von Elisabeth Rathgeb, Seelsorgeamtsleiterin der Diözese Innsbruck
Sonntag, 30.10.2011
Heute ist der 30. Oktober. Früher hat mich dieses Datum oft
melancholisch gestimmt: Der sonnige Oktober mit seinen goldenen
Herbstfarben ist vorbei, der graue November steht vor der Tür; nicht
Fisch - nicht Fleisch. Meistens noch kein Schnee, dafür Nebel. In
diesen Tagen habe ich die Zugvögel beneidet: Die Schwalben, die
einfach Richtung Süden verduften. Oder die Murmeltiere, die sich zum
Winterschlaf einrollen und erst wieder im Frühling erwachen.
Im Lauf der Jahre habe ich entdeckt, dass so ein Winterschlaf doch
eine ziemliche Zeitverschwendung wäre. Und seither halte ich es mit
dem Propheten Kohelet aus dem Alten Testament: „Alles hat seine
Zeit.“ Er redet zwar nicht vom schönen Oktober und vom tristen
November. Aber er redet davon, dass jede Zeit im Leben ihren Sinn
hat und gelebt werden will. Von dieser Lebenskunst bin ich noch weit
entfernt. Aber der Gedanke hilft mir, den Herbst zu genießen, statt
ihn zu fürchten. So freue ich mich im Oktober über reife Früchte,
wärmende Sonnenstrahlen und die Farbenpracht im Blätterwald. Und für
drei Tage folge ich den Zugschwalben – zwar nicht bis Afrika, aber
nach Venedig.
Der November hat dann stille Zeiten zu bieten, wenn die Tage neblig
und die Nächte lang werden. Alles hat seine Zeit, sagt der Prophet
Kohelet. Und „Verschiebe die Dankbarkeit nie“, sagt Albert
Schweizer. Aber das ist eine andere Herbst-Geschichte.
Montag, 31.10.2011
„Verschiebe die Dankbarkeit nie“, sagt Albert Schweitzer.
Wieso ich ihnen das heute am Weltspartag in aller Früh erzähle? Wo
doch die Wirtschaftsaussichten eher trüb und die Sparzinsen im
Keller sind. Oder zu Halloween, wo Kinder in gruseligen Masken nur
die Wahl zwischen Süßem oder Saurem lassen? Oder zum
Reformationstag. Oder zum Vorabend von Allerheiligen….
Ich finde, es ist ein gutes Motto für den heutigen Tag – vom
Weltspartag bis Allerheiligen. Denn Dankbarkeit macht den
Unterschied zwischen fleißigem Sparer und Geizkragen, auf
Hochdeutsch eher unter Geizhals bekannt. Sie wissen schon: Das sind
diejenigen, die Geiz geil finden. Und meinen, dass sie nichts zu
verschenken haben.
Dankbarkeit schaut auf das, was wir haben. Nicht auf das Fehlende,
das andere vielleicht haben. Das ist eher die Perspektive des Neids.
Und der war früher einmal eine Todsünde. Etwas, das das Leben
vergiftet – das eigene und das der anderen.
Dankbarkeit weiß das zu schätzen, was da ist. Deshalb macht
Dankbarkeit reich. Und sie trägt auch noch Zinsen: Die Zinsen der
Dankbarkeit sind Lebensfreude. Probieren Sie es aus: Wem möchten Sie
schon lange einmal danken? Verschieben Sie es nicht. Tun Sie es
heute. Denn morgen ist es vielleicht zu spät…
Dienstag, 1.11.2011
Sind Sie ein Heiliger? Oder eine Heilige? „Nein, um Himmels
willen!“, werden die meisten von Ihnen jetzt sagen. Entweder, weil
sie sich nicht so perfekt und vollkommen fühlen, wie man es von
Heiligen allgemein erwartet. Oder weil sie nicht schein-heilig sein
wollen.
„Heilig sein“ steht heute nicht mehr auf der Liste erstrebenswerter
Lebensziele. Eher „in“ ist schon „heil sein“ im Sinn von rundum
gesund, ganzheitlich leben - einfach glücklich. Und so ein rundes,
heiles, ganzheitliches, glückliches Leben nennt die Bibel heilig:
Ein Leben, das mit sich selbst, den Mitmenschen und mit Gott im
Einklang ist. Und wer will das nicht? Mit sich selbst im Reinen
sein, mit seinen Mitmenschen – und vielleicht auch mit Gott?
Deshalb feiern wir heute Ihr Fest – oder besser unser Fest: Das Fest
aller Heiligen. Aller Menschen, die zu einem „heilen“ Leben berufen
sind. Und das sind wir in den Augen Gottes alle – auch, wenn es in
unserem Leben Brüche, Un-heiliges und Unheiles, ja Verwundetes gibt.
Eines Tages wird es geheilt werden. Und das Beste an diesem Fest
ist: Der größte Bruch im Leben, der Tod, wird zu einer Brücke.
Durch die Hoffnung auf die Auferstehung verbindet „Allerheiligen“
uns mit allen, die vor uns waren und allen, die nach uns kommen
werden.
Mittwoch 2.11.2011
Zu Allerseelen hat in meinem Dorf der abendliche Gräberrundgang am
Friedhof Tradition. Seit mein Vater vor über 20 Jahren verstorben
ist, gehe ich regelmäßig auf den Friedhof. Wenn ich dann die Erde
lockere, fällt mir der Ascher-Mittwochs-Satz ein: „Mensch, bedenke,
dass du Staub bist. Aus Staub bist du geboren, und zum Staub wirst
du zurückkehren.“
Das hat etwas Erschreckendes und Tröstliches zugleich: Auch wir
Menschen sind eingebunden in den Kreislauf der Natur. Wenn ich das
Grab neu bepflanze, denke ich unweigerlich an die Anekdote vom
kleinen Mädchen, das nach dem Begräbnis der Oma sagt: „Heute haben
wir die Oma eingepflanzt.“ Biblisch übersetzt würde es wohl heißen:
„Das Samenkorn fällt in die Erde und stirbt, damit es zu neuem Leben
erwachen kann.“ Einpflanzen gefällt mir besser. Es zeigt, dass etwas
Neues wächst: Wie das wohl sein wird?
Da hilft mir der christliche Glaube an die Auferstehung: Bei Gott
haben wir alle einen Namen, ein unverwechselbares „Ich“. Was jetzt
daran unvollständig ist, wird vollständig sein, was jetzt gefangen
hält, wird befreit. Das ist auch die Botschaft der Kerzen auf dem
Grab: Ihr Licht erinnert uns an Ostern und die Auferstehung – unsere
eigene und die unserer Lieben, die hier „eingepflanzt sind“.
Donnerstag, 3.11.2011
Heute in zehn Tagen findet in Dornbirn die Seligsprechung von Carl
Lampert statt: Der gebürtige Vorarlberger war seit 1938
Stellvertreter des damaligen Innsbrucker Bischofs Paulus Rusch. In
dieser Funktion kam er immer wieder in Konflikt mit den
Nationalsozialisten, denen sein Einsatz für Recht und Gerechtigkeit
ein Dorn im Auge war. Am 13. November 1944 wurde er in Halle an der
Saale enthauptet. Die Seligsprechung an seinem Todestag, dem 13.
November – ist ein Zeichen: Ein Zeichen gegen das Vergessen, ein
Zeichen für Mut und Zivilcourage. Beides brauchen wir auch heute.
Manchmal ertappe ich mich selbst dabei, dass ich lieber den Kopf
einziehe, als den Mund aufzumachen. Und das ganz ohne Risiko,
wirklich einen „Kopf kürzer“ gemacht zu werden.
Groß ist die Versuchung, einen „Seligen“ als Ausnahme-Erscheinung
abzustempeln. Als jemanden, der besondere Fähigkeiten mitbekommen
hat und daher quasi „von oben“ zu Außergewöhnlichem berufen war.
Aber es ist genau umgekehrt: Selig gesprochen werden Menschen, die
mitten in ihren ganz gewöhnlichen Ängsten und mit ihren ganz
normalen Begabungen trotzdem den Mut aufbringen, den Mund
aufzumachen: gegen die Ausgrenzung von Menschen, gegen
Hetz-Kampagnen jeglicher Art, für die Würde aller Menschen.
Freitag 4.11.2011
„Im Juni 2002 hatte Leymah Gbowee in Liberia einen Traum: Sie sprach
darin mit Gott, und Gott bat sie, die Frauen ihrer Kirchengemeinde
in einer Friedensbewegung zu mobilisieren. Da sie sich für keine
besonders gute Christin hielt, habe sie zuerst gedacht, Gotte sollte
lieber mit jemandem anderen reden.“ (SZ Nr. 232 vom 8./9.10.2011, S.
2)
Aber anscheinend hat Gott genau gewusst, mit wem er im
bürgerkriegszerrissenen Liberia reden musste, denn Leymah Gbowee
gründete die Friedensbewegung mit Frauen aller Religionen und hielt
2003 vor dem Präsidenten und Diktator Charles Taylor eine
historische Rede: „Wir sind müde vom Krieg. Wir sind müde vom
Fliehen. Wir sind müde davon, dass unsere Kinder vergewaltigt
werden. Morgen werden uns unsere Kinder fragen: Mama, was war deine
Rolle währende der Krise?“
Leymah Gbowee war damals 30 Jahre alt. Heute ist sie eine von drei
Friedensnobelpreisträgerinnen. Wir hier in Österreich müssen Gott
sei Dank nicht gegen Krieg, Hunger und tausendfache Vergewaltigung
im eigenen Land kämpfen. Unsere Krisen sind kleiner. Oder weiter
weg.
Aber trotzdem bleibt die Frage: „Was war deine Rolle während der
Krise?“ Es muss ja nicht gleich der Friedensnobelpreis sein. Viel
wäre es schon, wenn ich sagen könnte: „Ich habe alles getan, was mir
möglich war.“
Samstag, 5.11.2011
Gerne schaue ich den tanzenden Blättern zu, wenn sie nach einer
frostigen Nacht vom Baum fallen oder den Lärchennadeln, die bei Föhn
herunter rieseln. Jetzt sind schon viele Laubbäume kahl: Leicht und
luftig ragen ihre Äste in den Himmel. Jedes Jahr im Herbst staune
ich neu, wie klug die Natur das eingerichtet hat. Und zugleich
versuche ich, etwas von dieser Klugheit in meinen Alltag einzubauen:
Da haben sich auch jede Menge Blätter angesammelt.
Nicht nur auf dem Schreibtisch in Form von Papier, sondern auch
sonst: Dinge, die einmal nützlich oder schön waren. Dinge, mit denen
ich wertvolle Erinnerungen verbinde. Irgendwo in meinen Genen steckt
die Steinzeit-Sammel-Gewohnheit, nichts wegzuwerfen, denn man könnte
es ja noch einmal brauchen. Mit der Zeit werden die gesammelten
Schätze aber auch zu einer Last. Und deshalb habe ich mir
vorgenommen, mir ein Beispiel an den Bäumen zu nehmen: Einmal im
Jahr Ballast abwerfen. Ein Bekannter von mir ist da viel radikaler:
Er verschenkt jeden Tag etwas. Er meint, das sei eine gute Einübung
ins Loslassen. Und – ganz zuletzt - auch ins Sterben. Das bedrückt
ihn nicht, ganz im Gegenteil. Denn er tut es im Vertrauen, dass es –
wie Rilke so schön sagt – einen gibt, der dieses Fallen unendlich
sanft in seinen Händen hält.