Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Elisabeth Rathgeb, Seelsorgeamtsleiterin der Diözese Innsbruck

  

 

Sonntag, 30.10.2011

Heute ist der 30. Oktober. Früher hat mich dieses Datum oft melancholisch gestimmt: Der sonnige Oktober mit seinen goldenen Herbstfarben ist vorbei, der graue November steht vor der Tür; nicht Fisch - nicht Fleisch. Meistens noch kein Schnee, dafür Nebel. In diesen Tagen habe ich die Zugvögel beneidet: Die Schwalben, die einfach Richtung Süden verduften. Oder die Murmeltiere, die sich zum Winterschlaf einrollen und erst wieder im Frühling erwachen.

Im Lauf der Jahre habe ich entdeckt, dass so ein Winterschlaf doch eine ziemliche Zeitverschwendung wäre. Und seither halte ich es mit dem Propheten Kohelet aus dem Alten Testament: „Alles hat seine Zeit.“ Er redet zwar nicht vom schönen Oktober und vom tristen November. Aber er redet davon, dass jede Zeit im Leben ihren Sinn hat und gelebt werden will. Von dieser Lebenskunst bin ich noch weit entfernt. Aber der Gedanke hilft mir, den Herbst zu genießen, statt ihn zu fürchten. So freue ich mich im Oktober über reife Früchte, wärmende Sonnenstrahlen und die Farbenpracht im Blätterwald. Und für drei Tage folge ich den Zugschwalben – zwar nicht bis Afrika, aber nach Venedig.

Der November hat dann stille Zeiten zu bieten, wenn die Tage neblig und die Nächte lang werden. Alles hat seine Zeit, sagt der Prophet Kohelet. Und „Verschiebe die Dankbarkeit nie“, sagt Albert Schweizer. Aber das ist eine andere Herbst-Geschichte.

 

 

 

Montag, 31.10.2011

„Verschiebe die Dankbarkeit nie“, sagt Albert Schweitzer.

Wieso ich ihnen das heute am Weltspartag in aller Früh erzähle? Wo doch die Wirtschaftsaussichten eher trüb und die Sparzinsen im Keller sind. Oder zu Halloween, wo Kinder in gruseligen Masken nur die Wahl zwischen Süßem oder Saurem lassen? Oder zum Reformationstag. Oder zum Vorabend von Allerheiligen….

Ich finde, es ist ein gutes Motto für den heutigen Tag – vom Weltspartag bis Allerheiligen. Denn Dankbarkeit macht den Unterschied zwischen fleißigem Sparer und Geizkragen, auf Hochdeutsch eher unter Geizhals bekannt. Sie wissen schon: Das sind diejenigen, die Geiz geil finden. Und meinen, dass sie nichts zu verschenken haben.

Dankbarkeit schaut auf das, was wir haben. Nicht auf das Fehlende, das andere vielleicht haben. Das ist eher die Perspektive des Neids. Und der war früher einmal eine Todsünde. Etwas, das das Leben vergiftet – das eigene und das der anderen.

Dankbarkeit weiß das zu schätzen, was da ist. Deshalb macht Dankbarkeit reich. Und sie trägt auch noch Zinsen: Die Zinsen der Dankbarkeit sind Lebensfreude. Probieren Sie es aus: Wem möchten Sie schon lange einmal danken? Verschieben Sie es nicht. Tun Sie es heute. Denn morgen ist es vielleicht zu spät…

 

 

 

Dienstag, 1.11.2011

Sind Sie ein Heiliger? Oder eine Heilige? „Nein, um Himmels willen!“, werden die meisten von Ihnen jetzt sagen. Entweder, weil sie sich nicht so perfekt und vollkommen fühlen, wie man es von Heiligen allgemein erwartet. Oder weil sie nicht schein-heilig sein wollen.

„Heilig sein“ steht heute nicht mehr auf der Liste erstrebenswerter Lebensziele. Eher „in“ ist schon „heil sein“ im Sinn von rundum gesund, ganzheitlich leben - einfach glücklich. Und so ein rundes, heiles, ganzheitliches, glückliches Leben nennt die Bibel heilig: Ein Leben, das mit sich selbst, den Mitmenschen und mit Gott im Einklang ist. Und wer will das nicht? Mit sich selbst im Reinen sein, mit seinen Mitmenschen – und  vielleicht auch mit Gott?

Deshalb feiern wir heute Ihr Fest – oder besser unser Fest: Das Fest aller Heiligen. Aller Menschen, die zu einem „heilen“ Leben berufen sind. Und das sind wir in den Augen Gottes alle – auch, wenn es in unserem Leben Brüche, Un-heiliges und Unheiles, ja Verwundetes gibt. Eines Tages wird es geheilt werden. Und das Beste an diesem Fest ist: Der größte Bruch im Leben, der Tod, wird zu einer Brücke.

Durch die Hoffnung auf die Auferstehung verbindet „Allerheiligen“ uns mit allen, die vor uns waren und allen, die nach uns kommen werden.  

 

 

 

Mittwoch 2.11.2011

Zu Allerseelen hat in meinem Dorf der abendliche Gräberrundgang am Friedhof Tradition. Seit mein Vater vor über 20 Jahren verstorben ist, gehe ich regelmäßig auf den Friedhof. Wenn ich dann die Erde lockere, fällt mir der Ascher-Mittwochs-Satz ein: „Mensch, bedenke, dass du Staub bist. Aus Staub bist du geboren, und zum Staub wirst du zurückkehren.“

Das hat etwas Erschreckendes und Tröstliches zugleich: Auch wir Menschen sind eingebunden in den Kreislauf der Natur. Wenn ich das Grab neu bepflanze, denke ich unweigerlich an die Anekdote vom kleinen Mädchen, das nach dem Begräbnis der Oma sagt: „Heute haben wir die Oma eingepflanzt.“ Biblisch übersetzt würde es wohl heißen: „Das Samenkorn fällt in die Erde und stirbt, damit es zu neuem Leben erwachen kann.“ Einpflanzen gefällt mir besser. Es zeigt, dass etwas Neues wächst: Wie das wohl sein wird?

Da hilft mir der christliche Glaube an die Auferstehung: Bei Gott haben wir alle einen Namen, ein unverwechselbares „Ich“. Was jetzt daran unvollständig ist, wird vollständig sein, was jetzt gefangen hält, wird befreit. Das ist auch die Botschaft der Kerzen auf dem Grab: Ihr Licht erinnert uns an Ostern und die Auferstehung – unsere eigene und die unserer Lieben, die hier „eingepflanzt sind“.

 

 

 

Donnerstag, 3.11.2011

Heute in zehn Tagen findet in Dornbirn die Seligsprechung von Carl Lampert statt: Der gebürtige Vorarlberger war seit 1938 Stellvertreter des damaligen Innsbrucker Bischofs Paulus Rusch. In dieser Funktion kam er immer wieder in Konflikt mit den Nationalsozialisten, denen sein Einsatz für Recht und Gerechtigkeit ein Dorn im Auge war. Am 13. November 1944 wurde er in Halle an der Saale enthauptet. Die Seligsprechung an seinem Todestag, dem 13. November – ist ein Zeichen: Ein Zeichen gegen das Vergessen, ein Zeichen für Mut und Zivilcourage. Beides brauchen wir auch heute.

Manchmal ertappe ich mich selbst dabei, dass ich lieber den Kopf einziehe, als den Mund aufzumachen. Und das ganz ohne Risiko, wirklich einen „Kopf kürzer“ gemacht zu werden.

Groß ist die Versuchung, einen „Seligen“ als Ausnahme-Erscheinung abzustempeln. Als jemanden, der besondere Fähigkeiten mitbekommen hat und daher quasi „von oben“ zu Außergewöhnlichem berufen war. Aber es ist genau umgekehrt: Selig gesprochen werden Menschen, die mitten in ihren ganz gewöhnlichen Ängsten und mit ihren ganz normalen Begabungen trotzdem den Mut aufbringen, den Mund aufzumachen: gegen die Ausgrenzung von Menschen, gegen Hetz-Kampagnen jeglicher Art, für die Würde aller Menschen.

 

 

 

Freitag 4.11.2011

„Im Juni 2002 hatte Leymah Gbowee in Liberia einen Traum: Sie sprach darin mit Gott, und Gott bat sie, die Frauen ihrer Kirchengemeinde in einer Friedensbewegung zu mobilisieren. Da sie sich für keine besonders gute Christin hielt, habe sie zuerst gedacht, Gotte sollte lieber mit jemandem anderen reden.“ (SZ Nr. 232 vom 8./9.10.2011, S. 2)

Aber anscheinend hat Gott genau gewusst, mit wem er im bürgerkriegszerrissenen Liberia reden musste, denn Leymah Gbowee gründete die Friedensbewegung mit Frauen aller Religionen und hielt 2003 vor dem Präsidenten und Diktator Charles Taylor eine historische Rede: „Wir sind müde vom Krieg. Wir sind müde vom Fliehen. Wir sind müde davon, dass unsere Kinder vergewaltigt werden. Morgen werden uns unsere Kinder fragen: Mama, was war deine Rolle währende der Krise?“

Leymah Gbowee war damals 30 Jahre alt. Heute ist sie eine von drei Friedensnobelpreisträgerinnen. Wir hier in Österreich müssen Gott sei Dank nicht gegen Krieg, Hunger und tausendfache Vergewaltigung im eigenen Land kämpfen. Unsere Krisen sind kleiner. Oder weiter weg.

Aber trotzdem bleibt die Frage: „Was war deine Rolle während der Krise?“ Es muss ja nicht gleich der Friedensnobelpreis sein. Viel wäre es schon, wenn ich sagen könnte: „Ich habe alles getan, was mir möglich war.“

 

 

 

Samstag, 5.11.2011

Gerne schaue ich den tanzenden Blättern zu, wenn sie nach einer frostigen Nacht vom Baum fallen oder den Lärchennadeln, die bei Föhn herunter rieseln. Jetzt sind schon viele Laubbäume kahl: Leicht und luftig ragen ihre Äste in den Himmel. Jedes Jahr im Herbst staune ich neu, wie klug die Natur das eingerichtet hat. Und zugleich versuche ich, etwas von dieser Klugheit in meinen Alltag einzubauen: Da haben sich auch jede Menge Blätter angesammelt.

Nicht nur auf dem Schreibtisch in Form von Papier, sondern auch sonst: Dinge, die einmal nützlich oder schön waren. Dinge, mit denen ich wertvolle Erinnerungen verbinde. Irgendwo in meinen Genen steckt die Steinzeit-Sammel-Gewohnheit, nichts wegzuwerfen, denn man könnte es ja noch einmal brauchen. Mit der Zeit werden die gesammelten Schätze aber auch zu einer Last. Und deshalb habe ich mir vorgenommen, mir ein Beispiel an den Bäumen zu nehmen: Einmal im Jahr Ballast abwerfen. Ein Bekannter von mir ist da viel radikaler: Er verschenkt jeden Tag etwas. Er meint, das sei eine gute Einübung ins Loslassen. Und – ganz zuletzt - auch ins Sterben. Das bedrückt ihn nicht, ganz im Gegenteil. Denn er tut es im Vertrauen, dass es – wie Rilke so schön sagt – einen gibt, der dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.