Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 


von Pfarrer Roland Werneck, Wels

 

 

Sonntag, 28.8. 2011

Die Sommer- und Urlaubszeit geht langsam dem Ende zu. Als es noch keine Digitalkameras gab, waren das die Tage, als ich meine Urlaubsfotos zum Entwickeln gebracht und gespannt darauf gewartet habe, ob sie mir gut gelungen sind. Seitdem ich digital fotografiere, fällt diese Wartezeit weg und ich habe viel mehr Urlaubsfotos als früher. Aber warum ist es mir eigentlich so wichtig, im Urlaub und auf Reisen zu fotografieren?
Ich möchte liebe Menschen, schöne Momente, faszinierende Orte für mich festhalten. Es fällt mir schwer, den wunderschönen Blick über die Berge wieder loszulassen. Ich kann mich nicht von dem romantischen Sonnenuntergang über dem Meer trennen. Ich möchte nicht, dass mir diese Erinnerungen verlorengehen, ich möchte sie wieder abrufen können, wenn ich mir die Bilder später einmal anschaue. Fotografieren ist in diesem Sinn ja eine Art Protest gegen die Vergänglichkeit von uns Menschen und dieser Welt.
Manche Menschen sind mit dem Festhalten durch das Fotografieren so beschäftigt, dass es ihnen schwer fällt, besondere Momente ohne den Finger an der Kamera zu genießen. Der Wunsch, Schönes festzuhalten ist manchmal stärker als die Dankbarkeit, das Schöne in Wirklichkeit zu sehen.
Aber gerade die Dankbarkeit kann mich vor dem Zwang bewahren, alles festhalten zu müssen. Ich wünsche uns, dass es uns gelingt, in Momenten des Glücks dankbar dafür zu sein, dass wir sie erleben dürfen. Ich wünsche uns, dass auch beim Anschauen von Urlaubsfotos diese Dankbarkeit im Vordergrund stehen kann.

 

 

 

Montag, 29.8.2011

Sind Sie schon einmal mit Ihrem ganzen Hausrat umgezogen? Manche Menschen bleiben ihr ganzes Leben an einem Ort, in einer Stadt oder einem Bezirk wohnen. Andere ziehen aus privaten oder beruflichen Gründen öfter um. Ich gehöre zu dieser Gruppe. Vor kurzem haben meine Frau und ich unser Hab und Gut in Umzugskartons verpackt und sind mit unserer kleinen Tochter von Wien nach Oberösterreich gezogen.
Klar ist das ganz schön mühsam, alles einpacken! Aber da fängt es ja schon an: Muss wirklich alles mitgenommen werden? Gibt es nicht viele Dinge, die sich im Lauf der Jahre angesammelt haben, die ich aber längst nicht mehr brauche?
Loslassen können: Gegenstände des Alltags, gebrauchte Küchengeräte, alte Bücher, Urlaubssouvenirs, die nur verstaubt in den Regalen herumstehen. Loslassen können – ich habe wieder einmal festgestellt, wie schwer es mir fällt, eine Auswahl zu treffen. Ich bin eher ein Typ, der dazu neigt, Vertrautes festzuhalten. Aber ich habe auch gemerkt, dass es hilfreich ist, zu fragen: Was ist mir wirklich wichtig, welche Trennung wirkt vielleicht sogar befreiend?
Wahrscheinlich gehört das zu einem neuen Anfang an einem neuen Ort dazu: Beschwerlichen Ballast abwerfen, neue Räume schaffen. So werde ich frei für neue Begegnungen, neue Erfahrungen, neue Wege.
Es gibt ja verschiedene Punkte im Leben, an denen wir dazu angestoßen werden, darüber nachzudenken, was wir im Leben wirklich brauchen, was uns wirklich wichtig ist. Es muss nicht unbedingt ein Umzug sein.

 

 

 

Dienstag, 30.8.2011

Nichts ist so schwer, wie einen geliebten Menschen loslassen zu müssen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist von Anfang an geprägt von dieser Spannung zwischen Festhalten und Loslassen. Es beginnt ja schon mit der Geburt. Ein Kind gebären heißt für die Mutter, es das erste Mal loszulassen. Gleichzeitig braucht es das Neugeborene, dass es festgehalten wird.
Ich werde die Nacht, in der ich unsere Tochter das erste Mal in meinen Armen gehalten habe, nie vergessen. Inzwischen ist Frida zwei Jahre alt. Am Abend beim Einschlafen braucht sie immer noch eine Hand, an der sie sich festhalten kann. Tagsüber, wenn sie sich stark fühlt, läuft sie manchmal alleine los und kümmert sich eine Zeit lang gar nicht darum, ob ihr jemand folgt.
Jede Mutter, jeder Vater tut sich schwer damit, das Kind loszulassen. Aber es gehört eben zur Entwicklung dazu. Wer sein Kind immer nur festhält, tut ihm nichts Gutes damit. 
Kindergarten, Schule, Pubertät – für die Kinder sind das Stationen des Heranwachsens, für die Eltern Stationen des Loslassens. Manchmal freue ich mich darauf, wenn unsere Frida erwachsen sein wird, manchmal macht mich der Gedanke traurig, weil ich weiß, dass ich sie immer mehr loslassen muss.
Die Bibel vergleicht das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen an vielen Stellen mit einer Vater-Kind-Beziehung, manchmal auch mit einem Mutter-Kind-Verhältnis. Die Spannung zwischen Festhalten und Loslassen gibt es ja hier auch. Das Ziel ist ein Leben in Freiheit, dass sich gehalten weiß von einer liebenden Hand.

 

 

 

Mittwoch, 31.8.2011

Nichts ist so schwer, wie einen geliebten Menschen loslassen zu müssen. Kinder müssen irgendwann ihre Eltern loslassen, spätestens dann, wenn diese sterben. Als die Ärzte bei meinem Vater die Diagnose Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium feststellten, war die ganze Familie natürlich sehr betroffen. Es war uns allen klar, dass mein Vater mit dieser Krankheit nicht mehr lange leben würde. Er selbst konnte oder wollte nicht direkt über die Gefühle sprechen, die ihn bewegten. Eine solche Diagnose verbreitet ja vor allem Ohnmacht, bei den Betroffenen selbst, bei den Angehörigen, aber auch beim medizinischen Personal. Wir haben als Familie damals vor fünf Jahren erlebt, wie schwer es ist, mit einer solchen Situation umzugehen.
Einen geliebten Menschen loszulassen, wenn die Zeit zu gehen gekommen ist – wie macht man das überhaupt? Als das Sterben in unserer Kultur noch nicht verdrängt war in besondere Häuser und Räume, als die meisten Menschen im Kreis der Familie gestorben sind, gab es eingespielte Rituale auch für das Loslassen.
Oft konzentrieren sich die Fragen der Angehörigen in der letzten Lebensphase des geliebten Menschen auf medizinische Details. Auch bei meinem sterbenden Vater war das so. Rückblickend denke ich, es wäre für alle Beteiligten heilsamer gewesen, sich auf das Loslassen bewusst vorzubereiten. Als es dann soweit war, haben mir die Psalmen der Bibel und vertraute Lieder dabei geholfen. Ich wünsche uns in solchen Situationen des Loslassenmüssens, dass jede und jeder einen guten Weg dafür findet.

 

 

 

Donnerstag, 1.9.2011

Wer in eine andere Stadt oder an einen anderen Ort umzieht, lässt viel zurück.
Meine Familie ist vor kurzem von Wien nach Oberösterreich gezogen. Für mich ist das ein großes Abenteuer. Ich bin eigentlich ein typischer Großstadtmensch. Das Abschied nehmen von besonderen Orten ist mir schon als Kind wichtig gewesen. Irgendwie gehört da ja beides dazu: Ich möchte ein bestimmtes Gefühl, eine Erinnerung für mich festhalten, mitnehmen, aber dafür muss ich auch bewusst loslassen können.
In den meisten Religionen gibt es heilige Orte. Heilige Orte sucht man auf, um Kraft für den Alltag zu bekommen, aber man muss sie auch wieder loslassen. In der katholischen Kirche sind es Wallfahrtsorte, zu denen man pilgern kann. Im Judentum ist es der Platz des ehemaligen Tempels in Jerusalem, wo Gott in besonderer Weise anwesend ist, im Islam gehört die Pilgerfahrt nach Mekka zu den religiösen Pflichten. In der evangelischen Kirche gibt es offiziell keine heiligen Orte. Nicht einmal Wittenberg, wo Martin Luther vor knapp 500 Jahren seine Thesen anschlug, gilt als heilig. Ich bin in dieser Hinsicht  typisch evangelisch. Weil es keine offiziellen heiligen Orte gibt, muss ich sie mir selber suchen. In Wien habe ich meine persönlichen heiligen Orte losgelassen: Die Kaffeehäuser, die Heurigen, die Donauinsel, die Friedhöfe – natürlich auch die Kirchen.
Ich freue mich auf die Entdeckung neuer heiliger Orte in meiner jetzigen Wahlheimat Oberösterreich.  

 

 

 

Freitag, 2.9. 2011

Leben in einer festen Beziehung bedeutet ein ständiges Wechselspiel zwischen Festhalten und Loslassen. In der ersten Phase der Verliebtheit steht zweifellos das Festhalten im Vordergrund. Erinnern Sie sich noch daran – oder sind Sie vielleicht gerade verliebt? Als ich meine Frau kennen lernte, wollte ich möglichst viel Zeit mit ihr verbringen, wollte sie nicht loslassen und auch nicht losgelassen werden. Aber irgendwann kommt in jeder Beziehung der Zeitpunkt, wo man spürt, es ist wichtig, auch Zeit für sich selbst zu haben. Wenn ich mein Gegenüber immer nur festhalten will, kann eine Partnerschaft nicht funktionieren. Gegenseitiges Vertrauen bildet die Grundlage jeder festen Beziehung und je stärker dieses Vertrauen da ist, desto leichter kann ich auch das Loslassen lernen.
Ich habe manchmal den Eindruck, viele Beziehungen scheitern daran, dass dieses Loslassen im Vertrauen nicht gelingt. Es stimmt eben nicht, dass glückliche Paare ständig aneinander kleben. Loslassen im Vertrauen heißt, dem Gegenüber einen eigenen Freiraum zuzugestehen.
In jeder Partnerschaft, in jeder Ehe gibt es immer wieder natürlich auch Phasen, in denen das Festhalten wieder wichtig wird. Wenn es mir besonders schlecht geht, wünsche ich mir eine feste Umarmung von meiner Frau. Wenn ich besonders glücklich bin, will ich das Glück mit ihr teilen und es gemeinsam festhalten.
Ich wünsche uns, dass es uns gelingt, das richtige Maß für das Festhalten und das Loslassen immer wieder neu zu lernen, so dass es uns selbst und unserem Gegenüber guttut.

 

 

 

Samstag, 3.9. 2011

Wenn man in eine neue Wohnung oder in ein neues Haus umzieht, gibt es viel zu tun. Regale wollen zusammengebaut, Lampen installiert, Bilder aufgehängt werden.
Ich bewege mich eher selten in der Welt der Baumärkte, aber der Umzug unserer Familie hat mich in den letzten Wochen diese Welt näher kennenlernen lassen. Ich staune, wie viele handwerklich begabte Männer und Frauen es in Österreich gibt und gebe zu, dass ich manchmal etwas neidisch werde, weil bei mir diese Fähigkeit eher mäßig ausgeprägt ist.
Anleitungen zum Zusammenbau von Regalen oder Schränken machen mich schon beim ersten Anblick nervös, weil ich mir sicher bin, dass ich wieder irgendeine Schraube vergessen oder ein Brett verkehrt einbauen werde. Aber dann entwickle ich eben doch den Ehrgeiz, dass das fertige Produkt zum Schluss möglichst perfekt aussieht.
Meistens muss ich aber bald einsehen, dass ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht werde. Schon wieder habe ich ein Loch an der falschen Stelle gebohrt, schon wieder hängt ein Regal nicht ganz gerade an der Wand. Ich nehme mir vor, meinen Perfektionsanspruch loszulassen, lasse mich von meiner Frau trösten, dass das ja alles nicht so schlimm sei, aber es wurmt mich trotzdem.
Im Radio höre ich ein Interview mit einem jungen Dirigenten, der es wunderbar findet, dass er noch nicht perfekt ist, dass er Fehler machen darf. Ich bin dankbar für diese Botschaft zur richtigen Zeit. Ich bin nicht perfekt und muss es auch nicht sein. Ich darf Fehler machen und freue mich darüber.