Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 


von Dr. Jutta Henner (Wien)

 

 

Sonntag, 25. September 2011

„Gott spricht doch alle Sprachen!“ Felsenfest war der Schüler davon überzeugt; die Stimme und der Blick ließen keine Zweifel zu. Ich hatte eine Schulklasse, die bei uns im Bibelzentrum in Wien zu Besuch war, gefragt, in wie viele Sprachen denn wohl die Bibel übersetzt sei. Die Schülerinnen und Schüler überlegten kurz, dann wurde es zunächst nur halblaut gemurmelt, schließlich immer lauter und deutlicher gesagt: „Es gibt die Bibel in allen Sprachen der Welt!“ Schließlich, so meinten die jungen Menschen, sollen alle Menschen die Möglichkeit haben, die Bibel zu lesen und zu verstehen. Christliche Kirchen brauchen schließlich die Bibel: Gottesdienst, Predigt, Religionsunterricht, Seelsorge, persönliche Frömmigkeit – all das braucht Bibel. Auch Nichtchristen sollen die Gelegenheit haben, die Bibel zu lesen und sich ein Bild von ihrer Botschaft zu machen. Die Bibel ist und bleibt in der Tat das mit Abstand am meisten übersetzte Buch der Welt. Alljährlich werden die Zahlen aktualisiert: Nach dem neuesten Stand ist zumindest ein Buch der Bibel in staunenswerte 2.527 Sprachen übersetzt. Grund zu Freude und Dankbarkeit ist das allemal. Doch: Ich musste die Schülerinnen und Schüler aber enttäuschen. Noch längst gibt es nicht in allen Sprachen der Welt eine Bibelübersetzung, noch warten Menschen in vielen Teilen der Erde darauf, zu erfahren, was es heißt, dass Gott auch ihre Sprache spricht!

 

 

 

Montag, 26. September 2011

„Gott spricht meine Sprache!“ Diese überraschende und berührende Erfahrung machten nach dem Bericht in der Apostelgeschichte des Lukas Menschen aus verschiedenen Gegenden des römischen Reiches in Jerusalem. Sie erlebten, dass die Apostel ihnen die frohe Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus in ihren jeweiligen Sprachen verkündigen. Seit diesem ersten Pfingstfest machen in allen Teilen der Erde Menschen die Erfahrung, dass Gott auch ihre Sprache spricht: Immer dann, wenn eine Bibelübersetzung in ihrer Muttersprache erarbeitet und schließlich nach mehreren Jahren feierlich präsentiert wird. 6.909 Sprachen und Dialekte soll es offiziellen Zählungen zufolge weltweit geben. Eine vollständige Bibel, Altes und Neues Testament, liegt aber erst in 469 Sprachen vor. Bibelübersetzung ist eine unerledigte Aufgabe, Bibelübersetzung sollte aber allen Christinnen und Christen ein Herzensanliegen sein. Nehmen wir es als selbstverständlich, dass es wohl die Bibel ohnehin für alle gibt, weil wir im deutschsprachigen Raum die Qual der Wahl zwischen einer Vielzahl der Übersetzungen haben? Im eigenen Überfluss den Mangel der anderen gar nicht mehr wahrnehmen? Mir lässt es keine Ruhe, dass noch so viele Sprachen auf eine Bibelübersetzung warten – Glaube ist eine Herzensangelegenheit und damit ist die Bibel in der Muttersprache so wichtig.

 

 

 

Dienstag, 27. September 2011

„Gott spricht meine Sprache.“ Der Jubel über die Fertigstellung der ersten Bibelübersetzung in einer Sprache kennt oft kaum Grenzen. Eine Bibelübersetzung in der eigenen Sprache stärkt die Identität und ist meist der Beginn eines geistlichen Aufbruchs in den Kirchen: Ausgelassene Freudentänze, aber auch stille Freudentränen begleiteten die Veröffentlichung des Neuen Testaments in Kimyal im vergangenen Frühjahr. Auf West Papua in Indonesien versammelten sich hunderte Menschen vom Volk der Kimyal als das kleine Flugzeug auf der wackligen Graspiste landete: An Bord des Flugzeugs befand sich kostbare Fracht - Kartons mit den ersten Neuen Testamenten in Kimyal. Die Ältesten der Gemeinschaft nahmen das erste Paket in Empfang. Ein Gebet wurde gesprochen: „Gott, der Plan, den du von Anfang an für deine Kimyal hattest, ist jetzt endlich erfüllt. Gott, heute hast Du dein Wort in meine Hände gelegt, wie du verheißen hast, dafür lobe und preise ich dich.“ Brausender Jubel, Winken, Pfeifen, Tänze, ein Fest der Freude für die Kimyal. – Und immer wieder war voll Staunen von den Festgästen zu hören: „Wir haben die Bibel in unserer Sprache“, „wir haben Gottes Wort in unserer eigenen Sprache.“ Und in den Jubel mischt sich die Hoffnung, dass bald auch das Alte Testament übersetzt sein wird!

 

 

 

Mittwoch, 28. September 2011

„Gott spricht meine Sprache“ – noch warten die Kissi in Guinea auf die Fertigstellung der Bibelübersetzung in ihre Sprache. „Ich freue mich sehr, dass bald die Bibel in meiner Muttersprache Kissi erscheinen wird. Alle, die Kissi sprechen, freuen sich darauf. In allen Kirchen wird es besondere Feiern geben“, so eine Lehrerin. Knapp 350.000 Menschen in Guinea sprechen Kissi; seit 1962 gibt es immerhin das Neue Testament in ihrer Sprache. Doch die politische Instabilität, Unruhen und Rebellenübergriffe, aber auch die Erkrankung eines Übersetzers haben die Arbeit an der Bibelübersetzung in den vergangenen 30 Jahren immer wieder zurückgeworfen. Doch jetzt, endlich, ist die Übersetzung fast fertig. Im kommenden Jahr wird es die ganze Bibel auf Kissi geben. Und die Erwartungen sind groß. Eine Hörbibel des Buches Daniel auf Kissi war beispielsweise bereits vor 15 Jahren erschienen: „Sie hat so viel Gutes bewirkt und ist zum Segen geworden. Wir dürfen noch viel mehr Gutes erwarten, wenn wir endlich die ganze Bibel haben“. „Ich habe beispielsweise einen Bibel-Vers schon oft auf Französisch gelesen, aber die Bedeutung ist mir nie ganz klar geworden“. Emannuel ist gut ausgebildet, spricht mehrere Sprachen, doch er weiß: „Ich kann Gottes Wort viel besser in meiner Muttersprache verstehen als in einer Zweitsprache.“

 

 

 

Donnerstag, 29. September 2011

„Gott spricht meine Sprache“, diese Erfahrung durften im heurigen Frühjahr christliche Roma in Serbien machen. In Lesovac kamen etwa 300 Menschen zusammen, um das erste Markusevangelium in ihrer Romasprache zu feiern. Diese Übersetzung ist aus der Praxis heraus entstanden: Im Gottesdienst waren immer wieder einzelne Abschnitte aus der neuen Übersetzung gelesen worden. Die Gläubigen konnten Anregungen geben, wo sie etwas noch nicht klar verstanden oder wo eine Formulierung sie besonders angesprochen hat. Weil es „ihre eigene“ Übersetzung ist, kam das gedruckte Markusevangelium so gut an; Gottesdienstbesucher begannen zu lesen, lebendige Gespräche über das Gelesene kamen sogleich in Gang. Die Übersetzung der Bibel für die Roma in Serbien erfüllt aber noch eine weitere  Funktion: Die Sprache wird für die nächste Generation festgehalten. Da nicht alle gut oder gerne lesen, wird auch eine Hörbibel dieses Evangeliums produziert. Vielleicht gibt es schon nächstes Jahr eine Ausgabe der vier Evangelien für die Roma in Serbien. Ein kleines Wörterbuch ist dann auch noch geplant, denn manche junge Menschen kennen nicht die Bedeutung von allen Worten. Einer der Bibelübersetzer freut sich:„Es ist ein historischer Moment für die Roma bei uns im Land. Die Roma-Gemeinden werden diese Übersetzung in den nächsten Jahren verwenden. Und eines Tages wird sie vielleicht sogar in Schulen verwendet. Es bedeutet uns so viel.“

 

 

 

Freitag, 30. September 2011

„Gott spricht meine Sprache“. Für diese Erfahrung dankbar sind auch die zwei Millionen Tschuwaschen in der Tschuwaschischen Republik, einer Teilrepublik der Russischen Föderation. Ihr Gebiet wird im Osten und Norden von der Wolga begrenzt. Mit der Bibelübersetzung für die Tschuwaschen wurde bereits 1991 begonnen, doch es sollte fast 20 Jahre dauern, bis die Übersetzung fertig gestellt war. 1998 waren die Prophetenbücher der Bibel in Tschuwaschisch vorab erschienen, 2001 immerhin eine Kinderbibel. Die vollständige Bibelübersetzung wurde jetzt überaus positiv aufgenommen. Wieder einmal wurde deutlich: Die erste Bibelübersetzung in eine Sprache schenkt Identität, stärkt das Selbstbewusstsein, gibt der Bevölkerungsgruppe öffentliche Anerkennung und bereichert das kirchliche Leben mit wertvollen Impulsen. So werden Gottesdienste jetzt auch auf Tschuwaschisch gefeiert, die Bibelübersetzung kommt in Gemeinden und Schulen, aber auch in den Familien zum Einsatz. Besonders im ländlichen Raum, wo viele Menschen die Gottesdienste besuchen, hat die Bibel in der eigenen Sprache einen zentralen Platz im Leben der Kirchen. Weil die Menschen die biblische Botschaft viel klarer und besser verstehen, werden die Gemeinden lebendiger, nehmen auch wieder mehr Menschen am Leben der Gemeinden teil.

 

 

 

Samstag, 1. Oktober 2011

„Gott spricht meine Sprache.“ Die Berichte über das Entstehen und den Abschluss von neuen Bibelübersetzungen in anderen Teilen der Erde bewegen mich sehr. Kein Glaube ohne Bibel, ja, ich möchte ergänzen, Wachstum der Gemeinden gibt es besonders dort, wo es erstmals eine Bibelübersetzung gibt: In Afrika ebenso wie in Südamerika, in Asien oder auch in Ozeanien. So viele Völker und Sprachen warten noch auf ihre Bibel! Andere haben eine Bibelübersetzung, die aber so veraltet ist, dass sie überarbeitet werden muss, damit junge Menschen die Botschaft verstehen und der Glaube lebendig bleibt. Neue Bibelübersetzungen gehen oft mit biblisch basierten Alphabetisierungsprogrammen einher. Die Lebensbedingungen der Menschen verbessern sich ganzheitlich. Eine Bibelübersetzung bewahrt Sprachen und stärkt die Identität derer, die sie sprechen, die jetzt nicht mehr abhängig sind von Übersetzungen in den Sprachen der einstigen Eroberer und Herrscher. Ich könnte viel davon erzählen, wie Bibelübersetzungen für einzelne Menschen, für Kirchen und Gemeinden, für ganze Volksgruppen zum Segen werden, wie eine Bibelübersetzung dazu anregt, Lieder und Gebete in der eigenen Sprache zu verfassen und Gottesdienste zu feiern. So viel ist noch zu tun – damit es Wirklichkeit werden kann: „Gott spricht alle Sprachen".