Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 


von Pfarrer Marco Uschmann (Wien)

 

 

Sonntag, 5.6.2011

Du bist mehr – als Du glaubst. Es scheint so, dass Religion immer mehr zur Privatangelegenheit wird. Die Kirchen werden leerer und leerer, ausgenommen vielleicht noch zu Weihnachten. Mehr und mehr Menschen sagen, dass sie keine Kirche brauchen, um an Gott zu glauben. Das mag schon stimmen, wenn es darum geht, sich zurückzuziehen und ins Gebet zu versenken. Wer aber macht das schon? Glaube ist doch auch eine höchst weltliche Angelegenheit, denn Glaube muss sich ja in der Welt zeigen. So kann man, meiner Meinung nach, durchaus sagen, dass Glaube als Privatangelegenheit nicht reicht. Es fehlen die Gespräche mit den Anderen, es fehlen die gemeinsamen Vorhaben, in denen Glaube Gestalt gewinnt. Das geht nur gemeinsam und manchmal ist das viel schwieriger, als wenn man alles mit sich allein ausmacht. Allein können die Menschen auch viel weniger auf die Beine stellen, als wenn viele von einer Idee überzeugt sind und diese dann realisieren. Aber Glaube bedeutet ja nicht nur Arbeit, sondern auch Feiern. Schließlich heißt es ja auch, dass Gottesdienste gefeiert werden. Auch dies geschieht gemeinsam und vereint die vielen Ideen und Fantasien, die die Menschen im Glauben mitbringen. Du bist mehr als Du glaubst – Kirchen feiern dies immer sonntags. Die evangelisch-lutherische Kirche macht am 18. und 19. Juni ein ganz besonderes Fest daraus: Ein österreichweites Fest in über 90 Pfarrgemeinden.

 

 

 

Montag, 6.6.2011

Du bist mehr – als du verdienst. Das hört sich komisch an, gerade in Zeiten, in denen alles nach Cent und Euro gemessen wird. Das hat ja auch durchaus seine Berechtigung, denn ich muss wissen, was ich am Monatsersten am Konto habe. Nur so kann ich den Monat planen und kalkulieren, was ich mir leisten kann und was nicht. Damit das gelingt, sind viele Menschen täglich unterwegs ins Büro, auf die Baustelle oder ins Geschäft. Und immer mehr müssen dies auch sonntags tun, eben damit sie genug verdienen. Das kann leicht zu einer Tretmühle werden von morgendlichem Aufstehen, in die Arbeit fahren, Einkaufen gehen, dann nach Hause und dann beim Abendfilm einschlafen. Und am nächsten Tag derselbe Ablauf, tagaus – tagein, jeden Monat wieder. Dazu kommt dann noch gar nicht so selten, dass der Lohn nur ganz knapp zum Leben reicht.

Du bist mehr, als du verdienst. Das sagen die Kirchen den Menschen. Gemeint ist damit, dass Gott den Menschen anders sieht. Denn Gott will, dass es den Menschen gut geht. Das könnte doch bedeuten, einmal innezuhalten. Und sich bewusst zu machen, dass es auch anderes gibt im Leben. Mir fallen die Menschen ein, die ich liebe, die Familie. Und schließlich auch ich selbst und was ich mir so Gutes tue. Du bist mehr – als Du verdienst. Wenn das kein Grund zum Feiern ist.

 

 

 

Dienstag, 7.6.2011

Du bist mehr – als du denkst. Eigentlich hat doch jeder und jede eine bestimmte Vorstellung von sich selbst. Dazu gehört etwa das Aussehen oder wie zufrieden man mit dem ist, wie man seinen Mitmenschen begegnet. Seien wir ehrlich: Diese Bilanz fällt meistens nicht so gut aus. Viele sind erbarmungslos kritisch mit sich selbst. In der Klasse meines Sohnes etwa gab es Mädchen, die haben sich zur Matura eine Korrektur ihrer Nase gewünscht. 

Für die so genannten inneren Werte leben ganze Heerscharen davon, Menschen ihr Selbstbewusstsein wieder aufzurichten. Dabei haben die Menschen um uns herum ein ganz anderes Bild von uns, als wir selbst. Da mag einer denken, seine Arbeit sei weniger wichtig als die der Anderen. Für die Kollegen aber ist er unverzichtbar, weil ohne ihn ihre eigene Arbeit nicht möglich wäre. Oder zu Hause, wenn Vater oder Mutter immer für die Kleinen da sein müssen und irgendwann einfach nur noch erschöpft sind. Für den Nachwuchs aber sind sie der Garant für eine ruhige Nacht oder der Fels, wenn man im Liebeskummer zu ertrinken droht.

Du bist mehr, als du denkst. Das gilt auf jeden Fall für die Menschen um uns herum. Aber das gilt auch für Gott. Denn Gottes Vorstellung von uns geht weit über das hinaus, was wir von uns denken. Daraus kann man sogar ein Fest machen – genau das tut die evangelisch-lutherische Kirche am 18. und 19. in vielen Pfarrgemeinden: Du bist mehr – als Du denkst. Wenn das kein Grund zum Feiern ist.

 

 

 

Mittwoch, 8.6.2011

Du bist mehr – als Du erwartest. Die meisten Menschen haben ganz bestimmte Vorstellungen davon, was sie vom Leben erwarten. Meist ist das recht bescheiden: Da kommt als erstes einmal Gesundheit, dann ein Arbeitsplatz, eine Partnerschaft, Kinder vielleicht, Freundschaften, der jährliche Urlaub. Das ist der Traum vom gelingenden Leben. Da gibt es aber welche, die sagen, das ist schon viel, wer hat das alles? Hier zeigt sich, dass der Mensch sein Leben nicht in der Hand hat und dass das Lebensglück nicht von einem selbst abhängt. Gelingendes Leben kann der Mensch nicht selber machen. So liegt es nicht in der eigenen Hand, einen passenden Partner oder eine passende Partnerin zu finden. Sonst gäbe es nicht so viele Menschen, die allein durchs Leben gehen. Und dass eine Ehe heutzutage längst nicht mehr das ganze Leben lang halten muss, zeigt der Blick auf die Scheidungsrate. Nein, der Mensch ist eben nicht seines eigenen Glückes Schmied.

Dennoch gehört zum Menschen dazu, dass er Erwartungen an das Leben hat und diese Erwartungen auch nennt. Die Adresse dafür ist Gott. Die Kirchen nennen dieses Gespräch mit Gott beten. Im Gebet dürfen die Menschen all ihre Erwartungen an das Leben vorbringen. Aber das allein macht den Menschen nicht aus. Du bist mehr, als Du erwartest, würde Gott antworten. Das Leben und die Schöpfung Gottes sind reich, viel reicher, als die meisten Menschen es sich erwarten. Die Kirchen sprechen davon – du bist mehr, als Du erwartest.

 

 

 

Donnerstag, 9.6.2011

Du bist mehr – als du leistest. Aber Leistung durchzieht ja das ganze Leben, schon allein wenn ich an die Arbeit, die Schule oder etwa den Sport denke: Der Spruch „Dabei sein ist alles“ zählt schon längst nicht mehr. Etliche Freizeitsportler helfen etwa bei einem Marathon nach und im Profisport scheinen unterstützende Medikamente unverzichtbar zu sein. In der Schule geht es ohne Leistung ja gar nicht – denn wer weiter kommen will muss die Leistung erbringen, die der Lehrplan vorschreibt. Das ist im Grunde auch gut so.

Gefährlich wird es, wenn Menschen sich über ihre Leistung definieren. Da bricht dann eine Welt zusammen, wenn einige Zehntelsekunden fehlen oder wenn es kein Einser oder Zweier geworden ist. Schnell wird alles unternommen, um die Leistung wieder zu erbringen, sei es noch mehr Training oder noch mehr Lernen. Aber da gibt es doch mehr, das den Menschen ausmacht. Da sind seine Gefühle, da sind die anderen Interessen, und da ist auch jemand, der einem das sagt: Du bist mehr als Du leistest. Bei Gott ist es nämlich vollkommen uninteressant, was ein Mensch leistet. Interessant ist für Gott, dass der Mensch lebt, wie sein Schöpfer es vorschlägt: Frei von Zwängen, immer mehr leisten zu müssen und daran womöglich zu zerbrechen. Das verkünden Menschen in den Kirchen. Die evangelisch-lutherische Kirche feiert sogar ein großes Fest deswegen: Am 18. und 19. Juni heißt es in über 90 Pfarrgemeinden: Du bist mehr.

 

 

 

Freitag, 10.6.2011

Du bist mehr als Du bist. Das klingt zunächst einmal komisch. Denn was ein Mensch ist, das kann man doch leicht sehen: Ein Mann oder eine Frau, ein Kind. Reich oder arm, gesund oder krank, lustig oder traurig. Schon diese Aufzählung zeigt, dass der Mensch höchst unterschiedlich ist, denn an einem Tag ist jemand froh, am anderen ist er traurig. Der Mensch ist aber mehr als seine Stimmungen und Befindlichkeiten. Und ob jemand als Regalbetreuerin, Geschäftsführerin, Rauchfangkehrer oder Arzt arbeitet macht einen Menschen auch nicht aus. Besonders augenfällig wird dieses Denken schließlich bei der Staatsangehörigkeit. Da gibt es dann auf einmal ein sogenanntes Asylproblem, weil Menschen aus vermeintlich falschen Staaten nach Österreich kommen wollen. Sie alle, ob Regalbetreuerin, Geschäftsführerin oder Arzt, ob Flüchtling oder Rauchfangkehrer, sind mehr als sie nach außen hin darstellen. Sie sind mehr als sie leisten oder nicht leisten, sie sind mehr, als sie im Geldbörsel haben oder nicht haben. Aber eines eint sie bei aller Unterschiedlichkeit: Sie alle sind Gottes Geschöpfe. Damit bekommen sie gesagt: Du bist mehr. In Gottes Augen sind die Menschen unabhängig von ihren Leistungen und Erfolgen. Oder Misserfolgen. Die Antwort der Christinnen und Christen darauf ist die Taufe, mit der sie sagen: Ja, ich weiß und hoffe, dass ich mehr bin, als ich nach außen hin erscheine und leiste.

 

 

 

Samstag, 11.6.2011

Immer wieder heißt es, die Kirchen würden an den Menschen vorbeireden. Was die Kirchen zu sagen haben, will heutzutage niemand mehr hören, heißt es. Das gipfelt dann in dem Vorwurf, die Kirchen seien einfach nicht bei den Menschen und dem, was sie beschäftigt. Denn vielen geht es ja darum, dass sie ihren Alltag bewältigen, wie sie ihre Kinder großzuziehen, die Herausforderungen im Job zu meistern oder mit dem Geld ein Auslangen zu finden. Das alles ist schwierig und anstrengend genug. So anstrengend, dass man leicht vergisst, dass da noch mehr ist, das den Menschen ausmacht. Genau das ist es, was die Kirchen den Menschen zu sagen haben: Du bist mehr, als du leistest oder verdienst. Du bist mehr, als du denkst. Aus diesem Gedanken heraus hat die evangelisch-lutherische Kirche eine Aktion gestartet: „Du bist mehr“, heißt es in über 90 evangelischen Pfarrgemeinden am 18. und 19 Juni. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirchen gehen auf die Straßen und laden die Menschen ein, genau das zu feiern: Du bist mehr. 

Es soll natürlich nicht bei diesem einen österreichweiten Fest bleiben: Die Pfarrgemeinden laden auch unterm Jahr ein, in Veranstaltungen zu erleben, was es heißt, dieses „Du bist mehr“.