Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

Fragen stellen. Die Faszination des Fragens

von Helga Kohler-Spiegel, Religionspädagogin und Psychoanalytikerin aus Feldkirch

 

 

Sonntag 9. Januar 2011

Ich werde Sie in den kommenden Tagen am frühen Morgen gerne ein wenig herausfordern – mit Fragen. Bei Kindern reden wir vom sogenannten „Fragealter“, und meinen damit die Phase, in denen wir Kindern die vielen Fragen noch zugestehen: Warum ist das so und wieso ist das anders? Je älter wir werden, desto weniger fragen wir, manchmal reduziert sich unser Fragen auf ein allgemeines „Wie geht’s?“. Wir verbieten uns manchmal die wirklichen Fragen, aus Rücksicht, weil es sich nicht gehört, weil wir den anderen nicht irritieren wollen, manchmal auch aus Angst, weil es wehtun würde, die Wahrheit zu hören.

 

In seinen Tagebüchern von 1966 – 1971 hat Max Frisch „Fragebogen“ veröffentlicht, elf an der Zahl. Im ersten Fragebogen sind es – herausfordernd – prägnante Fragen: „Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?“ und dann: „Wen hingegen nicht?“ oder: „Lieben Sie jemand?“ „Und woraus schließen Sie das?“

 

Sonntag heißt eigentlich auch, Zeit zu haben für die Fragen, die ich häufig stelle, für die Fragen, die ich schon lange nicht mehr stelle, und für die Fragen, die ich nicht zu stellen wage…

 

 

 

Montag, 10. Januar 2011

Ich mute Ihnen Fragen zu. Weil Fragen zu stellen eine besondere Fähigkeit des Menschen ist. Es gibt Fragen, die ich von mir, von meiner Perspektive aus stelle: Weil es mich interessiert, weil es mich beschäftigt… Wenn ich am Abend meinen Partner frage, wie sein Tag war, was ihn gefreut hat, was mühsam für ihn war, dann möchte ich wissen, was er erlebt hat, wie es ihm ergangen ist…

 

Und es gibt Fragen, die stelle ich aus der Perspektive der anderen Person. Ich frage nach, weil sich im Erzählen die eine oder andere Frage nahelegt.

 

Sie kennen das vielleicht auch: Jemand erzählt von dem, was er oder sie gerade erlebt hat. Und das Gegenüber fragt nicht nach, sondern erzählt die eigene Geschichte, die eigenen Erlebnisse. Nachfragen heißt, nicht wieder von sich selbst zu reden, sondern Interesse am anderen zu haben: Der Partner erzählt von seinem Tag, und ich frage nach, um den Erzählfaden weiterzuführen. Und so helfen Fragen, in Worte zu fassen und klarer zu sehen, was man gerade erlebt hat. Die Fragen können Gefühle oder Gedanken betonen. Und diese Fragen zeigen auch, dass ich verstanden habe, was der andere erlebt hat und mir erzählen will.

 

 

 

Dienstag 11. Januar 2011

Ich finde, es gibt so viele Fragen, die spannend zu wissen wären: Was macht meinen Vater, was macht meine Mutter eigentlich glücklich? Nicht so allgemein: Wenn die Kinder brav sind, wenn sie nicht streiten… - sondern wirklich: Wann ist, wann war mein Vater wirklich glücklich, wann meine Mutter? Meine Geschwister? Mein eigener Partner? Weiß ich darum? Und gibt es jemanden, der sich dafür interessiert, wann ich glücklich bin?

 

Fragen, die spannend zu wissen wären: Vielleicht gibt es eine Liebe, von der ich gerne gewusst hätte, ob er oder sie mich auch geliebt hat? Oder eine Verletzung, von der ich immer noch wissen möchte: Warum nur?

 

Ich höre öfters: Darf ich Dich, darf ich Sie etwas fragen? Selbstverständlich – sage ich – fast immer. Es ist für mich berührend zu erleben, wie sich die Atmosphäre verändert, wenn Fragen gestellt werden, die Bedeutung haben, für denjenigen, der fragt. Oder für uns beide und für unsere Beziehung.

 

 


 

Mittwoch 12. Januar 2011

In der Erziehung von Kindern haben Fragen eine wichtige Bedeutung. „Wer nicht fragt, bleibt dumm“, hat man früher gesagt. In der Schule lernen wir viel entlang von Fragen. Wenn eine Lehrperson die Schülerinnen und Schüler mit ihren Fragen anregen kann, nachzudenken und selbst Fragen zu stellen, ist das wunderbar.

 

Manchmal kann ich zu einem Thema, das mich beschäftigt, alle Fragen sammeln, die ich dazu stellen könnte. Das ist oft mindestens so spannend wie die Antworten nachzulesen. Oder ich kann zu einem Menschen, der mich beschäftigt, all die Fragen sammeln, die mir zu dieser Person einfallen. Ob ich manche davon tatsächlich einmal stelle, bleibt ja in meiner Verantwortung.

 

Und es gibt die verdeckten Fragen, die gar keine wirklichen Fragen sind: „Warum hast du das gemacht? Warum hast du das nicht gemacht? Kannst Du nicht pünktlich kommen? Kannst Du keine anständige Antwort geben? Und es ist klar, das sind keine Fragen, sondern das ist ein Vorwurf, eine Kritik. Es hilft, wenn Fragen wirkliche Fragen sind, wenn Vorwürfe tatsächliche Vorwürfe sind. Dann ist – meiner Erfahrung nach – die Kommunikation klarer.

 

 

 

Donnerstag 13. Januar 2011

Jüdischer und christlicher Glaube entwickelt sich entlang von Fragen: Im Kern des Judentums steht die Frage des Kindes am Beginn des Pessachfestes: Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? Und dann wird die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt, als würde er heute stattfinden. Menschen um Jesus haben auch immer wieder Fragen gestellt: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Oder die Frage an Paulus, wie das denn sein werde mit der Auferstehung der Toten…

 

Manchmal merke ich, wie die Fragen wieder auftauchen, die ich rund um Religion und Glaube habe. Ist mein Glaube sinnvoll? Ist er tragfähig? Begleitet Gott tatsächlich? Und wie es ist mit all dem Leiden, das ich sehe? Die Fragen nicht zu vergessen, die uns bewegen und die sich nicht einfach beantworten lassen, ist nicht selbstverständlich. Schön ist, nicht alleine zu bleiben mit diesen Fragen, sondern jemanden zu haben, mit dem ich über diese „großen Fragen“ reden kann.

 

 

 

Freitag 14. Januar 2011

Max Frisch hat in seinen Tagebüchern Ende der 60er Jahre „Fragebogen“ veröffentlicht. Seine Fragen sind überraschend, anregend…

Wissen Sie in der Regel, was Sie hoffen?

Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?

Kennen Sie die Hoffnung Ihres Partners, Ihrer Partnerin?

 

Oder er fragt:

Haben Sie Ihre Lebensgefährtin gewählt?

Wenn Ihre derzeitige Ehe als glücklich zu bezeichnen ist: Worauf führen Sie das zurück?

Möchten Sie Ihre [eigene] Frau sein?

Was fehlt Ihnen zum Glück?
Wofür sind Sie dankbar?

 

Es ließen sich viele weitere Fragen anfügen. Vielleicht ist es auch ein bisschen viel am frühen Morgen. Mich regen diese Fragen an, auch über die gewohnten Grenzen hinaus zu denken, das Fragen und das Denken nicht einzuschränken auf das, was immer schon so war.

 

 

 

Samstag 15. Januar 2011

Ich habe Ihnen in den vergangenen Tagen Fragen zugemutet – Fragen, die wir stellen, und Fragen, die wir oft nicht zu stellen wagen. Charles Schulz, der Vater der erfolgreichen Cartoons mit Charlie Brown und Snoopy, arbeitet auch mit Fragen. In einem Cartoon stellt Charlie Brown seinem Freund Linus die Frage: "Denkst du oft an die Zukunft?", und Linus antwortet: "Ja, immerzu." Und was möchtest du werden, wenn du groß bist?, fragt Charlie Brown weiter, und Linus antwortet: "Unwahrscheinlich glücklich."

 

Eine berührende Antwort auf eine zentrale Frage: Was möchtest Du werden, wenn Du groß bist?“ Ob ich mich noch trauen würde, eine solche Antwort zu geben: „Unwahrscheinlich glücklich“.

 

Gerne wünsche ich Ihnen am Beginn dieses neuen Jahres: dass wir die Fragen nicht übersehen, die das Leben heuer an uns stellen wird, dass wir uns trauen, die für uns wichtigen Fragen zu stellen. Und dass Ihre Antwort immer wieder so unbeschwert sein kann wie die Antwort von Linus: "Was möchtest du werden, wenn du groß bist? - Unwahrscheinlich glücklich."