Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Ebru Noisternig (Wien)

 

 

Sonntag, 17.7.2011

„Ebrum, meine Ebru, du warst erst 40 Tage alt, als ich dich das erste Mal in den Händen hielt“, sagte mir mein Opa immer. In einem roten Strampelanzug, mit einem Schnuller im Mund, eingebettet in eine rote Babytragetasche, getragen von meiner Oma, trat ich meinen ersten Flug an und flog aus dem Land meiner Geburt Deutschland in die ursprüngliche Heimat meiner Eltern nach Ankara. Meine Eltern waren erst Mitte 20 als sie damals, in den 70er Jahren, als Gastarbeiter nach München kamen, um einige Jahre in Deutschland zu arbeiten, Geld zu sparen und dann ins Heimatland, in die Türkei zurückzukehren. Damals wollten sie mich nur für ein paar Jahre der Obhut meiner Großeltern übergeben, denn sie wussten ja, sie kämen bald in die Türkei zurück. Ein bisschen mehr als ein „ paar Jahre“ wurden schon daraus, denn ich flog erst mit 11 Jahren in die entgegengesetzte Richtung, nach Deutschland, meinem Geburtsland, zurück; diesmal gemeinsam mit meiner „neuen“ Familie, meinen Eltern und meinem Bruder, die ich ja im Grunde genommen nur von ihren Besuchen in den Ferien kannte.

Schmerzhaft war die Trennung von meiner ersten Familie, meinen Großeltern. Die letzte Nacht saß ich mit meinem Opa auf dem Balkon, blickte auf die Straße hinaus, wir schwiegen in die Dunkelheit hinein und weinten. Damals wusste ich noch nicht, dass Trennungen zum Leben dazugehören und es einfach die Kraft der Zeit braucht, um die dabei entstehenden Schmerzen zu verarbeiten. So, wie im biblischen Buch Kohelet steht, hat alles wohl seine Zeit. 

 

 

 

Montag, 18.7.2011

Ich bin erst mit 11 Jahren nach Deutschland zu meinen Eltern gezogen. Vorher bin ich in Ankara bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine Eltern lebten als Gastarbeiter in München und konnten sich in diesen ersten Jahren nicht selbst um mich kümmern. Das erste Jahr meiner Ankunft lebten wir in München in einem Ein-Zimmer Appartement zusammen. Hinausgehen durfte ich nur mit meinem Bruder, zum Spielplatz.  

In der Türkei lebte ich in einem bescheidenen Haus mit Garten. Wir waren eine Großfamilie, mit Oma, Opa, Uroma, Onkel, Tanten und mir, der kleinen Ebru, dem jüngsten Sprössling im Haus. Dies war damals meine heile Welt. Eine Welt, in der der Muezzin fünfmal am Tag zum Gebet rief. Eine Welt, in der Sätze, Ratschläge der Älteren Gold wert waren. Eine Welt, in der ich den älteren Personen als Zeichen des Respekts die Hände küsste. Eine Welt, in der ich zu besonderen Festtagen schön und sauber gekleidet von Haus zu Haus ging und den Segen der Nachbarn bekam. Eine Welt, die gelebte Nachbarschaft, Gastfreundschaft und das Chaos der vielen Menschen auf den Straßen in sich geborgen hielt. In meinen Kinderaugen war damals diese Welt klein und fein, denn sie barg Frieden in sich. Die räumliche Entfernung dieser Kindheitswelt in Verbindung mit der zeitlichen Entfernung, birgt natürlich viel Potential für eine verklärende Sicht auf diese meine erste Heimat. Der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll hat es einmal so ausgedrückt: „Heimat ist immer noch Sehnsucht nach der Kindheit.“

 

 

 

Dienstag, 19.7.2011

Ich bin bei meinen Großeltern in Ankara aufgewachsen. Meine Eltern waren Gastarbeiter in München und konnten in diesen ersten Jahren nicht für mich sorgen. Erst mit 11 Jahren zog ich zu ihnen nach Deutschland, in das Land meiner Geburt. 

Einen Monat später ging ich schon meinen ersten Schulweg an der Hand meiner Mutter. Meine Oma fehlte mir. Ihr täglicher Segen, wenn ich mich auf den Weg in die Schule machte „ Ebrum, Allah zihin açıklığı versin sana- Meine Ebru, möge Allah deinen Geist heute öffnen“. Und so betete ich nun innerlich, ganz für mich, in meiner Muttersprache zu Allah, dem Allmächtigen, er möge mir doch beistehen, mich nicht alleine lassen und meinen Geist heute öffnen.

Heute denke ich gerne an diesen Neuanfang zurück, denn diese anfänglichen Momente bargen ein Stück Geborgenheit für mich. Ich bin gerne in die Schule gegangen, denn in dieser Schule fand ich eine Welt, die nicht in einer 40m² Wohnung aufhörte, so wie zu Hause bei meinen Eltern. In dieser Welt war ich mehr als die Tochter meiner Eltern, die immerzu gegen sie rebellierte. Dort war ich einfach nur Ebru und frei. Frei von jeglichen Zwängen und Grenzen, einfach nur frei. Denn die Enge tut meiner Seele nicht gut. Ich brauche das freie Atmen, das freie Denken und das freie Lieben. Und genau dort, wo die Freiheit ist, dort liegt auch ein Stück Heimatgefühl für mich.

 

 

 

Mittwoch, 20.7.2011

Bis zu meinem 11. Lebensjahr bin ich in der Türkei bei meinen Großeltern aufgewachsen. Dann erst bin ich zu meinen Eltern gezogen, die in Deutschland als Gastarbeiter lebten. In München angekommen lernte ich, das türkische Mädchen aus Ankara, ziemlich schnell Deutsch, konnte Vater und Mutter schon bald als Dolmetscherin auf Behördengängen und bei Ärzten zur Seite stehen. Schon damals hatte meine Mutter Angst, dass ich „zu deutsch“ werde und bis heute weiß ich nicht so genau, was sie damit meinte. Meine Eltern und ich haben, denke ich, die typischen Probleme der ersten und zweiten Generation von Migranten erlebt. Die beständige Frage: Wie sehr lasse ich mich ein auf die Fremde, die mir zur neuen Heimat werden kann? Und an welchen Werten meiner Herkunftskultur halte ich fest, weil sie Teil meiner ganz persönlichen Identität sind und ich ohne sie nicht mehr die wäre, die ich bin? Doch ich sehe darin gar nicht zwingend einen Gegensatz: Denn könnte nicht gerade die Wertschätzung der eigenen Wurzeln eine je größere Freiheit ermöglichen, sich offen und neugierig einer anderen Kultur zu nähern? Oder wie es der italienische Filmregisseur Federico Fellini einmal ausgedrückt hat: „Niemand darf seine Wurzeln vergessen. Sie sind Ursprung unseres Lebens.“

 

 

 

Donnerstag, 21.7.2011

Nach einer Kindheit in der Türkei, erlebte ich meine Jugend als Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie in Deutschland, lernte die deutsche Sprache, hatte auch deutsche Freunde. Doch innerlich war ich immer noch nicht in der neuen Heimat angekommen. Tief drinnen in meinem Herzen sehnte ich mich nach der Türkei.  

Ich komme aus einer alevitischen Familie. In diesem Lebensabschnitt setzte ich mich auf der Suche nach meiner eigenen Identität auch intensiv mit der Frage nach Gott auseinander und entdeckte für mich Jesus, den Christus. Ich kannte ihn ja schon aus meiner eigenen alevitischen Tradition als Propheten und den Sohn der Maria. Um aus der christlichen Sicht Jesus kennen und lieben zu lernen habe ich letzten Endes ein Jahrzehnt gebraucht. Doch dieser, mein persönlicher Glaubensweg lehrte mich, das Leben zu fühlen, voll und ganz.

Ich hatte auch noch nie Scheu, über meine Spiritualität zu sprechen: Meine erste Predigt hielt ich schon mit 17. Damals fragte die Klassenlehrerin, wer denn gerne die Predigt zum Schulgottesdienst am Anfang des Jahres halten möchte? Sie hätte gern zwei von uns gehabt. So vorlaut wie ich war, meldete ich mich und bat meine beste Freundin, mit mir dies zu tun. Wir bekamen die Aufgabe, doch heute noch muss meine Freundin über meine anschließende Frage lachen. „ Pamela, was ist überhaupt eine Predigt?“

 

 

 

Freitag, 22.7.2011

Immer, wenn es mir als Jugendliche zu Hause zu eng wurde, wenn es zu viel Streit und lautes Gerede gab, bin ich in die Kirche gleich neben unserer Haustür geflohen. Bis heute bin ich über die offenen Türen der Kirchen so dankbar, denn für mich waren sie nicht nur ein Zufluchtsort, sondern ein Ort des freien Atmens, des freien Singens und des Betens. Das Eintreten in die Kirche war und ist für mich immer ein Eintritt in die Stille und in einen Raum, in dem ich einfach die Augen schließen und Gott in mein Herz hineinlassen kann. Ich habe geweint in Kirchen, habe gebetet in Kirchen, ich habe Gott um Hilfe gebeten in Kirchen, die Kirche als ein Haus Gottes war meine erste Entdeckung.

Ich glaube, dass es mein Schicksal ist, zwischen zwei Welten zu leben. Ich war und bin ein Kind von Migranten. Ich wuchs als ein türkisches Mädchen in einer deutschen Umgebung auf. Nun lebe ich in Österreich als eine Christin und Deutschtürkin aus München. Letzten Endes bin ich ein Mensch, eine Frau und Mutter. Meine Heimat ist meine kleine Familie in Österreich, denn Heimat ist dort, wo ich weine, wo ich streite, wo ich lache und wo ich atme, das Leben genieße, voll und ganz.

Das Gefühl, dazwischen zu sein, wird mir als ein Grundgefühl immer bleiben. Jedoch ist es gut so, denn zwischen den Welten existiert eine Welt, die genau eine Mischmenge aus zwei Kreisen enthält. Und genau dieses Gemisch aus beiden Welten ist so wunderbar bunt, dass ich gar nicht mehr auf sie verzichten kann.

 

 

 

Samstag, 23.7.2011

Bis zu meinem 11. Lebensjahr bin ich bei meinen Großeltern in Ankara aufgewachsen. Anschließend kam ich nach München zu meinen Eltern und verbrachte mein Leben bis zu meinem 25. Lebensjahr bei ihnen. Und dann ging es weiter nach Wien. Bei diesem Nomadendasein wird mich wohl die Frage nach einer Heimat nie loslassen. Heimat bedeutet für mich Geborgenheit, Beständigkeit und Aufgehoben sein. Doch ich denke, dass ich kein Land benötige, um all diese Bedeutungen darin zu finden. Ich weiß, dass ich bei Gott geborgen und aufgehoben bin. Bei ihm habe ich Sicherheit und einfach ein gutes Gefühl. Schon als Kind wusste ich, dass all die Gedanken, die Worte und die Gebete zu Gott fließen und somit nicht verloren gehen. Seit der Geburt meiner Kinder weiß ich ganz fest, dass dieser Gott voll und ganz den Begriff eines Schöpfers verdient. Menschsein ohne ein Gottsein gibt es für mich nicht. Wie der Beter der Psalmen, so habe auch ich immer wieder nach dem Angesicht Gottes gesucht und mich danach gesehnt. Wenn ich heute meine beiden Engel anblicke, Tag für Tag, dann weiß ich es zu ahnen, wie dieses Angesicht sein kann und sein wird. Ich bin Gott dankbar dafür, dass er den Menschen die Möglichkeit gibt, in ihren Kindern ein Stück des Göttlichen einzufangen und zu ehren. So ist also für mich meine Heimat dort, wo ich Gottes Züge zu entdecken glaube und einfach nur erahnen darf.