Das gehört zu den spannendsten Momenten, wenn ein historischer
Kirchturm restauriert wird. Das Öffnen der Metallkugel, auf der das
Kirchturmkreuz montiert ist. Manchmal findet man darin
eingeschlossen Nachrichten aus der Zeit der Erbauung. Dokumente, die
über die damaligen Zeiten berichten, darüber, wer die Kirche
finanziert hat, wer damals über das Land geherrscht hat, vielleicht
auch über Wetterkapriolen oder kriegerische Auseinandersetzungen;
manchmal hat man auch ein paar Münzen mit eingeschlossen. Diese
Botschaften hat man seinerzeit in ihrer vergoldeten Kapsel
abgeschickt, wie eine Flaschenpost an die Zukunft. Transportiert
werden sollte diese Flaschenpost von dem Kirchenbau, von dem man
sich sicher war, dass er noch lange Zeit bestehen würde. Aber
irgendwann, hat man gedacht, wird der Kirchturm repariert werden
müssen, in dieser fernen Zukunft wird es Menschen geben, die
vielleicht neugierig sein werden, etwas von vergangenen Zeiten zu
erfahren. Denkmäler sind keine Raumschiffe, sondern Zeitschiffe, sie
sind lange unterwegs und sie transportieren Nachrichten, es müssen
nicht immer in Kapseln eingeschlossene Dokumente sein, auch die
Steine sprechen von der Vergangenheit, man muss darin nur lesen
können.
Montag, 10.10.2011
Das Rathaus von Eisenstadt ist über vierhundert Jahre alt. Die
Fassade schmücken Malereien, weibliche Figuren, sie symbolisieren
die Tugenden. Zum Glück sind diese Figuren mit Schriftbändern
versehen, so können wir sie leichter identifizieren. Die Temperantia
etwa, die für das Maßhalten steht, sie trägt einen Krug in der Hand,
oder auch die Justitia mit ihren verbundenen Augen, sie steht für
die Gerechtigkeit, die ohne Ansehen der Person handelt, daneben
Fortitudo, die Stärke. Heute scheint uns das vielleicht eine naive
Vorstellung, dass Bauten mit solchen Bildern etwas bewirken könnten,
zum Beispiel eine bessere Politik. Aber eigentlich ist der Gedanke
doch nicht ganz abwegig, Architektur dazu zu benützen, Standards
einzufordern und dadurch auch unbequeme Fragen zu stellen: Genüge
ich den an mein Amt gestellten Ansprüchen? Bemühe ich mich um
Gerechtigkeit? Gehe ich maßvoll und vernünftig mit den mir
anvertrauten Ressourcen um, bin ich innerlich stark, halte ich meine
Linie ein oder orientiere ich mich nur an Umfragewerten? Denke ich
wirklich an das Wohl der Gemeinschaft oder nur an die nächste Wahl?
Solche historischen öffentlichen Bauten haben also oft
moralisierende Botschaften. Sie erscheinen uns heute unzeitgemäß und
seltsam. Und doch beklagen wir ständig den Verlust von politischer
Moral.
Dienstag, 11.10.2011
Seit 1874 finden auf dem Wiener Sankt Marxer Friedhof keine
Begräbnisse mehr statt. Der Friedhof ist heute ein dunkler
stimmungsvoller Garten mit alten Grabsteinen und dichter Vegetation.
Diese Grabsteine sind viel mitteilsamer als die heutigen. Nur ein
Beispiel:„Hier ruhet vereint mit ihrem Sohne Josef Frau Elisabeth
Heim. Ersterer gestorben 1858 in seinem 17. Lebensjahr, Letztere
gestorben 1859 in ihrem 51. Lebensjahr. Mutter und Bruder sind nicht
mehr, der Platz in unserem Kreis ist leer. Sie reichen uns nicht
mehr die Hand. Der Tod zerriss das schöne Band.“ Solche
Innschriften erzählen von den Lebensumständen der Biedermeierzeit,
von der Verbundenheit und Gebundenheit an Grund und Boden, sie
erzählen vom frühen Sterben. Sie sprechen aber vor allem von der
Trauer der Hinterbliebenen, vom Schmerz, der so alt ist wie die
Geschichte der Menschheit. „Der Platz in unserm Kreis ist leer“.
Diese Leere will ausgefüllt werden durch den Versuch, den Toten nahe
zu bleiben. Es gibt Anthropologen, die behaupten, dass dies der
Ursprung der Kultur wäre. Und aus diesem Bedürfnis nach
Vergegenwärtigung der Toten entsteht auch der Wusch, jene Stelle zu
bezeichnen, an der man sie bestattete. Die Gräber sind die ältesten
Denkmale und die ältesten Kultstätten. Am Ursprung der Religion
steht der Ahnenkult.
Mittwoch, 12.10.2011
Man sieht es den Schutzhäusern im Hochgebirge an, dass sie gebaut
sind, um der rauen Natur standzuhalten; oft sind sie ganz aus Stein
gemauert. Das Innere war zunächst oft sehr primitiv und
minimalistisch eingerichtet, doch bemühte man sich doch, zumindest
einen Raum mit einer Vertäfelung und einem Ofen halbwegs wohnlich zu
gestalten. Einige dieser Schutzhütten stehen heute unter
Denkmalschutz, als bauliche Zeugnisse für die in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts langsam einsetzende Eroberung der Alpen für den
Tourismus. Diese Schutzhütten sind aber auch ein Symbol für die von
den Menschen über Jahrtausende geschaffene eigene Welt, die der
Natur und ihren Elementarkräften entgegensetzt ist. Diese
„Weltdinge“, sagt Hannah Arendt, „haben die Aufgabe menschliches
Leben zu stabilisieren. Sie bieten eine Identität, die sich daraus
herleitet, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden
Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit
entgegenstehen“. Wir sind selbst in den Kreislauf der Natur
eingebunden, doch ist es den Menschen gelungen, eine eigene Welt zu
errichten, die uns vor der Natur schützt, die Behausungen, die in
ihrer Summe Geborgenheit und Kontinuität vermitteln. Es ist im
Interesse unserer Lebensqualität, dass wir diese langsam gewachsene,
ererbte Umwelt behutsam weiterentwickeln und nicht abrupt verändern
oder zerstören.
Donnerstag, 13.10.2011
Der spätgotische Flügelalaltar, den Christoph von Zelking für seine
Kirche in Kefermarkt im Mühlviertel gestiftet hat, war so groß, dass
dafür der Chor neu gebaut werden musste: Über 13 Meter hoch ist der
Altar mit dem filigranem Aufsatz. Ein grandioses, ungemein präsentes
Kunstwerk, und doch ist es ein Wunder, dass es noch existiert. Es
war Adalbert Stifter, der es vor 160 Jahren gerettet hat. Bereits
vom Holzwurm zerfressen, wäre er wohl wie viele andere derartige
Altäre zerhackt und verbrannt worden, hätte sich nicht der Dichter
seiner angenommen und die erste Restaurierung initiiert und
geleitet. Insgesamt sieben Restaurierungen folgten im Lauf der
Jahre.
Wenn wir in Kirchen, Museen und Sammlungen Kunstwerke bewundern,
sollten wir uns im Klaren darüber sein, dass diese Dinge nicht
selbstverständlich oder zufällig da sind. Sie brauchen Pflege,
Menschen die sich um sie kümmern, die Energie und Arbeitskraft in
das Werk anderer Menschen stecken, damit deren Botschaft
weiterlebt. Stifter lässt in seinem Roman „Der Nachsommer“ jemanden
zu Wort kommen, der ein Gemälde restauriert: „Es war nicht nur das
Gefühl eines Erschaffens, das uns beseelte“, sagt er, “sondern das
noch höhere eines Wiederbelebens eines Dinges, das sonst verloren
gewesen wäre, und das wir selber nicht hätten erschaffen können“.
Verantwortung für eine fremde Schöpfung übernehmen und dieses fremde
Werk wieder zur Geltung zu bringen.
Freitag, 14.10.2011
Der kleine Marktort Lauffen im Salzkammergut liegt an der Traun; er
verdankt seine historische Bedeutung der Salzschifffahrt auf diesem
Fluss. Um die Schifffahrt zu erleichtern hat man hier seit dem 16.
Jahrhundert immer wieder Regulierungsarbeiten durchgeführt. Im Zuge
dieser Arbeiten wurden auch Schwemmplätze geschaffen. Die
Lauffenerinnen haben die Wäsche in den Waschküchen ihrer Häuser
gekocht und die nasse Wäsche dann zum Fluss getragen, um die Lauge
auszuschwemmen. Um dabei nicht unmittelbar im eiskalten Wasser
arbeiten zu müssen, knieten sie auf rechteckigen Staffelhölzern die
sie auf die Schwoabstoana, die Schwemmsteine legten. Auf diese Weise
hat man über Jahrhunderte Wäsche gewaschen - nicht nur in Lauffen.
„Der Mensch müht und plagt sich sein Leben lang, und was hat er
davon?“, heißt es im alttestamentlichen Buch Kohelet.
Die Schwemmplätze von Lauffen sind Denkmale für über Jahrhunderte
geleistete „Schattenarbeit“. Schwere, alltägliche Arbeit, die
weitgehend unsichtbar bleibt. Arbeit, die aber ein kultiviertes
Leben, Zivilisation erst ermöglicht. Der Schriftsteller Alfred
Polgar hat versucht, den gesellschaftlichen Wert dieser unbedankten,
früher mit schweren körperlichen Anstrengungen verbundenen, Arbeit
in dem Aufsatz „Die kleinen Leute“ bewusst zu machen: „Von Gnaden
der kleinen Leute leben wir … ohne sie stürzte die Welt in Nacht und
Kälte.“
Freitag, 15.10.2011
Schon Shakespeare hat sich gefragt, wie es kommt, dass ein
schwingender Schafsdarm - die Saite - die Seele aus eines Menschen
Leib ziehen kann. Natürlich ist es nicht nur ein Schafsdarm, der zu
unserer Seele spricht, wenn wir Musik hören, sondern die Komposition
und die Interpretation eines Menschen. Und doch verdanken wir dieses
Hörerlebnis auch einer ganzen Reihe von Erfindern, Technikern,
Toningenieuren, die uns teilweise wohl auch schon lange verlassen
haben. Einen ganz besonderen Techniker will ich dabei nicht
vergessen: den Instrumentenbauer. So hat etwa Antonio Stradivari im
italienischen Cremona vor über 300 Jahren Geigen gebaut, die heute
noch gespielt werden. Auch solch eine Geige ist ein Denkmal, das
über vieles nachdenken lassen kann. Über die Tatsache etwa, dass es
Meisterwerke der Vergangenheit gibt, die so vollkommen sind, dass
sie vielleicht kopiert aber kaum übertroffen werden können; dass an
den sublimsten Klangerlebnissen ganz konkrete Dinge beteiligt sind,
Instrumente, die aus verschiedenen, ausgesuchten Hölzern
zusammengefügt wurden, in einem aufwändigen Arbeitsprozess, der
selbst wieder auf Jahrhunderte lang weitergegebener handwerklicher
Erfahrung beruht; und dass wir schließlich unser gutes Leben, das
uns Tag für Tag eine Fülle bereichernder Erlebnisse zur Verfügung
stellen kann, denen zu verdanken haben, die vor uns auf dieser Erde
gelebt haben. Wir sind reiche, glückliche Erben.