tut ihr schon lange nicht mehr weh, wenn sie ihn auf der Straße
sieht. In einem halben Jahr zieht sie in eine andere Stadt, dort hat
sie einen Job bekommen. Ihr Zeichentalent möchte sie ausbauen. Sie
hat sich vorgenommen, in einer neuen Beziehung ihre Gefühle nicht
mehr zu unterdrücken und ihre Wünsche auszusprechen.
Jetzt strahlt sie und sagt: "Ich habe mich befreit von meiner
Vorstellung von Traumprinzen, von meiner Sehnsucht nach dem Paradies
auf Erden. Ich will leben im Hier und Jetzt. Denn am schwersten ist
es, Abschied zu nehmen von einem Leben das man nie gelebt hat."
Samstag, 27. November 2010
Alt ist er geworden. Zuerst hat er es noch nicht wahrhaben wollen.
"Man ist so alt, wie man sich fühlt!", hat er immer gesagt. Doch
dann hat ihm ein junges Mädchen den Sitzplatz in der Straßenbahn
angeboten. Und ein Verkäufer im Laden hat ihn - ungebeten - in die
Seniorenabteilung verwiesen.
Jetzt ist er also das, wozu ihn seine liebe Umwelt schon längere
Zeit gemacht hat: Ein alter Mensch. Und wenn er ehrlich ist, dann
merkt es auch selbst.
Von Altersheim hat zum Glück noch keiner in seiner Familie
gesprochen. Aber wenn in der Fernsehserie der senile alte Herr
auftritt, dann lachen sie in seiner Gegenwart nicht mehr wie früher.
Von seiner Firma und den Kollegen hat er leicht Abschied genommen.
Als der Chef im Rahmen einer schlichten Feier ihm zum Eintritt in
den verdienten Ruhestand gratulierte, da dachte er: Ihr könnt mich
mal!
Jetzt genießt er den Abstand. Es hetzt ihn keiner mehr. Ja! - er hat
einiges zu tun. Manche wollen noch etwas von ihm. Aber er macht nur
mehr das, was er machen möchte, nicht das, was er machen soll. Die
neue Freiheit tut ihm gut.
Manchmal überkommt ihn ein seltsames Gefühl. Wie viel Zeit bleibt
mir noch? Und wer war froh, dass es mich gab?
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