Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Andreas Lehne (Wien)

 

 

Sonntag, 9.10.2011

Das gehört zu den spannendsten Momenten, wenn ein historischer Kirchturm restauriert wird. Das Öffnen der Metallkugel, auf der das Kirchturmkreuz montiert ist. Manchmal findet man darin eingeschlossen Nachrichten aus der Zeit der Erbauung. Dokumente, die über die damaligen Zeiten berichten, darüber, wer die Kirche finanziert hat, wer damals über das Land geherrscht hat, vielleicht auch über Wetterkapriolen oder kriegerische Auseinandersetzungen; manchmal hat man auch ein paar Münzen mit eingeschlossen. Diese Botschaften hat man seinerzeit in ihrer vergoldeten Kapsel abgeschickt, wie eine Flaschenpost an die Zukunft. Transportiert werden sollte diese Flaschenpost von dem Kirchenbau, von dem man sich sicher war, dass er noch lange Zeit bestehen würde. Aber irgendwann, hat man gedacht, wird der Kirchturm repariert werden müssen, in dieser fernen Zukunft wird es Menschen geben, die vielleicht neugierig sein werden, etwas von vergangenen Zeiten zu erfahren. Denkmäler sind keine Raumschiffe, sondern Zeitschiffe, sie sind lange unterwegs und sie transportieren Nachrichten, es müssen nicht immer in Kapseln eingeschlossene Dokumente sein, auch die Steine sprechen von der Vergangenheit, man muss darin nur lesen können.

 

 

 

Montag, 10.10.2011

Das Rathaus von Eisenstadt ist über vierhundert Jahre alt. Die Fassade schmücken Malereien, weibliche Figuren, sie symbolisieren die Tugenden. Zum Glück sind diese Figuren mit Schriftbändern versehen, so können wir sie leichter identifizieren. Die Temperantia etwa, die für das Maßhalten steht, sie trägt einen Krug in der Hand, oder auch die Justitia mit ihren verbundenen Augen, sie steht für die Gerechtigkeit, die ohne Ansehen der Person handelt, daneben Fortitudo, die Stärke. Heute scheint uns das vielleicht eine naive Vorstellung, dass Bauten mit solchen Bildern etwas bewirken könnten, zum Beispiel eine bessere Politik. Aber eigentlich ist der Gedanke doch nicht ganz abwegig, Architektur dazu zu benützen, Standards einzufordern und dadurch auch unbequeme Fragen zu stellen: Genüge ich den an mein Amt gestellten Ansprüchen? Bemühe ich mich um Gerechtigkeit? Gehe ich maßvoll und vernünftig mit den mir anvertrauten Ressourcen um, bin ich innerlich stark, halte ich meine Linie ein oder orientiere ich mich nur an Umfragewerten? Denke ich wirklich an das Wohl der Gemeinschaft oder nur an die nächste Wahl?

Solche historischen öffentlichen Bauten haben also oft moralisierende Botschaften. Sie erscheinen uns heute unzeitgemäß und seltsam. Und doch beklagen wir ständig den Verlust von politischer Moral.

 

 

 

 Dienstag, 11.10.2011

Seit 1874 finden auf dem Wiener Sankt Marxer Friedhof keine Begräbnisse mehr statt. Der Friedhof ist heute ein dunkler stimmungsvoller Garten mit alten Grabsteinen und dichter Vegetation. Diese Grabsteine sind viel mitteilsamer als die heutigen. Nur ein Beispiel:„Hier ruhet vereint mit ihrem Sohne Josef Frau Elisabeth Heim. Ersterer gestorben 1858 in seinem 17. Lebensjahr, Letztere gestorben 1859 in ihrem 51. Lebensjahr. Mutter und Bruder sind nicht mehr, der Platz in unserem Kreis ist leer. Sie reichen uns nicht mehr die Hand. Der Tod zerriss das schöne Band.“  Solche Innschriften erzählen von den Lebensumständen der Biedermeierzeit, von der Verbundenheit und Gebundenheit an Grund und Boden,  sie erzählen vom frühen Sterben. Sie sprechen aber vor allem von der Trauer der Hinterbliebenen, vom Schmerz, der so alt ist wie die Geschichte der Menschheit. „Der Platz in unserm Kreis ist leer“. Diese Leere will ausgefüllt werden durch den Versuch, den Toten nahe zu bleiben. Es gibt Anthropologen, die behaupten, dass dies der Ursprung der Kultur wäre.  Und aus diesem Bedürfnis nach Vergegenwärtigung der Toten entsteht auch der Wusch, jene Stelle zu bezeichnen, an der man sie bestattete. Die Gräber sind die ältesten Denkmale und die ältesten Kultstätten. Am Ursprung der Religion steht der Ahnenkult.

 

 

 

Mittwoch, 12.10.2011

Man sieht es den Schutzhäusern im Hochgebirge an, dass sie gebaut sind, um der rauen Natur standzuhalten; oft sind sie ganz aus Stein gemauert. Das Innere war zunächst oft sehr primitiv und minimalistisch eingerichtet, doch bemühte man sich doch,  zumindest einen Raum mit einer Vertäfelung und einem Ofen halbwegs wohnlich zu gestalten. Einige dieser Schutzhütten stehen heute unter Denkmalschutz, als bauliche Zeugnisse für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam einsetzende Eroberung der Alpen für den Tourismus. Diese Schutzhütten sind aber auch ein Symbol für die von den Menschen über Jahrtausende geschaffene eigene Welt, die der Natur und ihren Elementarkräften entgegensetzt ist. Diese „Weltdinge“, sagt Hannah Arendt,  „haben die Aufgabe menschliches Leben zu stabilisieren. Sie bieten eine Identität, die sich daraus herleitet, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen“. Wir sind selbst in den Kreislauf der Natur eingebunden, doch ist es den Menschen gelungen,  eine eigene Welt zu errichten, die uns vor der Natur schützt, die Behausungen, die in ihrer Summe Geborgenheit und Kontinuität vermitteln. Es ist im Interesse unserer Lebensqualität, dass wir diese langsam gewachsene, ererbte Umwelt behutsam weiterentwickeln und nicht abrupt verändern oder zerstören.

 

 

 

Donnerstag, 13.10.2011

Der spätgotische Flügelalaltar, den Christoph von Zelking für seine Kirche in Kefermarkt im Mühlviertel gestiftet hat, war so groß, dass dafür der Chor neu gebaut werden musste: Über 13 Meter hoch ist der Altar mit dem filigranem Aufsatz. Ein grandioses, ungemein präsentes Kunstwerk, und doch ist es ein Wunder, dass es noch existiert. Es war Adalbert Stifter, der es vor 160 Jahren gerettet hat. Bereits vom Holzwurm zerfressen, wäre er wohl wie viele andere derartige Altäre zerhackt und verbrannt worden, hätte sich nicht der Dichter seiner angenommen und die erste Restaurierung initiiert und geleitet. Insgesamt sieben Restaurierungen folgten im Lauf der Jahre.

Wenn wir  in Kirchen, Museen und Sammlungen Kunstwerke bewundern, sollten wir uns im Klaren darüber sein, dass diese Dinge nicht selbstverständlich oder zufällig da sind. Sie brauchen Pflege, Menschen die sich um sie kümmern, die Energie und Arbeitskraft in das Werk anderer Menschen stecken, damit deren Botschaft weiterlebt.  Stifter lässt in seinem Roman „Der Nachsommer“ jemanden zu Wort kommen, der ein Gemälde restauriert: „Es war nicht nur das Gefühl eines Erschaffens, das uns beseelte“, sagt er, “sondern das noch höhere eines Wiederbelebens eines Dinges, das sonst verloren gewesen wäre, und das wir selber nicht hätten erschaffen können“. Verantwortung für eine fremde Schöpfung übernehmen und dieses fremde Werk wieder zur Geltung zu bringen.

 

 

 

Freitag, 14.10.2011

Der kleine Marktort Lauffen im Salzkammergut liegt an der Traun; er verdankt seine historische Bedeutung der Salzschifffahrt auf diesem Fluss. Um die Schifffahrt zu erleichtern hat man hier seit dem 16. Jahrhundert immer wieder Regulierungsarbeiten durchgeführt. Im Zuge dieser Arbeiten wurden auch Schwemmplätze geschaffen. Die Lauffenerinnen haben die Wäsche in den Waschküchen ihrer Häuser gekocht und die nasse Wäsche dann zum Fluss getragen, um die Lauge auszuschwemmen. Um dabei nicht unmittelbar im eiskalten Wasser arbeiten zu müssen, knieten sie auf rechteckigen Staffelhölzern die sie auf die Schwoabstoana, die Schwemmsteine legten. Auf diese Weise hat man über Jahrhunderte Wäsche gewaschen - nicht nur in Lauffen.  „Der Mensch müht und plagt sich sein Leben lang, und was hat er davon?“, heißt es im alttestamentlichen Buch Kohelet.

Die Schwemmplätze von Lauffen sind Denkmale für über Jahrhunderte geleistete „Schattenarbeit“. Schwere, alltägliche Arbeit, die weitgehend unsichtbar bleibt. Arbeit, die aber ein kultiviertes Leben, Zivilisation erst ermöglicht. Der Schriftsteller Alfred Polgar hat versucht, den gesellschaftlichen Wert dieser unbedankten, früher mit schweren körperlichen Anstrengungen verbundenen, Arbeit in dem Aufsatz „Die kleinen Leute“ bewusst zu machen: „Von Gnaden der kleinen Leute leben wir … ohne sie stürzte die Welt in Nacht und Kälte.“ 

 

 

 

Freitag, 15.10.2011

Schon Shakespeare hat sich gefragt, wie es kommt, dass ein schwingender Schafsdarm - die Saite - die Seele aus eines Menschen Leib ziehen kann. Natürlich ist es nicht nur ein Schafsdarm, der zu unserer Seele spricht, wenn wir Musik hören, sondern die Komposition und die Interpretation eines Menschen. Und doch verdanken wir dieses Hörerlebnis auch einer ganzen Reihe von Erfindern, Technikern, Toningenieuren, die uns teilweise wohl auch schon lange verlassen haben. Einen ganz besonderen Techniker will ich dabei nicht vergessen: den Instrumentenbauer. So hat etwa Antonio Stradivari im italienischen Cremona vor über 300 Jahren Geigen gebaut, die heute noch gespielt werden. Auch solch eine Geige ist ein Denkmal, das über vieles nachdenken lassen kann. Über die Tatsache etwa, dass es Meisterwerke der Vergangenheit gibt, die so vollkommen sind, dass sie vielleicht kopiert aber kaum übertroffen werden können; dass an den sublimsten Klangerlebnissen ganz konkrete Dinge beteiligt sind, Instrumente, die aus verschiedenen, ausgesuchten Hölzern zusammengefügt wurden, in einem aufwändigen Arbeitsprozess, der selbst wieder auf Jahrhunderte lang weitergegebener handwerklicher Erfahrung beruht; und dass wir schließlich unser gutes Leben, das uns Tag für Tag eine Fülle bereichernder Erlebnisse zur Verfügung stellen kann, denen zu verdanken haben, die vor uns auf dieser Erde gelebt haben. Wir sind reiche, glückliche Erben.