Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Mag. Günter Ertl

 

 

Sonntag 10.7.2011

Unser Leben bleibt ein Fragment

Haben sie schon einmal zugeschaut, wie ein Teppich gewebt wird?

Langsam und in genauer Arbeit wird Faden für Faden gewebt. Fäden in unterschiedlichen Farben.

So entsteht mit der Zeit ein bunter Teppich.

Ich denke, dass ein Teppich ein gutes Symbol für unser Leben ist.

Einige Fäden stehen für unseren beruflichen Einsatz.

Andere stehen für das, was wir geschaffen haben oder noch schaffen - vom Hausbau bis zum Auto.

Wiederum andere Fäden symbolisieren unsere Beziehungen:

Beziehungen zu Partnern und Partnerinnen
Beziehungen zu Kindern
Beziehungen, die wir im Alltag leben und deren Wert wir manchmal erst dann erkennen, wenn sie nicht mehr gelebt werden können.

Da gibt es auch die Fäden in unserem Lebensteppich, die uns das Leben selber hineinwebt, die für Leid und Dunkelheit stehen. Wir können sie nicht herausziehen, sie gehören einfach zu uns dazu.

Wir arbeiten ständig an unserem Lebensteppich. Er ist noch nicht fertig.

Viktor Frankl, der berühmte Wiener Psychiater meinte: Das Leben ist immer etwas Unvollkommenes, Unvollendetes, ein Fragment. Wir Menschen sind täglich herausgefordert, mit dem Unvollkommenen zu leben, das Nicht-Perfekte unseres Lebens anzunehmen und zu gestalten.

 

 

 

Montag 11.7.2011

Auftanken

In ganz Österreich sind jetzt Ferien und viele Menschen machen in den nächsten Wochen Urlaub.

Wie werden sie die Zeit verbringen? Wie werden sie auftanken? Was tut ihnen in dieser Zeit gut?

Die Urlaubszeit bietet eine große Chance.

Auszusteigen aus der Hektik des Alltags. Sich zu fragen, was denn mein Leben als Mensch ausmacht, wofür ich mich einsetzen mag und was mein Leben mit Sinn erfüllt.

Dazu braucht es ein gewisse Ruhe und Zurückgezogenheit.

In der Ruhe und Stille kann die Seele durchatmen. Die Stille ist aber nicht auf den Gipfeln der Berge, und der Lärm ist nicht auf den Märkten der Stadt - beides ist im Herzen des Menschen.

In der Stille kann ich meine Mitte wieder finden

Die Urlaubszeit bietet auch die Chance sich auf  jene Menschen wieder einzulassen, die mir wichtig sind.

Diese gemeinsame Zeit schafft Nähe und Geborgenheit und kann den Horizont auf etwas öffnen, das weit über unser Verstehen und Erkennen hinausgeht. Es schenkt uns eine Ahnung von dem, was wir mit Gott verbinden.

Es ist das tiefe Gefühl, dass alles "gut" ist.

Dieses Gefühl möge sie am heutigen Tag begleiten.

 

 

 

Dienstag 12.7.2011

Vom Leben berührt

"Alles wirkliche Leben ist Begegnung" - so lautet ein Ausspruch des berühmten Religionsphilosophen Martin Buber.

Manchmal schenkt uns das Leben sehr berührende Begegnungen, mit denen wir nicht gerechnet haben.

Vor einigen Wochen war ich auf dem Weg zu einer Benefizveranstaltung.

Auf dem Weg dorthin kam ich bei einem Parkplatz vorbei. In einem Auto saß ein junger Mann, grüßte mich freundlich und bat mich, ihm seinen Rollstuhl aus dem Kofferraum zu geben.

Das war gleich erledigt und fast war ich in Versuchung ihm schnell Unterstützung anzubieten. Aber ich bemerkte sofort, dass dies unpassend gewesen wäre, denn er konnte sich selber gut helfen. In meiner Praxis als Psychotherapeut erlebe ich oft, dass "gut gemeint" nicht immer gut ist.

Er erzählte mir von sich aus, dass er in Folge eines Verkehrsunfalles auf den Rollstuhl angewiesen sei. Er könne alleine Autofahren und er habe auch einen Job, der ihn erfüllt.

 Die Offenheit und seine  Zugänglichkeit  berührten mich sehr.

Der Mann im Rollstuhl ist innerlich frei und gesund geblieben. Dies schenkt ihm die Möglichkeit tiefer Begegnungen. Davon können wir lernen.

Ich wünsche uns heute einen Tag an dem wir uns durch das Einlassen auf unseren Nächsten selber reichlich beschenken.

 

 

 

Mittwoch 13.7.2011

Dankbarkeit

Vieles in unserem Leben wird im Laufe der Zeit selbstverständlich.

Beziehungen, der Job, Gesundheit, Freizeit, der gedeckte Tisch, verschiedenste Absicherungen.

Das hat sein Gutes. Wir brauchen nicht ständig darüber nach zu denken wie es morgen sein wird.

Ein Bekannter von mir hatte vor einiger Zeit eine schwere Operation, die er gut überstanden hat.

Er erzählte mir, dass er viel Zeit zum Nachdenken hatte, was alles passieren hätte können. Er sei sehr dankbar, dass alles gut gegangen sei. Er habe erkannt, dass es nicht selbstverständlich wäre, zu leben, keine Schmerzen zu haben, einen Job zu haben, eine liebe Familie zu haben.

Seit dieser Erfahrung vergehe kein Tag, wo er nicht am Abend darüber nachdenke, wofür er dankbar sein könnte.

Diese Worte haben mich tief berührt.

Ich denke, dass wir nicht immer ein einschneidendes Ereignis brauchen, um zu erkennen, dass wir das Leben nicht bis ins Letzte planen können.

Ich möchte sie einladen heute auf alle Zeichen von Freude, Zuneigung, Nähe und Wohlwollen zu achten, die mitten im Alltag mit offenem Blick zu entdecken und zu spüren sind und für die sie heute Abend dankbar sein können.

 

 

 

Donnersag 14.7.2011

Von der Freundschaft

Immer mehr Menschen haben in  ihren Autos Navigationsgeräte, die ihnen den Weg anzeigen.

In unserem Leben ist es nicht immer so, dass wir den richtigen Weg kennen, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen im privaten oder im beruflichen zu treffen oder wenn wir Krisen zu bewältigen haben.

Eine gute Freundschaft zu einem Menschen kann da sehr hilfreich sein.

In der freundschaftlichen Begegnung darf ich schwach sein, ich darf weinen, da ist jemand bei mir, der mir zuhört und nicht gleich alles besser weiß, ich darf alles sagen, ohne es auf die Waagschale legen zu müssen. Da fühle ich mich aufgehoben, weil ich weiß, dass ich nicht verurteilt werde.

Freundschaften entstehen durch Vertrauen und Geduld. Ich kann sie nicht erzwingen.

Wenn Menschen keine Freundschaften pflegen, bleiben sie innerlich einsam.

Die Einsamkeit kann erst dann spürbar werden, wenn das Leben die gewohnten Bahnen verliert.

Anselm Grün meint: "Neben der Liebe bedarf jeder Mensch der Freundschaft, wenn er nicht Schaden an seiner Seele nehmen will."

Vielleicht ist gerade heute ein guter Tag dafür, mit ihrem besten Freund oder ihrer besten Freundin Kontakt zu suchen.

 

 

 

Freitag 15.7.2011

Darf ich so sein wie ich bin?

Darf ich so sein, wie ich bin?

Das hat sich wohl schon jeder einmal gefragt.

In der Existenzanalyse Alfred Längles ist dies der zentrale Punkt, der das Selbstwertgefühl von uns Menschen berührt.

Das Selbstwertgefühl wird unter anderem durch das Lob gestärkt. Wir Menschen scheinen so gebaut, dass wir hin und wieder hören wollen: das hast du gut gemacht.

Wir brauchen Lob, Anerkennung und Wertschätzung, sei es in der Partnerschaft, in der Begegnung mit den Kindern oder im Berufsleben.

Das Lob von anderen lässt uns aufblühen, es sagt uns, dass ich so sein darf, wie ich bin, mit meinen Fähigkeiten, mit meinen Begabungen und Erfolgen und mit der Art, wie ich mein Leben gestalte.

Das Lob sagt uns: du kannst dich sehen lassen, du bist keine Null, du bist für andere wichtig, da gibt es jemanden, der stolz auf dich ist.

Ich wünsche ihnen, dass es ihnen gelingt, Lob anzunehmen und auch andere zu loben. Vielleicht wartet jemand schon lange darauf.

 

 

 

Samstag 16.7.2011

Was ist ihre tiefste Sehnsucht?

Was ist die tiefste Sehnsucht in ihrem Leben?

Die Antworten darauf fallen ganz unterschiedlich aus: genug Geld, Freundschaften, Gesundheit, eine Familie.

Von Leuten in meiner Umgebung, die 60 Stunden in der Woche arbeiten, höre ich: ich möchte endlich genug Zeit für mich haben,

Wenn ich die Frage in meiner Praxis stelle, höre ich: dass der Schmerz endlich aufhört, dass ich die Angst wegbekomme, dass ich wieder normal leben kann.

Von Viktor Frankl stammt der Ausspruch: Wer ein WOZU in seinem Leben findet, erträgt fast jedes WIE.

Wir Menschen wollen, dass das was wir tun zunächst für uns und in Folge auch für andere sinnvoll ist. Wir möchten das Gefühl haben, nicht ins Leere hinein zu leben, nicht entfernt von dem zu leben, was wir sind. Denn dies macht uns krank.

Das eigene Leben sinnvoll gestalten, kann nur ich selber. Es ist mein Leben und ich lebe und werde nicht gelebt. Das kann zwar mühsam und schwierig sein, aber es schenkt einen tiefen inneren Frieden.