„Weisheit aus der Wüste“ - Die Botschaft der frühen Mönche
von Pater Bernhard Eckerstorfer, Stift Kremsmünster
Sonntag, 16.10.2011
„Ich allein – und Gott – sind in der Welt.“ Als ich diese Worte das
erste Mal bei den Wüstenvätern las, war ich verwundert. Was – nur
ich und Gott? Doch langsam begriff ich den tieferen Sinn dieses
Spruchs von Altvater Alonios: „Wenn ein Mensch nicht dahin gelangt,
dass er in seinem Herzen spricht: ‚Ich allein und Gott sind in der
Welt’, dann wird er keine Ruhe finden.“ (AP 144)
Diese Weisung aus dem Schatz der frühen Mönche Ägyptens ist 1600
Jahre alt – heute aber nicht weniger aktuell. Ob man sich als
religiös bezeichnet oder nicht: Jeder Mensch hat eine Sehnsucht nach
Ruhe – nach einem Ende von Anstrengung, Streit und Hektik.
Im Frieden mit mir und der Welt. Altvater Alonios sagt mir, wie ich
diesen Zustand erreichen kann: Blende einmal die anderen aus – deine
Mitmenschen, die Dinge, die dich bestimmen, deine Beschäftigungen,
die dich nicht zur Ruhe kommen lassen. Trenne dich einmal in der
Vorstellung von allem, was dich bindet. Letztlich bist du allein mit
Gott, nur ihm verantwortlich.
Der Spruch von Alonios will mich von meinen Anhänglichkeiten und
Abhängigkeiten befreien. Am heutigen Sonntag denke ich ja auch an
Christi Auferstehung und an meine eigene Zukunft bei Gott. Es wird
eine Zeit kommen, in der mir alles in der Welt genommen wird und ich
nur noch Gott habe, der mir wieder alles geben kann. „Ich allein und
Gott.“
Montag, 17.10.2011
„Vergleiche dich nicht mit anderen.“ Dieser Rat war für die frühen
Mönche ein Schlüssel zum richtigen Leben. Warum eigentlich?
In den Wüsten des Orients haben sie es erfahren: Jeder Mensch ist
einzigartig, seine Geschichte und Sehnsucht sind einmalig. Wie
verhängnisvoll es doch ist, den eigenen Selbstwert durch den
Vergleich mit anderen zu definieren!
Uns modernen Menschen nicht unähnlich, lebten die Einsiedler auf
individuelle Weise. Sie waren in die Einöde ausgezogen, wo sie ein
strenges asketisches Leben führten. Letztlich fühlten sie sich nur
Gott verantwortlich. Viele von ihnen waren Originale – manchmal
skurril, aber immer unverwechselbar.
Ich denke, wir können viel von ihnen lernen. Wir reden zwar häufig
von Selbststand und Unabhängigkeit, doch der Vergleich mit anderen
wird uns schon sehr früh eingeimpft. Die Werbung stellt das eine
Produkt über die anderen – mit schrillen Worten der Steigerung. Das
Konkurrenzdenken bestimmt nicht nur die Wirtschaft, sondern das
öffentliche wie private Leben; Rankings haben Hochsaison.
Die christlichen Aussteiger aus dem 4. und 5. Jahrhundert haben sich
darum nicht gekümmert. Ihnen gelang es offensichtlich recht gut,
authentisch zu leben. Deshalb wurde ihre Weisheitslehre überliefert.
Sie kann auch uns befreien: „Vergleiche dich nicht mit anderen, und
du wirst Ruhe finden“.
(siehe z.B. AP 165, AP 788, AP 946)
Dienstag, 18.10.2011
Vor über eineinhalb Jahrtausenden kamen zu den frühen Mönchen in
Ägypten viele Menschen. Sie suchten Rat. Die Wüstenväter bewirkten
oft etwas durch eine überraschende Antwort.
Da kommen einmal drei Besucher zu Altvater Sisoes. Sie erzählen, was
in den Dörfern gerade gesprochen wird und was sie beschäftigt. Was
sagt der berühmte Einsiedler dazu? So berichtet der erste von einem
Gerücht; Sisoes schweigt. Der zweite redet über eine
Naturkatastrophe in einem fernen Land; auch dazu will der Mönch
nichts sagen. Der dritte gesteht seine Angst vor dem ewigen
Verderben – „Vater, was meinst du dazu?“ Sisoes antwortet: „Ich
denke nicht an all diese Dinge und kann dazu nichts sagen.“
Diese Antwort hat offensichtlich „gesessen“. Sonst hätten die drei
Besucher ihre Begegnung mit dem Altvater nicht weitererzählt. Sie
ist auch lehrreich für mich: Politik, Wirtschaft, Skandale,
Belangloses – überall will ich informiert sein und Gescheites sagen.
Sisoes hilft mir, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Wer bin
ich eigentlich – und was ist von mir in meiner eigenen kleinen Welt
gefordert? Und ich nehme mir vor, es heute zumindest einmal so zu
machen wie Altvater Sisoes: Was ich höre und sehe darf an mir oft
auch vorüber gehen. Ich brauche an so viele Dinge nicht weiter zu
denken und muss nicht überall dabei sein und mitreden.
frei nach AP 822
Mittwoch, 19.10.2011
Die frühen Mönche Ägyptens lebten nicht in einer heilen Welt. Aber
sie verstanden es, selbst aus schwierigen Situationen Nutzen zu
ziehen. Zum Beispiel erzählte man von Altvater Ares, wie er
gewissenhaft seiner Arbeit nachging. Die Matten und Körbe, die er
herstellte, verkaufte er jeden Tag im nahen Dorf. Als er zurückkam,
legte er das Geld in eine Schachtel und holte Wasser in einem großen
Krug von weit her. Währenddessen kam ein anderer Mönch, brach in
seine Einsiedelei ein und stahl das Geld. Jeden Tag.
Altvater Ares hatte anfangs das Geld versteckt, doch nach einiger
Zeit wollte er es dem Dieb leichter machen. Er sagte sich: „Der
Bruder soll sich nicht zu viel abmühen und meine Zelle durchsuchen
müssen.“ So ging es drei Jahre lang.
Altvater Ares musste wegen der Diebstähle noch härter arbeiten und
bescheidener leben. Da wurde der Räuber schwer krank, ließ den
Altvater holen und gestand ihm den täglichen Diebstahl und bat um
Verzeihung.
Die Reaktion des Einsiedlers ist faszinierend: „Drei Jahre hast du
gebraucht, um mir deine schlechten Taten einzugestehen! Aber hab
keine Angst.“ Und er beugte sich zum kranken Bruder nieder, der ihm
das Leben so schwer gemacht hatte, küsste seine Füße und Hände und
sagte zu ihm: „Der Herr segne diese Hände und Füße, weil sie mir
geholfen haben, ein echter Mönch zu werden.“
(frei nach der äthiopischen Collectio Monastica, hrsg. von V. Aras,
Louvain 1963, 13/80)
Donnerstag, 20.10.2011
„Wie werde ich Mönch?“ Im 5. Jahrhundert stellt ein suchender Mensch
irgendwo in Ägypten diese Frage dem berühmten Einsiedler Joseph.
Seine Sehnsucht nach Mehr treibt ihn durch die Wüste zu diesem
Altvater. Er erwartet eine Antwort, weil ihn die Lebensweise der
sog. Wüstenväter fasziniert.
„Wie du Mönch werden kannst? Durch zwei Dinge: Sprich immer wieder
‚Ich – wer bin ich?’ Und richte niemanden!“ Die Suche nach dem
vollkommenen Leben wirft den Fragenden also auf sich zurück: Er soll
sich zuerst einmal selber fragen: Wer bin ich eigentlich? Was trägt
mich – und wer soll ich werden? Die Frage „Ich – wer bin ich?“
bedeutet auch eine Relativierung: Nehme ich mich selbst nicht zu
wichtig? Setze ich mich nicht unter Druck, weil ich zu viel aus mir
selber machen will?
Altvater Josephs zweite Weisung ist: „Richte niemanden!“ Denn wer
ständig im Stillen andere verurteilt oder gar schlecht über sie
redet, der bringt sich selbst um die Chance der realistischen
Selbsteinschätzung. Wenn ich die anderen erniedrige, um selbst groß
zu werden, brauche ich ja nicht mehr an mir zu arbeiten. Ich habe
immer recht und kann mich in meiner Selbstgefälligkeit sonnen. Darum
will Altvater Joseph, dass jeder sich die Frage stellt: „Ich – wer
bin ich eigentlich?“
frei nach AP 385
Freitag, 21.10.2011
„Vater, was soll ich da tun? Ich sehe eine Aufgabe vor mir und kann
sie nicht erfüllen!“ Mir geht es wie diesem Mann, der bei Altvater
Mose in der Wüste Hilfe suchte: Auch ich sehe Aufgaben vor mir, aber
irgendetwas hindert mich daran, sie endlich anzugehen. So bin ich
gespannt, was der Mönch antwortet. – „Wenn du nicht ein Leichnam
wirst, kannst du deine Aufgabe nicht bewältigen!“ (AP 505)
Der Ratsuchende war wohl über diese Antwort verdutzt. Mir kommt sie
etwas makaber vor. Aber so wie er beim Rückweg durch die Wüste
langsam auf den tieferen Sinn gekommen sein dürfte, dämmert auch mir
langsam ein Licht: Meine Vorsätze und Vorhaben bewältige ich oft
nicht, weil ich alles perfekt machen möchte. Ich fürchte, den
fremden und eigenen Ansprüchen nicht zu genügen. Ein Leichnam ist
dagegen frei; Ehrgeiz, Eitelkeit und Angst sind ihm fremd. Ein
drastisches, aber einprägsames Bild: „Werde ein Leichnam! Lasse dich
durch nichts und niemanden drausbringen oder manipulieren.“ Mit
dieser Haltung kann ich mich in aller Freiheit dem widmen, was ich
zu tun habe.
Vielleicht hilft auch Ihnen an diesem Freitagmorgen die Weisung aus
der Wüste für so manche Aufgabe, die vor Ihnen steht:
„Vergegenwärtige dir deinen eigenen Tod. Kümmere dich nicht um die
Meinungen und Erwartungen der anderen. Lebe zuweilen so, als würdest
du schon im Grab liegen.“
(nach AP 1016)
Samstag, 22.10.2011
In der vergangenen Woche habe ich versucht, Ihnen einige Geschichten
und Sprüche der Wüstenväter zu vermitteln. Natürlich soll es nicht
darum gehen, die frühen Mönche Ägyptens zu idealisieren. Denn
dagegen wehren sie sich selbst.
„Ein Bruder ging zum Altvater Matoe: ‚Wenn ich unter den Menschen
bin, dann kann ich meine Zunge nicht beherrschen. Was soll ich tun?’
Der Einsiedler antwortete ihm: ‚Wenn du dich nicht zurückhalten
kannst, dann fliehe in die Einsamkeit. Denn es handelt sich dabei um
eine Schwäche. Die Starken sind es, die unter die Menschen gehen.’“
(nach AP 525)
Wer sich zurückzieht oder gar in die Wüste geht, ist also kein Held,
nicht schon alleine deshalb ein Asket und Heiliger. Vielmehr braucht
er die Stille und die Distanz zu sich selbst. Ein anderer Einsiedler
sagt: „Wenn du in der Wüste weilst, bilde dir nicht ein, dass du
etwas Großes tust. Sondern halte dich für einen Hund, den man
angebunden hat, damit er nicht beißt und die Menschen belästigt.“
Eine neue Sicht meines Lebens im Stift Kremsmünster wird mir da
eröffnet: Ich bin Gott nicht näher, weil ich Benediktinermönch
geworden bin. Sondern ich brauche die Tagesstruktur, die
Gemeinschaft, die Regeln, um mein Leben ständig auf Gott
auszurichten. Weil ich schwach und leicht abzulenken bin, suche ich
den Rückzug und die Wüstenzeiten. So wie die alten Mönche.
„AP“ zitiert nach: Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch
Gerontikon oder Alphabeticum genannt, übersetzt von Bonifaz Miller.
Trier: Paulinus-Verlag 41998.