von Helga Kohler-Spiegel,
Religionspädagogin und Psychoanalytikerin aus Feldkirch
Sonntag 9. Januar 2011
Ich werde Sie in den kommenden Tagen
am frühen Morgen gerne ein wenig herausfordern – mit Fragen. Bei
Kindern reden wir vom sogenannten „Fragealter“, und meinen damit die
Phase, in denen wir Kindern die vielen Fragen noch zugestehen: Warum
ist das so und wieso ist das anders? Je älter wir werden, desto
weniger fragen wir, manchmal reduziert sich unser Fragen auf ein
allgemeines „Wie geht’s?“. Wir verbieten uns manchmal die wirklichen
Fragen, aus Rücksicht, weil es sich nicht gehört, weil wir den
anderen nicht irritieren wollen, manchmal auch aus Angst, weil es
wehtun würde, die Wahrheit zu hören.
In seinen Tagebüchern von 1966 – 1971
hat Max Frisch „Fragebogen“ veröffentlicht, elf an der Zahl. Im
ersten Fragebogen sind es – herausfordernd – prägnante Fragen: „Wen,
der tot ist, möchten Sie wiedersehen?“ und dann: „Wen hingegen
nicht?“ oder: „Lieben Sie jemand?“ „Und woraus schließen Sie das?“
Sonntag heißt eigentlich auch, Zeit zu
haben für die Fragen, die ich häufig stelle, für die Fragen, die ich
schon lange nicht mehr stelle, und für die Fragen, die ich nicht zu
stellen wage…
Montag, 10. Januar 2011
Ich mute Ihnen Fragen zu. Weil Fragen
zu stellen eine besondere Fähigkeit des Menschen ist. Es gibt
Fragen, die ich von mir, von meiner Perspektive aus stelle: Weil es
mich interessiert, weil es mich beschäftigt… Wenn ich am Abend
meinen Partner frage, wie sein Tag war, was ihn gefreut hat, was
mühsam für ihn war, dann möchte ich wissen, was er erlebt hat, wie
es ihm ergangen ist…
Und es gibt Fragen, die stelle ich aus
der Perspektive der anderen Person. Ich frage nach, weil sich im
Erzählen die eine oder andere Frage nahelegt.
Sie kennen das vielleicht auch: Jemand
erzählt von dem, was er oder sie gerade erlebt hat. Und das
Gegenüber fragt nicht nach, sondern erzählt die eigene Geschichte,
die eigenen Erlebnisse. Nachfragen heißt, nicht wieder von sich
selbst zu reden, sondern Interesse am anderen zu haben: Der Partner
erzählt von seinem Tag, und ich frage nach, um den Erzählfaden
weiterzuführen. Und so helfen Fragen, in Worte zu fassen und klarer
zu sehen, was man gerade erlebt hat. Die Fragen können Gefühle oder
Gedanken betonen. Und diese Fragen zeigen auch, dass ich verstanden
habe, was der andere erlebt hat und mir erzählen will.
Dienstag 11. Januar 2011
Ich finde, es gibt so viele Fragen,
die spannend zu wissen wären: Was macht meinen Vater, was macht
meine Mutter eigentlich glücklich? Nicht so allgemein: Wenn die
Kinder brav sind, wenn sie nicht streiten… - sondern wirklich: Wann
ist, wann war mein Vater wirklich glücklich, wann meine Mutter?
Meine Geschwister? Mein eigener Partner? Weiß ich darum? Und gibt es
jemanden, der sich dafür interessiert, wann ich glücklich bin?
Fragen, die spannend zu wissen wären:
Vielleicht gibt es eine Liebe, von der ich gerne gewusst hätte, ob
er oder sie mich auch geliebt hat? Oder eine Verletzung, von der ich
immer noch wissen möchte: Warum nur?
Ich höre öfters: Darf ich Dich, darf
ich Sie etwas fragen? Selbstverständlich – sage ich – fast immer. Es
ist für mich berührend zu erleben, wie sich die Atmosphäre
verändert, wenn Fragen gestellt werden, die Bedeutung haben, für
denjenigen, der fragt. Oder für uns beide und für unsere Beziehung.
Mittwoch 12. Januar 2011
In der Erziehung von Kindern haben
Fragen eine wichtige Bedeutung. „Wer nicht fragt, bleibt dumm“, hat
man früher gesagt. In der Schule lernen wir viel entlang von Fragen.
Wenn eine Lehrperson die Schülerinnen und Schüler mit ihren Fragen
anregen kann, nachzudenken und selbst Fragen zu stellen, ist das
wunderbar.
Manchmal kann ich zu einem Thema, das
mich beschäftigt, alle Fragen sammeln, die ich dazu stellen könnte.
Das ist oft mindestens so spannend wie die Antworten nachzulesen.
Oder ich kann zu einem Menschen, der mich beschäftigt, all die
Fragen sammeln, die mir zu dieser Person einfallen. Ob ich manche
davon tatsächlich einmal stelle, bleibt ja in meiner Verantwortung.
Und es gibt die verdeckten Fragen, die
gar keine wirklichen Fragen sind: „Warum hast du das gemacht? Warum
hast du das nicht gemacht? Kannst Du nicht pünktlich kommen? Kannst
Du keine anständige Antwort geben? Und es ist klar, das sind keine
Fragen, sondern das ist ein Vorwurf, eine Kritik. Es hilft, wenn
Fragen wirkliche Fragen sind, wenn Vorwürfe tatsächliche Vorwürfe
sind. Dann ist – meiner Erfahrung nach – die Kommunikation klarer.
Donnerstag 13. Januar 2011
Jüdischer und christlicher Glaube
entwickelt sich entlang von Fragen: Im Kern des Judentums steht die
Frage des Kindes am Beginn des Pessachfestes: Was unterscheidet
diese Nacht von allen anderen Nächten? Und dann wird die Geschichte
vom Auszug aus Ägypten erzählt, als würde er heute stattfinden.
Menschen um Jesus haben auch immer wieder Fragen gestellt: „Meister,
was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Oder die Frage an
Paulus, wie das denn sein werde mit der Auferstehung der Toten…
Manchmal merke
ich, wie die Fragen wieder auftauchen, die ich rund um Religion und
Glaube habe. Ist mein Glaube sinnvoll? Ist er tragfähig? Begleitet
Gott tatsächlich? Und wie es ist mit all dem Leiden, das ich sehe?
Die Fragen nicht zu vergessen, die uns bewegen und die sich nicht
einfach beantworten lassen, ist nicht selbstverständlich. Schön ist,
nicht alleine zu bleiben mit diesen Fragen, sondern jemanden zu
haben, mit dem ich über diese „großen Fragen“ reden kann.
Freitag 14. Januar 2011
Max Frisch hat in seinen Tagebüchern
Ende der 60er Jahre „Fragebogen“ veröffentlicht. Seine Fragen sind
überraschend, anregend…
Wissen Sie in der Regel, was Sie
hoffen?
Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?
Kennen Sie die Hoffnung Ihres
Partners, Ihrer Partnerin?
Oder er fragt:
Haben Sie Ihre Lebensgefährtin
gewählt?
Wenn Ihre derzeitige Ehe als glücklich
zu bezeichnen ist: Worauf führen Sie das zurück?
Möchten Sie Ihre [eigene] Frau sein?
Was fehlt Ihnen zum Glück?
Wofür sind Sie dankbar?
Es ließen sich viele weitere Fragen
anfügen. Vielleicht ist es auch ein bisschen viel am frühen Morgen.
Mich regen diese Fragen an, auch über die gewohnten Grenzen hinaus
zu denken, das Fragen und das Denken nicht einzuschränken auf das,
was immer schon so war.
Samstag 15. Januar 2011
Ich habe Ihnen in den vergangenen
Tagen Fragen zugemutet – Fragen, die wir stellen, und Fragen, die
wir oft nicht zu stellen wagen. Charles Schulz, der Vater der
erfolgreichen Cartoons mit Charlie Brown und Snoopy, arbeitet auch
mit Fragen. In einem Cartoon stellt Charlie Brown seinem Freund
Linus die Frage: "Denkst du oft an die Zukunft?", und Linus
antwortet: "Ja, immerzu." Und was möchtest du werden, wenn du groß
bist?, fragt Charlie Brown weiter, und Linus antwortet:
"Unwahrscheinlich glücklich."
Eine berührende Antwort auf eine
zentrale Frage: Was möchtest Du werden, wenn Du groß bist?“ Ob ich
mich noch trauen würde, eine solche Antwort zu geben:
„Unwahrscheinlich glücklich“.
Gerne wünsche ich Ihnen am Beginn
dieses neuen Jahres: dass wir die Fragen nicht übersehen, die das
Leben heuer an uns stellen wird, dass wir uns trauen, die für uns
wichtigen Fragen zu stellen. Und dass Ihre Antwort immer wieder so
unbeschwert sein kann wie die Antwort von Linus: "Was möchtest du
werden, wenn du groß bist? - Unwahrscheinlich glücklich."