Man kann sie als Gängelung für
vernünftige Menschen verstehen oder sie, wie auch schon zu hören
war, die „zehn großen Freiheiten“ nennen: Die Zehn Gebote prägen das
Leben. Und sie gehören nicht nur zu dem, was man so gern die
„europäischen Werte“ nennt, sie gestalten weltweit das Miteinander
der Menschen.
Die Zehn Gebote haben eine
Überschrift. „Ich bin der Herr, dein Gott“ ist nicht nur die
Headline, sondern gleich das erste Gebot. Und wer die Liste der
übrigen neun im 2. Buch Mose genau anschaut, vor allem die ersten
drei, der sieht, was damit gemeint ist. Gott ist es, der das
Zusammenleben bestimmt, auch das mit ihm selbst.
Er duldet keine anderen Maßstäbe,
keine „Götter“ neben sich. Er lehnt alle fixen Vorstellungen und
Bilder ab, die man sich von ihm konkret machen könnte. Sein Name
darf nicht für Unsinn beansprucht und damit „missbraucht“ werden.
Und er will, dass Menschen an einem Tag der Woche nichts tun als
sich über all das in Ruhe Gedanken zu machen.
Das kann nur heißen: Gott steht am
Anfang allen menschlichen Miteinanders. Wie eine Woche ohne den
Sonntag als erstem Tag keine vollständige Woche wäre, so sind alle
Regeln für das menschliche Zusammenleben, an deren Anfang nicht Gott
steht, ohne Basis. Ein hoher Anspruch für jeden Tag, der vor mir
liegt.
Montag 4.7.2011
Das Interessanteste an dem biblischen
Gebot „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ ist seine
Begründung: „…auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der
Herr, dein Gott, geben wird“. Die altertümlich klingenden Worte
erinnern an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und an die
damit verbundenen Hoffnungen. Auf jeden Fall aber zeigen sie: Das
Verhältnis der Generationen zueinander hat mit gesellschaftlichem
Wohlergehen zu tun. Der Streit um Sinn oder Unsinn des
„Generationenvertrags“ oder gar die häusliche Gewalt, die sich oft
genug zwischen den Generationen abspielt, zeigen ja nur: Wenn das
Miteinander zwischen Alt und Jung trotz Traditionsabbruch und rasend
schnellen Veränderungen wirklich gelingt, gehen wichtige Dinge im
Land weiter.
Da setzen die einen ihre tatsächlichen
oder angeblichen Erfahrungen und Rechte nicht absolut, da drücken
die anderen das Neue und Andere nicht einfach durch, da geben
vielmehr auf beiden Seiten Verständnis und Rücksichtnahme den Ton an
und das Wissen, aufeinander angewiesen zu sein. Und jeder und jede
kann lange und gut leben im Lande. Und in einer Gesellschaft, von
der Christinnen und Christen glauben, dass sie die Verantwortung für
sie von Gott erhalten haben.
Dienstag 5.7.2011
Zugegeben, das Gebot „Du sollst nicht
töten“ galt in alttestamentlicher Zeit sozusagen nur „im
Privatbereich“. Das Töten im Krieg und auf Grund von Strafen war
legitim. Ich halte es für ein großes Glück, dass wir das heutzutage
anders sehen.
Von vielen Menschen – wenn auch leider
nicht von allen – wird die furchtbare Schuld empfunden, die ein
Krieg mit sich bringt, gleichgültig ob er als Angriffskrieg oder zur
Verteidigung geführt wird oder einseitig als Guerillakrieg gegen
einen ideologischen Feind. Wo Kindersoldaten in den Tod geschickt
werden oder Familienväter von Autobomben zerfetzt werden, ist klar:
Krieg darf nicht sein!
Weniger empfindlich ist man im zivilen
Bereich. Das berühmte, stets falsch verstandene „Auge um Auge“ ist
noch immer im öffentlichen Bewusstsein tief verankert. Der Platz
hinter der Glasscheibe eines Hinrichtungsraumes scheint für
Angehörige von Verbrechensopfern noch immer therapeutische Wirkung
zu haben. „Gerechtigkeit“ scheint wiederhergestellt, aber „gut
geworden“ ist damit nichts. Für keinen der Beteiligten.
Denn „Du sollst nicht töten“ heißt:
Das Auslöschen eines Menschenlebens, egal aus welchem Grund, wirkt
zerstörerisch für viele und für vieles. Es hat unabsehbare Folgen.
Gott lässt sich sein Ebenbild nicht kaputtmachen.
Mittwoch 6.7.2011
Dass das Gebot „Du sollst nicht
ehebrechen“ nach lutherischer und römisch-katholischer Zählung
ausgerechnet das sechste ist, hat schon viele schmunzeln lassen. So
ist es zum „Sex“-Gebot oder gar Sex-Verbot geworden. Und dabei meint
es doch so viel mehr. Ja, es denkt an die Momente, in denen sich
Partner und/oder Partnerinnen körperlich sehr nahe kommen. Aber vor
allem denkt es an das tiefe Vertrauen zwischen zwei Menschen, das
damit verbunden ist. Und es erinnert nicht nur freundlich daran,
sondern es macht kurz und energisch darauf aufmerksam, was es
bedeutet, dieses Vertrauen aufs Spiel zu setzen, oder besser gesagt,
es ganz zu zerstören. Es bedeutet in aller Regel tiefe menschliche
Enttäuschung und Verletzung. Es bedeutet Verwundungen, die lange
anhalten, manchmal gar nicht heilen. Um das zu beobachten muss man
kein Psychologe sein.
Das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“
fragt: Ist es dir so viel wert, in deine Beziehung einen „doppelten
Boden“ einzuziehen, den Alltag auf Lüge und Täuschung aufzubauen,
quälendes Misstrauen entstehen zu lassen bei einem Menschen, dem du
viel bedeutest?
Es geht um Vertrauen - und es geht um
Verantwortung. Um Verantwortung meiner Partnerin, meinem Partner
gegenüber. Da gibt es nichts mehr zum Schmunzeln, denn letztlich
eingefordert wird diese Verantwortung von Gott selbst.
Donnerstag 7.7.2011
Ich bin nicht der Meinung, dass
Eigentum automatisch gleich Diebstahl ist. Aber das Gebot „Du sollst
nicht stehlen“, das in der Bibel ohne nähere Begründung einfach so
dasteht, gibt mir zu denken. Da ist das riesengroße Gefälle zwischen
den Hälften unserer Erdkugel, die groben Unterschiede zwischen
denen, die viel haben und denen, denen fast alles fehlt. Was habe
ich ihnen weggenommen, ich, dem es nach landläufigen Maßstäben gut
geht? Und warum ist es so schrecklich, dass immer mehr Menschen
versuchen, an meinem Wohlstand teilzunehmen. Selbst dann, wenn sie
in ihrer Heimat nicht von Folter und Mord, sondern „nur“ vom Hunger
bedroht sind und man sie verharmlosend „Wirtschaftsflüchtline“
nennt?
Martin Luther war kein
Globalisierungskritiker, dennoch dachte er an so etwas wie eine
andere Wirtschaftsordnung. Zum Gebot „Du sollst nicht stehlen“
meinte er, wir sollten „unsers Nächsten Geld oder Gut“ nicht „mit
falscher Ware oder Handel an uns bringen“. Vielmehr sollten wir „ihm
sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten“.
Falsche Ware, falscher Handel mit
unseren Nächsten „da unten“ ohne Rücksicht auf ihr „Gut“ und ihre
„Nahrung“ - ich fürchte, hier läuft noch immer einiges schief. Die
halbtoten Männer, Frauen und Kinder, die in Lampedusa aus den Booten
geholt werden, sind die Quittung dafür.
Freitag 8.7.2011
„Und alles zum besten kehren.“ Diese
fünf Worte hörte ich als Bub von meiner Mutter immer dann, wenn ich
in irgendeinen Krach mit Schulkollegen, Freunden oder schrecklichen
Erwachsenen geraten war. Gemeint war: Streite nicht, sondern schau
zu, dass die Dinge sich wieder einrenken.
Die fünf Worte stammen aus Martin
Luthers Erklärung zum – nach seiner Zählung – achten Gebot: „Du
sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Man könnte
einfacher sagen „Du sollst nicht lügen“. Weniger einfach, dafür
spannender ist es, dieses strikt klingende Verbot von seiner
positiven Seite aufzurollen. Luther hat es versucht, als er schrieb,
wir sollen unseren Nächsten anstatt ihn mit wilden Behauptungen
niederzumachen, „entschuldigen, Gutes von ihm reden“ und, wie schon
gesagt, „alles zum besten kehren“.
In zahllosen Konflikten und
schwierigen Situationen hat mir dieser Rat meiner Mutter, der
eigentlich von Luther stammt, nicht nur selbst geholfen, sondern er
hat auch bei anderen zu Lösungen und Ausblicken geführt. Aus einem
harten Verbot wird ein hilfreicher Hinweis. Es ist nicht die Lüge,
sondern die Wahrheit, die Probleme löst. Und die Wahrheit ist es,
die frei macht und die Dinge zum besten kehrt.
Samstag 9.7.2011
Es war die Gier, die hinter allem
stand, das unersättliche Immer-mehr-haben-wollen. So erklären sich
viele die große Finanzkrise, von der manche sagen, dass sie bereits
hinter uns liege. Ich weiß nicht, ob es allein am Fehlverhalten
einiger Finanz- und Wirtschaftsbosse lag, dass die Welt an den Rand
ihrer wirtschaftlichen Stabilität geriet. Noch weniger weiß ich, ob
das alles bereits vorbei ist. Was ich weiß ist, dass das Habenwollen
seit Menschengedenken Menschen beschäftigt. „Du sollst nicht
begehren deines Nächsten Haus“ heißt es in den - nach der Zählung
Martin Luthers und der römisch-katholischen Kirche – beiden letzten
der biblischen Zehn Gebote. Und weiter werden da genannt die Frau
des Nächsten, sein Knecht, seine Magd, sein Vieh „und alles was sein
ist“.
Alles, was der andere hat, auch haben
wollen, oder ihm sogar wegnehmen – das ist offenbar ein
tiefsitzender Trieb der Menschen. Dass er sich eigentlich gegen sie
selbst richtet, davor warnen die biblischen Gebote. Deshalb dreht
Luther in einer Erklärung zu diesen Geboten die Dinge um: Wir sollen
unserem Nächsten das Seine „zu behalten förderlich und dienlich
sein“. Von einer neuen Wirtschaftsordnung wird viel gesprochen,
utopische Theorien werden aufgestellt. Läge hierin nicht ein
schlichter, aber zukunftsfähiger Ansatz?