„Ebrum, meine Ebru, du warst erst 40 Tage alt, als ich dich das
erste Mal in den Händen hielt“, sagte mir mein Opa immer. In einem
roten Strampelanzug, mit einem Schnuller im Mund, eingebettet in
eine rote Babytragetasche, getragen von meiner Oma, trat ich meinen
ersten Flug an und flog aus dem Land meiner Geburt Deutschland in
die ursprüngliche Heimat meiner Eltern nach Ankara. Meine Eltern
waren erst Mitte 20 als sie damals, in den 70er Jahren, als
Gastarbeiter nach München kamen, um einige Jahre in Deutschland zu
arbeiten, Geld zu sparen und dann ins Heimatland, in die Türkei
zurückzukehren. Damals wollten sie mich nur für ein paar Jahre der
Obhut meiner Großeltern übergeben, denn sie wussten ja, sie kämen
bald in die Türkei zurück. Ein bisschen mehr als ein „ paar Jahre“
wurden schon daraus, denn ich flog erst mit 11 Jahren in die
entgegengesetzte Richtung, nach Deutschland, meinem Geburtsland,
zurück; diesmal gemeinsam mit meiner „neuen“ Familie, meinen Eltern
und meinem Bruder, die ich ja im Grunde genommen nur von ihren
Besuchen in den Ferien kannte.
Schmerzhaft war die Trennung von meiner ersten Familie, meinen
Großeltern. Die letzte Nacht saß ich mit meinem Opa auf dem Balkon,
blickte auf die Straße hinaus, wir schwiegen in die Dunkelheit
hinein und weinten. Damals wusste ich noch nicht, dass Trennungen
zum Leben dazugehören und es einfach die Kraft der Zeit braucht, um
die dabei entstehenden Schmerzen zu verarbeiten. So, wie im
biblischen Buch Kohelet steht, hat alles wohl seine Zeit.
Montag, 18.7.2011
Ich bin erst mit 11 Jahren nach Deutschland zu meinen Eltern
gezogen. Vorher bin ich in Ankara bei meinen Großeltern
aufgewachsen. Meine Eltern lebten als Gastarbeiter in München und
konnten sich in diesen ersten Jahren nicht selbst um mich kümmern.
Das erste Jahr meiner Ankunft lebten wir in München in einem
Ein-Zimmer Appartement zusammen. Hinausgehen durfte ich nur mit
meinem Bruder, zum Spielplatz.
In der Türkei lebte ich in einem bescheidenen Haus mit Garten. Wir
waren eine Großfamilie, mit Oma, Opa, Uroma, Onkel, Tanten und mir,
der kleinen Ebru, dem jüngsten Sprössling im Haus. Dies war damals
meine heile Welt. Eine Welt, in der der Muezzin fünfmal am Tag zum
Gebet rief. Eine Welt, in der Sätze, Ratschläge der Älteren Gold
wert waren. Eine Welt, in der ich den älteren Personen als Zeichen
des Respekts die Hände küsste. Eine Welt, in der ich zu besonderen
Festtagen schön und sauber gekleidet von Haus zu Haus ging und den
Segen der Nachbarn bekam. Eine Welt, die gelebte Nachbarschaft,
Gastfreundschaft und das Chaos der vielen Menschen auf den Straßen
in sich geborgen hielt. In meinen Kinderaugen war damals diese Welt
klein und fein, denn sie barg Frieden in sich. Die räumliche
Entfernung dieser Kindheitswelt in Verbindung mit der zeitlichen
Entfernung, birgt natürlich viel Potential für eine verklärende
Sicht auf diese meine erste Heimat. Der deutsche Schriftsteller
Heinrich Böll hat es einmal so ausgedrückt: „Heimat ist immer noch
Sehnsucht nach der Kindheit.“
Dienstag, 19.7.2011
Ich bin bei meinen Großeltern in Ankara aufgewachsen. Meine Eltern
waren Gastarbeiter in München und konnten in diesen ersten Jahren
nicht für mich sorgen. Erst mit 11 Jahren zog ich zu ihnen nach
Deutschland, in das Land meiner Geburt.
Einen Monat später ging ich schon meinen ersten Schulweg an der Hand
meiner Mutter. Meine Oma fehlte mir. Ihr täglicher Segen, wenn ich
mich auf den Weg in die Schule machte „ Ebrum, Allah zihin açıklığı
versin sana- Meine Ebru, möge Allah deinen Geist heute öffnen“. Und
so betete ich nun innerlich, ganz für mich, in meiner Muttersprache
zu Allah, dem Allmächtigen, er möge mir doch beistehen, mich nicht
alleine lassen und meinen Geist heute öffnen.
Heute denke ich gerne an diesen Neuanfang zurück, denn diese
anfänglichen Momente bargen ein Stück Geborgenheit für mich. Ich bin
gerne in die Schule gegangen, denn in dieser Schule fand ich eine
Welt, die nicht in einer 40m² Wohnung aufhörte, so wie zu Hause bei
meinen Eltern. In dieser Welt war ich mehr als die Tochter meiner
Eltern, die immerzu gegen sie rebellierte. Dort war ich einfach nur
Ebru und frei. Frei von jeglichen Zwängen und Grenzen, einfach nur
frei. Denn die Enge tut meiner Seele nicht gut. Ich brauche das
freie Atmen, das freie Denken und das freie Lieben. Und genau dort,
wo die Freiheit ist, dort liegt auch ein Stück Heimatgefühl für
mich.
Mittwoch, 20.7.2011
Bis zu meinem 11. Lebensjahr bin ich in der Türkei bei meinen
Großeltern aufgewachsen. Dann erst bin ich zu meinen Eltern gezogen,
die in Deutschland als Gastarbeiter lebten. In München angekommen
lernte ich, das türkische Mädchen aus Ankara, ziemlich schnell
Deutsch, konnte Vater und Mutter schon bald als Dolmetscherin auf
Behördengängen und bei Ärzten zur Seite stehen. Schon damals hatte
meine Mutter Angst, dass ich „zu deutsch“ werde und bis heute weiß
ich nicht so genau, was sie damit meinte. Meine Eltern und ich
haben, denke ich, die typischen Probleme der ersten und zweiten
Generation von Migranten erlebt. Die beständige Frage: Wie sehr
lasse ich mich ein auf die Fremde, die mir zur neuen Heimat werden
kann? Und an welchen Werten meiner Herkunftskultur halte ich fest,
weil sie Teil meiner ganz persönlichen Identität sind und ich ohne
sie nicht mehr die wäre, die ich bin? Doch ich sehe darin gar nicht
zwingend einen Gegensatz: Denn könnte nicht gerade die Wertschätzung
der eigenen Wurzeln eine je größere Freiheit ermöglichen, sich offen
und neugierig einer anderen Kultur zu nähern? Oder wie es der
italienische Filmregisseur Federico Fellini einmal ausgedrückt hat:
„Niemand darf seine Wurzeln vergessen. Sie sind Ursprung unseres
Lebens.“
Donnerstag, 21.7.2011
Nach einer Kindheit in der Türkei, erlebte ich meine Jugend als Kind
einer türkischen Gastarbeiterfamilie in Deutschland, lernte die
deutsche Sprache, hatte auch deutsche Freunde. Doch innerlich war
ich immer noch nicht in der neuen Heimat angekommen. Tief drinnen in
meinem Herzen sehnte ich mich nach der Türkei.
Ich komme aus einer alevitischen Familie. In diesem Lebensabschnitt
setzte ich mich auf der Suche nach meiner eigenen Identität auch
intensiv mit der Frage nach Gott auseinander und entdeckte für mich
Jesus, den Christus. Ich kannte ihn ja schon aus meiner eigenen
alevitischen Tradition als Propheten und den Sohn der Maria. Um aus
der christlichen Sicht Jesus kennen und lieben zu lernen habe ich
letzten Endes ein Jahrzehnt gebraucht. Doch dieser, mein
persönlicher Glaubensweg lehrte mich, das Leben zu fühlen, voll und
ganz.
Ich hatte auch noch nie Scheu, über meine Spiritualität zu sprechen:
Meine erste Predigt hielt ich schon mit 17. Damals fragte die
Klassenlehrerin, wer denn gerne die Predigt zum Schulgottesdienst am
Anfang des Jahres halten möchte? Sie hätte gern zwei von uns gehabt.
So vorlaut wie ich war, meldete ich mich und bat meine beste
Freundin, mit mir dies zu tun. Wir bekamen die Aufgabe, doch heute
noch muss meine Freundin über meine anschließende Frage lachen. „
Pamela, was ist überhaupt eine Predigt?“
Freitag, 22.7.2011
Immer, wenn es mir als Jugendliche zu Hause zu eng wurde, wenn es zu
viel Streit und lautes Gerede gab, bin ich in die Kirche gleich
neben unserer Haustür geflohen. Bis heute bin ich über die offenen
Türen der Kirchen so dankbar, denn für mich waren sie nicht nur ein
Zufluchtsort, sondern ein Ort des freien Atmens, des freien Singens
und des Betens. Das Eintreten in die Kirche war und ist für mich
immer ein Eintritt in die Stille und in einen Raum, in dem ich
einfach die Augen schließen und Gott in mein Herz hineinlassen kann.
Ich habe geweint in Kirchen, habe gebetet in Kirchen, ich habe Gott
um Hilfe gebeten in Kirchen, die Kirche als ein Haus Gottes war
meine erste Entdeckung.
Ich glaube, dass es mein Schicksal ist, zwischen zwei Welten zu
leben. Ich war und bin ein Kind von Migranten. Ich wuchs als ein
türkisches Mädchen in einer deutschen Umgebung auf. Nun lebe ich in
Österreich als eine Christin und Deutschtürkin aus München. Letzten
Endes bin ich ein Mensch, eine Frau und Mutter. Meine Heimat ist
meine kleine Familie in Österreich, denn Heimat ist dort, wo ich
weine, wo ich streite, wo ich lache und wo ich atme, das Leben
genieße, voll und ganz.
Das Gefühl, dazwischen zu sein, wird mir als ein Grundgefühl immer
bleiben. Jedoch ist es gut so, denn zwischen den Welten existiert
eine Welt, die genau eine Mischmenge aus zwei Kreisen enthält. Und
genau dieses Gemisch aus beiden Welten ist so wunderbar bunt, dass
ich gar nicht mehr auf sie verzichten kann.
Samstag, 23.7.2011
Bis zu meinem 11. Lebensjahr bin ich bei meinen Großeltern in Ankara
aufgewachsen. Anschließend kam ich nach München zu meinen Eltern und
verbrachte mein Leben bis zu meinem 25. Lebensjahr bei ihnen. Und
dann ging es weiter nach Wien. Bei diesem Nomadendasein wird mich
wohl die Frage nach einer Heimat nie loslassen. Heimat bedeutet für
mich Geborgenheit, Beständigkeit und Aufgehoben sein. Doch ich
denke, dass ich kein Land benötige, um all diese Bedeutungen darin
zu finden. Ich weiß, dass ich bei Gott geborgen und aufgehoben bin.
Bei ihm habe ich Sicherheit und einfach ein gutes Gefühl. Schon als
Kind wusste ich, dass all die Gedanken, die Worte und die Gebete zu
Gott fließen und somit nicht verloren gehen. Seit der Geburt meiner
Kinder weiß ich ganz fest, dass dieser Gott voll und ganz den
Begriff eines Schöpfers verdient. Menschsein ohne ein Gottsein gibt
es für mich nicht. Wie der Beter der Psalmen, so habe auch ich immer
wieder nach dem Angesicht Gottes gesucht und mich danach gesehnt.
Wenn ich heute meine beiden Engel anblicke, Tag für Tag, dann weiß
ich es zu ahnen, wie dieses Angesicht sein kann und sein wird. Ich
bin Gott dankbar dafür, dass er den Menschen die Möglichkeit gibt,
in ihren Kindern ein Stück des Göttlichen einzufangen und zu ehren.
So ist also für mich meine Heimat dort, wo ich Gottes Züge zu
entdecken glaube und einfach nur erahnen darf.