Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Pfarrer Dietmar Stipsits (Bad Tatzmannsdorf, Burgenland)

 

 

Sonntag, 06. Nov. 2011

 „Doch morgen, ja morgen, fang‘ ich ein neues Leben an! Und wenn net morgen, dann übermorgen oder zumindest irgendwann fang ich wieder ein neues Leben an!“ So heißt es in einem Lied der Band „Erste Allgemeine Verunsicherung“ und das bringt eine Lebenseinstellung zur Sprache, die wir wohl kennen: Das, was ansteht, aber unbequem ist, auf den nächsten Tag zu verschieben. Oder es so groß und überdimensioniert zu planen, dass der erste Schritt nie gewagt wird. Das  „Morgen“ oder „Übermorgen“, das das Lied der „EAV“ anspricht, ist eigentlich ein „Nie“, der Sankt-Nimmerleinstag.

Das Lied gehört nicht nur wegen der sehr eingängigen Melodie zu den bekanntesten Liedern der Band, sondern weil der Text ein - den meisten Menschen doch sehr bekanntes - Lebensgefühl widerspiegelt: Wir möchten vieles ändern in unserem Leben, doch gute Vorsätze werden oft nicht umgesetzt und schließlich bleibt alles beim Alten.

Mit meinen Morgengedanken in dieser Woche möchte ich Sie einladen, fünf Fragen zu stellen, wie Leben bewusst gestaltet werden kann.

 

 

 

Montag, 07. Nov. 2011

1. Von wem lasse ich mich (ver-)führen?

In der bekannten „Sündenfall“-Geschichte im Buch Genesis werden Adam und Eva von der Schlange in Versuchung geführt: „Wenn ihr davon esst, werdet ihr wie Gott sein“ (vgl. Gen 3,5). Damit hat die Schlange einen raffinierten Verdacht in den Kopf des Menschen gesetzt: Gott neidet euch euer Glück. Was gut und böse ist, was euch gut tut oder schadet, das braucht ihr euch doch nicht sagen zu lassen. Darüber könnt ihr doch selbst entscheiden! Gott engt eure Freiheit ein, legt euch Fesseln an, die nicht berechtigt sind. Befreit euch doch davon! Nehmt euer Leben, euer Glück selbst in die Hand!

„Von wem lasse ich mich führen?“ und „Von wem lasse ich mich verführen?“ – mit diesen beiden Fragen konfrontiert uns die „Sündenfall“-Geschichte. Ich persönlich beantworte für mich die Frage „Von wem lasse ich mich führen?“ folgendermaßen: Auch wenn mein Leben manchmal mühsam ist und schwer, wenn es mich mitunter unendlich niederdrückt, auch dann und gerade dann ist Gott mit mir, als der, dessen Sorge um mich niemals aufhört. Deshalb lasse ich mich von Gott führen – jeden Tag aufs Neue.

 

 

 

Dienstag, 08. Nov. 2011

2. Bin ich bereit, mich zu (ver-)ändern?

Bin ich bereit, mich zu ändern, ist die zweite Frage, die ich in dieser Woche stellen möchte. Und als Beispiel nenne ich den 75 Jahre alten Abraham aus dem 12. Kapitel des Buches Genesis. Eigentlich ist es ja verrückt, was uns diese uralte Abraham-Geschichte da erzählt. Einem alten Menschen wird zugemutet, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen, alles aufzugeben. Und Abraham folgt diesem Gott, ohne viele Fragen zu stellen, ohne Sicherheiten von Gott einzufordern.

Mich spricht diese Geschichte so an, weil ich das von mir selber kenne. Oft bin ich gefangen in Gewohnheiten, weil ich mein Leben bis ins letzte hinein planen möchte, ja kein Risiko, ja nichts Unvorhergesehenes in Kauf nehmen. Ich behaupte, dass diese Abraham-Geschichte unsere Sehnsucht wecken möchte, aus dieser unseren oft total verplanten, versicherten Welt, aus unseren festgefahrenen Lebensmustern auszubrechen, hin zu einer Welt, in der es noch Überraschungen gibt und Abenteuer und die Lust, Neues zu wagen, Neues zu entdecken.

Abraham beantwortet die Frage: „Bin ich bereit, mich zu verändern?“ aufgrund seiner Lebenserfahrungen mit: „Wage Neues, Gott gibt dir Kraft dazu.“

 

 

 

Mittwoch, 09. Nov. 2011

3. Was stärkt mich in der Krise?

Krisensituationen hat das Volk Israel vor allem in der Zeit der Wüstenwanderung erfahren. Das 17. Kapitel des Buches Exodus erzählt uns, dass auch in diesen kritischen Zeiten Gott sein Volk Israel nicht allein lässt, dass Gott es ist, der den Menschen in Krisen beisteht und hilft, zur Freiheit zu gelangen.

„Was stärkt mich in der Krise?“, ist die dritte Frage in meinen Morgengedanken. Existenzielle Krisen sind Teil unseres Lebens, behaupte ich, Zeiten, in denen wir jeden Lebenswillen, jeden Mut und jede Hoffnung verloren haben. Kein Antrieb beflügelt uns zu Aktivitäten, es scheint, als ob eine zentnerschwere Last auf uns läge; das Leben scheint nur noch dunkel zu sein.

Was stärkt mich in der Krise? Als Seelsorger erfahre ich folgende Fragen als hilfreich: Was und wer ist im Augenblick für mich wichtig, hat für mein Leben Gewicht – hier und jetzt? Was und wer ist grundsätzlich bedeutsam für mich, lässt mich frei atmen und dadurch wirklich leben? Diese Fragen können mir dabei helfen, in Krisenzeiten wieder Lust am Leben zu entdecken.

 

 

 

Donnerstag, 10. Nov. 2011

4. Worauf achte ich bei meinen Mitmenschen?

Der Prophet Samuel bekommt von Gott den Auftrag, einen Nachfolger Sauls zum König zu salben (vgl. 1 Sam. 16). Wie stellt sich Samuel den neuen König vor? Groß, kraftvoll, mutig, dynamisch, gewinnend, eine reife, erfahrene Führernatur? So defilieren die Söhne Isais an Samuel vorbei, einer kraftvoller als der andere. Aber keiner der sieben ist der von Gott Erwählte.

Nun erteilt Gott dem großen alten Samuel, dem geistigen Führer Israels, auf seine alten Tage hin eine Lektion: „Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt, Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist. Der Herr aber sieht das Herz“ (1 Sam 16,7).

Das Herz ist in der Bibel die Mitte des Menschen, die Stelle, wo der Mensch er selbst ist, wo die letzten Entscheidungen fallen über gut und böse, wo der Mensch seine innere gute Stimme vernimmt.

Worauf achte ich? Geht es auch mir – wie Samuel – um Äußerlichkeiten? Oder schaue ich auf das Herz, also auf das, worauf es wirklich ankommt?

 

 

 

Freitag, 11. Nov. 2011

5. Was macht mich lebendig?

„Was macht mich lebendig?“, ist die letzte Frage in meinen Morgengedanken. Diese Frage beantworte ich mit Friedrich Hölderlin, der in seinem Roman „Hyperion“ meint: „Was wäre das Leben ohne Hoffnung?“

Wie eine Forelle das Wasser, ein Computer Strom benötigt, so brauchen wir Menschen die Hoffnung. Wenn einer nichts mehr hofft, nichts mehr zu erhoffen hat, der hat sich aufgegeben, der sieht keine Zukunft mehr für sein Leben.

Um meinem Leben einen Sinn und damit auch Hoffnung zu geben, brauche ich Beziehungen und Erfahrungen, die mich bereichern. Beziehungen zu anderen Menschen, die mir zeigen, dass ich meinen Weg auch in schwierigen Zeiten nicht alleine gehen muss, und Erfahrungen, wie für mich persönlich das Bergwandern eine ist.

Wenn ich nach einigen Mühen und Anstrengungen den Berggipfel erwandert habe und bei herrlichem Wetter den wunderbaren Ausblick über die gesamte Region genieße, erfüllt mich dieses „Gipfelereignis“ immer wieder mit Staunen, Freude und viel Hoffnung. Und ich verspüre in diesem Moment auf ganz andere Weise, als z. B. im Gottesdienst Gottes Nähe.

Manchmal frage ich mich selber: Welche Beziehungen oder welche Erfahrungen erfüllen mich mit Hoffnung?

 

 

 

Samstag, 12. Nov. 2011

Kraft für den Alltag

„Doch morgen, ja morgen, fang‘ ich ein neues Leben an! Und wenn net morgen, dann übermorgen oder zumindest irgendwann fang ich wieder ein neues Leben an!“ Mit diesem Lied der österreichischen Band „Erste Allgemeine Verunsicherung“ wollte ich in dieser Woche einladen, das Leben bewusst anzusehen und zu gestalten.

Dabei ist der erste Schritt der wichtigste – mag er auch noch so klein sein – da mit ihm der Stillstand überwunden wird. Das gilt für alle Bereiche unseres menschlichen Lebens: Der erste Schritt zur Versöhnung, um Streit zu überwinden; der erste Schritt des Teilens, um Armut zu lindern; der erste Schritt im Umweltschutz, um endlich mit der Bewahrung der Schöpfung zu beginnen.

Christinnen und Christen dürfen den ersten Schritt in der Hoffnung auf Gott gehen. Wir müssen nicht den ganzen Weg schon überblicken; wir dürfen losgehen im Vertrauen darauf, dass Gott das Ziel kennt und mich führt. Und ich darf mit Antoine de Saint-Exupéry bitten: „Ich bitte nicht um Wunder und Visionen, Herr, sondern um die Kraft für den Alltag. Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte.“