Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

„Gedanken auf der Wallfahrt…“

von Pfarrer Christian Wiesinger (Gaubitsch, NÖ)

 

 

Sonntag, 11.9.2011

Jedes Jahr mache ich mit der Pfarre Unterstinkenbrunn eine Fußwallfahrt nach Mariazell. Eine kleine Gruppe geht den ganzen Weg vom nördlichen Weinviertel bis zum großen Marienwallfahrtsort, eine große Gruppe pilgert drei Tage lang.

Und jedes Jahr ist die Wallfahrt altvertraut und doch wieder ganz anders. Wir gehen zwar meistens auf der gleichen Wegstrecke, auch viele derer, die mitgehen, sind schon bekannt.

Trotzdem ist die Wallfahrt immer anders und neu: Weil das Wetter anders ist, weil es andere Themen gibt für unsere Gespräche und Gebete, und eigentlich am meisten weil ich, der ich auf Wallfahrt bin, anders geworden bin.

Am Beginn eines neuen Tages ist das ähnlich: Vieles so vertraut, und doch wird dieser Tag wieder anders und neu.

So bin ich dankbar für jede neue Wallfahrt, und dankbar für diesen heutigen Tag, der auf mich wartet.

 

 

 

Montag, 12. 9. 2011

Auf unserer Wallfahrt nach Mariazell hat einer bei einer Abzweigung gefragt: „Wo gehören wir hin?“

Diese Frage nach dem richtigen Weg hat mir zu denken gegeben. Im Leben bin ich ja oft gefordert, Entscheidungen zu treffen. Manche sind einfach zu fällen oder haben keine großen Auswirkungen. Andere wirken noch lange nach – in meinem Leben und in dem Anderer.

Mich da auch zu fragen, wo ich hingehöre, könnte wohl oft eine Entscheidungshilfe sein: Zuerst gut zuhören, was alles dafür und dagegen spricht. Nicht nur zu überlegen, was „sich gehört“, sondern wo etwas seinen guten Platz hat, wo es hingehört. Und vor allem nicht zu vergessen, dass ich einen guten Platz habe, dass ich wo hingehöre.

Ich bin dankbar, dass ich glauben kann, dass ich zu Gott gehöre.

 

 

 

Dienstag, 13. 9. 2011

Beim Gehen auf unserer Wallfahrt nach Mariazell hat eine festgestellt, dass man manchmal gar nicht so auf die Landschaft achten kann, weil man gerade sehr auf den Weg schauen muss. Es ist ja wirklich so: Wenn wir nicht auf einer asphaltierten Straße unterwegs sind, müssen wir immer wieder auf den nächsten Schritt aufpassen, auf Wurzeln und Steine, die im Weg sind, auf Unebenheiten oder Wasserlacken. Manchmal schauen wir auf den Boden, weil wir schon recht müde sind vom Gehen. Um einen weiten Ausblick genießen zu können, müssen wir dann stehen bleiben.

Im Alltag müssen wir auch oft sehr konzentriert auf das achten, was jetzt vor uns liegt, woran wir gerade arbeiten. Und gerade deswegen ist es auch notwendig, manchmal den Blick in die Weite zu richten – um zu sehen, wo wir gehen und die Richtung zu prüfen. Oder um einfach wieder einmal die Aussicht zu genießen.

Ich wünsche Ihnen heute einen Moment der Ruhe für einen Blick in die Weite.

 

 

 

Mittwoch, 14. 9. 2011

In der Mitte der Woche musste ich heuer unsere Pfarrwallfahrt nach Mariazell für ein Begräbnis einen Tag lang unterbrechen.

Bei meinem letzten Besuch bei dem Mann im Hospiz hat er mich erkannt, konnte aber kaum mehr sprechen. „Grüß Gott“, hat er gesagt – so viel habe ich verstanden. Nach wenigen Sätzen habe ich nicht mehr recht gewusst, was ich sagen soll. Was hat Bedeutung, wenn der Tod nahe ist?

So habe ich ihn gefragt, ob es ihm recht ist, wenn wir beten. Beim Vater unser war er offensichtlich ganz dabei – diese alten Worte bekommen so immer neu ihren Sinn: „Dein Wille geschehe…“. Während ich gebetet habe, hat er für seinen Kopf eine andere Position auf dem Polster gesucht, es ist mir so vorgekommen, als ob er sich in dieses Gebet hineinschmiegt. Er war – so hat es die pflegende Schwester dort ausgedrückt – „schon auf dem Weg“. Auf dem Weg…, auch auf einem Pilgerweg….

Gegangen bin ich mit Trauer und mit Zuversicht – dass da gerade einer das Ziel seiner Lebenswallfahrt erreicht.

 

 

 

Donnerstag, 15. 9. 2011

Bei vielen Gesprächen auf unserer sommerlichen Fußwallfahrt nach Mariazell kann ich feststellen, was auch Befragungen schon ergeben haben: Die Dankbarkeit ist viel öfter Motivation, auf eine Wallfahrt zu gehen, als um etwas zu bitten. Das Gehen ist eine besondere Weise, ganzheitlich zu danken. Menschen danken für einen Erfolg, zum Beispiel für eine bestandene Prüfung, sie danken für ihre Kinder und die Familie, für eine gelungene Beziehung oder schlicht und einfach für ihr Leben.

Und die Wallfahrt gibt selbst auch wieder viele Gründe, dankbar zu sein: Die Verlangsamung, die das Zu-Fuß-Gehen mit sich bringt, lässt die Schönheit einer Blüte in den Blick kommen. Das Erleben der Gemeinschaft bringt Frohsinn über einen aufmunternden Spaß. Das Herausgenommensein aus dem Alltag lässt einfache Dinge wie einen Schluck Wasser, der den Durst löscht, wieder glänzen. Wieder eine Tagesetappe geschafft zu haben, macht einfach zufrieden.

Bei David Steindl-Rast lese ich: „Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Lebensfreude“.

 

 

 

Freitag, 16. 9. 2011

Bei der Wallfahrt, die unsere Pfarre jeden Sommer macht, kommt der eine und die andere auch an die eigenen Grenzen. Die Anstrengungen, die die Strecke mit sich bringt, die Hitze, die wir heuer hatten, Blasen an den Füßen oder ein Wespenstich – manchmal ist etwas dann zu viel. Unmittelbarer als im Alltag spüren wir bei der Wallfahrt, was auch sonst gilt: Dass wir nicht unbegrenzt leistungsfähig sind, dass wir Pausen brauchen, um uns regenerieren zu können, dass wir die Hilfe anderer nötig haben. Und gerade im Respektieren der Grenzen und im Annehmen dessen, was andere für uns tun können, öffnet sich der Weg neu und an unserer Grenze können wir über uns hinauswachsen, oder es entsteht Begegnung: Wenn wir bei jedem Schritt bergauf wissen, dass wir diesen Schritt nicht mehr gehen müssen; wenn wir spüren, wie gut eine Pause tut; wenn wir über einem schönen Gespräch die Blasen an den Füßen vergessen oder beim gemeinsamen Singen der Weg viel kürzer wird.

Ich wünsche Ihnen heute den Mut, Grenzen annehmen zu können und Achtsamkeit, die Hilfe, die dort wartet, zu sehen.

 

 

 

 

Samstag, 17. 9. 2011

Wenn man einige Tage auf einer Wallfahrt war, so wie wir im Sommer nach Mariazell gegangen sind, dann erfährt man, dass der Satz „Der Weg ist das Ziel“ nur einen Teil der Wahrheit beschreibt:

Natürlich geschieht auf dem Weg sehr viel – das Erleben der Gemeinschaft, die Freude an der Natur, die gemeinsamen Zeiten für Stille und Gebet, das Gehen selbst, mit allem, was sich dabei auch löst.

Es ist aber dann jedes Jahr ein besonderes Erlebnis, eine ganz eigene, berührende und tief bewegende Freude, am Ziel anzukommen. Da ist zu spüren, wie alles zusammenklingen könnte: Die eigene Mühe und Anstrengung auf dem Weg, die Begleitung anderer und das große Geschenk, das ganz andere, das das Ziel gleichzeitig auch ist.

Christian Morgenstern hat einmal geschrieben: „Wer das Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben.“

Mir persönlich lenkt die Wallfahrt den Blick auf den, der das Ziel ist. So kann ich neu orientiert in meinen Alltag zurückkehren.