Die Sommer- und Urlaubszeit geht langsam dem Ende zu. Als es noch
keine Digitalkameras gab, waren das die Tage, als ich meine
Urlaubsfotos zum Entwickeln gebracht und gespannt darauf gewartet
habe, ob sie mir gut gelungen sind. Seitdem ich digital
fotografiere, fällt diese Wartezeit weg und ich habe viel mehr
Urlaubsfotos als früher. Aber warum ist es mir eigentlich so
wichtig, im Urlaub und auf Reisen zu fotografieren?
Ich möchte liebe Menschen, schöne Momente, faszinierende Orte für
mich festhalten. Es fällt mir schwer, den wunderschönen Blick über
die Berge wieder loszulassen. Ich kann mich nicht von dem
romantischen Sonnenuntergang über dem Meer trennen. Ich möchte
nicht, dass mir diese Erinnerungen verlorengehen, ich möchte sie
wieder abrufen können, wenn ich mir die Bilder später einmal
anschaue. Fotografieren ist in diesem Sinn ja eine Art Protest gegen
die Vergänglichkeit von uns Menschen und dieser Welt.
Manche Menschen sind mit dem Festhalten durch das Fotografieren so
beschäftigt, dass es ihnen schwer fällt, besondere Momente ohne den
Finger an der Kamera zu genießen. Der Wunsch, Schönes festzuhalten
ist manchmal stärker als die Dankbarkeit, das Schöne in Wirklichkeit
zu sehen.
Aber gerade die Dankbarkeit kann mich vor dem Zwang bewahren, alles
festhalten zu müssen. Ich wünsche uns, dass es uns gelingt, in
Momenten des Glücks dankbar dafür zu sein, dass wir sie erleben
dürfen. Ich wünsche uns, dass auch beim Anschauen von Urlaubsfotos
diese Dankbarkeit im Vordergrund stehen kann.
Montag, 29.8.2011
Sind Sie schon einmal mit Ihrem ganzen Hausrat umgezogen? Manche
Menschen bleiben ihr ganzes Leben an einem Ort, in einer Stadt oder
einem Bezirk wohnen. Andere ziehen aus privaten oder beruflichen
Gründen öfter um. Ich gehöre zu dieser Gruppe. Vor kurzem haben
meine Frau und ich unser Hab und Gut in Umzugskartons verpackt und
sind mit unserer kleinen Tochter von Wien nach Oberösterreich
gezogen.
Klar ist das ganz schön mühsam, alles einpacken! Aber da fängt es ja
schon an: Muss wirklich alles mitgenommen werden? Gibt es nicht
viele Dinge, die sich im Lauf der Jahre angesammelt haben, die ich
aber längst nicht mehr brauche?
Loslassen können: Gegenstände des Alltags, gebrauchte Küchengeräte,
alte Bücher, Urlaubssouvenirs, die nur verstaubt in den Regalen
herumstehen. Loslassen können – ich habe wieder einmal festgestellt,
wie schwer es mir fällt, eine Auswahl zu treffen. Ich bin eher ein
Typ, der dazu neigt, Vertrautes festzuhalten. Aber ich habe auch
gemerkt, dass es hilfreich ist, zu fragen: Was ist mir wirklich
wichtig, welche Trennung wirkt vielleicht sogar befreiend?
Wahrscheinlich gehört das zu einem neuen Anfang an einem neuen Ort
dazu: Beschwerlichen Ballast abwerfen, neue Räume schaffen. So werde
ich frei für neue Begegnungen, neue Erfahrungen, neue Wege.
Es gibt ja verschiedene Punkte im Leben, an denen wir dazu
angestoßen werden, darüber nachzudenken, was wir im Leben wirklich
brauchen, was uns wirklich wichtig ist. Es muss nicht unbedingt ein
Umzug sein.
Dienstag, 30.8.2011
Nichts ist so schwer, wie einen geliebten Menschen loslassen zu
müssen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist von Anfang an
geprägt von dieser Spannung zwischen Festhalten und Loslassen. Es
beginnt ja schon mit der Geburt. Ein Kind gebären heißt für die
Mutter, es das erste Mal loszulassen. Gleichzeitig braucht es das
Neugeborene, dass es festgehalten wird.
Ich werde die Nacht, in der ich unsere Tochter das erste Mal in
meinen Armen gehalten habe, nie vergessen. Inzwischen ist Frida zwei
Jahre alt. Am Abend beim Einschlafen braucht sie immer noch eine
Hand, an der sie sich festhalten kann. Tagsüber, wenn sie sich stark
fühlt, läuft sie manchmal alleine los und kümmert sich eine Zeit
lang gar nicht darum, ob ihr jemand folgt.
Jede Mutter, jeder Vater tut sich schwer damit, das Kind
loszulassen. Aber es gehört eben zur Entwicklung dazu. Wer sein Kind
immer nur festhält, tut ihm nichts Gutes damit.
Kindergarten, Schule, Pubertät – für die Kinder sind das Stationen
des Heranwachsens, für die Eltern Stationen des Loslassens. Manchmal
freue ich mich darauf, wenn unsere Frida erwachsen sein wird,
manchmal macht mich der Gedanke traurig, weil ich weiß, dass ich sie
immer mehr loslassen muss.
Die Bibel vergleicht das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen
an vielen Stellen mit einer Vater-Kind-Beziehung, manchmal auch mit
einem Mutter-Kind-Verhältnis. Die Spannung zwischen Festhalten und
Loslassen gibt es ja hier auch. Das Ziel ist ein Leben in Freiheit,
dass sich gehalten weiß von einer liebenden Hand.
Mittwoch, 31.8.2011
Nichts ist so schwer, wie einen geliebten Menschen loslassen zu
müssen.Kinder müssen irgendwann ihre Eltern loslassen,
spätestens dann, wenn diese sterben. Als die Ärzte bei meinem Vater
die Diagnose Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium feststellten,
war die ganze Familie natürlich sehr betroffen. Es war uns allen
klar, dass mein Vater mit dieser Krankheit nicht mehr lange leben
würde. Er selbst konnte oder wollte nicht direkt über die Gefühle
sprechen, die ihn bewegten. Eine solche Diagnose verbreitet ja vor
allem Ohnmacht, bei den Betroffenen selbst, bei den Angehörigen,
aber auch beim medizinischen Personal. Wir haben als Familie damals
vor fünf Jahren erlebt, wie schwer es ist, mit einer solchen
Situation umzugehen.
Einen geliebten Menschen loszulassen, wenn die Zeit zu gehen
gekommen ist – wie macht man das überhaupt? Als das Sterben in
unserer Kultur noch nicht verdrängt war in besondere Häuser und
Räume, als die meisten Menschen im Kreis der Familie gestorben sind,
gab es eingespielte Rituale auch für das Loslassen.
Oft konzentrieren sich die Fragen der Angehörigen in der letzten
Lebensphase des geliebten Menschen auf medizinische Details. Auch
bei meinem sterbenden Vater war das so. Rückblickend denke ich, es
wäre für alle Beteiligten heilsamer gewesen, sich auf das Loslassen
bewusst vorzubereiten. Als es dann soweit war, haben mir die Psalmen
der Bibel und vertraute Lieder dabei geholfen. Ich wünsche uns in
solchen Situationen des Loslassenmüssens, dass jede und jeder einen
guten Weg dafür findet.
Donnerstag, 1.9.2011
Wer in eine andere Stadt oder an einen anderen Ort umzieht, lässt
viel zurück.
Meine Familie ist vor kurzem von Wien nach Oberösterreich gezogen.
Für mich ist das ein großes Abenteuer. Ich bin eigentlich ein
typischer Großstadtmensch. Das Abschied nehmen von besonderen Orten
ist mir schon als Kind wichtig gewesen. Irgendwie gehört da ja
beides dazu: Ich möchte ein bestimmtes Gefühl, eine Erinnerung für
mich festhalten, mitnehmen, aber dafür muss ich auch bewusst
loslassen können.
In den meisten Religionen gibt es heilige Orte. Heilige Orte sucht
man auf, um Kraft für den Alltag zu bekommen, aber man muss sie auch
wieder loslassen. In der katholischen Kirche sind es Wallfahrtsorte,
zu denen man pilgern kann. Im Judentum ist es der Platz des
ehemaligen Tempels in Jerusalem, wo Gott in besonderer Weise
anwesend ist, im Islam gehört die Pilgerfahrt nach Mekka zu den
religiösen Pflichten. In der evangelischen Kirche gibt es offiziell
keine heiligen Orte. Nicht einmal Wittenberg, wo Martin Luther vor
knapp 500 Jahren seine Thesen anschlug, gilt als heilig. Ich bin in
dieser Hinsicht typisch evangelisch. Weil es keine offiziellen
heiligen Orte gibt, muss ich sie mir selber suchen. In Wien habe ich
meine persönlichen heiligen Orte losgelassen: Die Kaffeehäuser, die
Heurigen, die Donauinsel, die Friedhöfe – natürlich auch die
Kirchen.
Ich freue mich auf die Entdeckung neuer heiliger Orte in meiner
jetzigen Wahlheimat Oberösterreich.
Freitag, 2.9. 2011
Leben in einer festen Beziehung bedeutet ein ständiges Wechselspiel
zwischen Festhalten und Loslassen. In der ersten Phase der
Verliebtheit steht zweifellos das Festhalten im Vordergrund.
Erinnern Sie sich noch daran – oder sind Sie vielleicht gerade
verliebt? Als ich meine Frau kennen lernte, wollte ich möglichst
viel Zeit mit ihr verbringen, wollte sie nicht loslassen und auch
nicht losgelassen werden. Aber irgendwann kommt in jeder Beziehung
der Zeitpunkt, wo man spürt, es ist wichtig, auch Zeit für sich
selbst zu haben. Wenn ich mein Gegenüber immer nur festhalten will,
kann eine Partnerschaft nicht funktionieren. Gegenseitiges Vertrauen
bildet die Grundlage jeder festen Beziehung und je stärker dieses
Vertrauen da ist, desto leichter kann ich auch das Loslassen lernen.
Ich habe manchmal den Eindruck, viele Beziehungen scheitern daran,
dass dieses Loslassen im Vertrauen nicht gelingt. Es stimmt eben
nicht, dass glückliche Paare ständig aneinander kleben. Loslassen im
Vertrauen heißt, dem Gegenüber einen eigenen Freiraum zuzugestehen.
In jeder Partnerschaft, in jeder Ehe gibt es immer wieder natürlich
auch Phasen, in denen das Festhalten wieder wichtig wird. Wenn es
mir besonders schlecht geht, wünsche ich mir eine feste Umarmung von
meiner Frau. Wenn ich besonders glücklich bin, will ich das Glück
mit ihr teilen und es gemeinsam festhalten.
Ich wünsche uns, dass es uns gelingt, das richtige Maß für das
Festhalten und das Loslassen immer wieder neu zu lernen, so dass es
uns selbst und unserem Gegenüber guttut.
Samstag, 3.9. 2011
Wenn man in eine neue Wohnung oder in ein neues Haus umzieht, gibt
es viel zu tun. Regale wollen zusammengebaut, Lampen installiert,
Bilder aufgehängt werden.
Ich bewege mich eher selten in der Welt der Baumärkte, aber der
Umzug unserer Familie hat mich in den letzten Wochen diese Welt
näher kennenlernen lassen. Ich staune, wie viele handwerklich
begabte Männer und Frauen es in Österreich gibt und gebe zu, dass
ich manchmal etwas neidisch werde, weil bei mir diese Fähigkeit eher
mäßig ausgeprägt ist.
Anleitungen zum Zusammenbau von Regalen oder Schränken machen mich
schon beim ersten Anblick nervös, weil ich mir sicher bin, dass ich
wieder irgendeine Schraube vergessen oder ein Brett verkehrt
einbauen werde. Aber dann entwickle ich eben doch den Ehrgeiz, dass
das fertige Produkt zum Schluss möglichst perfekt aussieht.
Meistens muss ich aber bald einsehen, dass ich meinen eigenen
Ansprüchen nicht gerecht werde. Schon wieder habe ich ein Loch an
der falschen Stelle gebohrt, schon wieder hängt ein Regal nicht ganz
gerade an der Wand. Ich nehme mir vor, meinen Perfektionsanspruch
loszulassen, lasse mich von meiner Frau trösten, dass das ja alles
nicht so schlimm sei, aber es wurmt mich trotzdem.
Im Radio höre ich ein Interview mit einem jungen Dirigenten, der es
wunderbar findet, dass er noch nicht perfekt ist, dass er Fehler
machen darf. Ich bin dankbar für diese Botschaft zur richtigen Zeit.
Ich bin nicht perfekt und muss es auch nicht sein. Ich darf Fehler
machen und freue mich darüber.