Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Sr. Silke-Andrea Mallmann (Kloster Wernberg, Kärnten)

 

 

Sonntag, 13. Nov. 2011

Im heutigen Evangelium erzählt Jesus das Gleichnis von den Talenten. Es wird erzählt, wie verschiedene Arbeiter von einem Verwalter eine unterschiedliche Anzahl an Geld, an Talenten erhalten, um damit zu wirtschaften. Die, die ihr Geld gut einsetzen und damit arbeiten werden vom Verwalter gelobt. Ich habe mich oft gefragt, was Jesus mit diesem Gleichnis sagen wollte. Ihm geht es sicher nicht um das liebe Geld. Aber was sind meine Talente, mit denen ich wirtschaften, die ich verwalten soll? Lange habe ich gedacht, es seien meine Fähigkeiten, Begabungen. Da kam ich oft in einen unheimlichen Leistungsdruck - bis ich erkannte, dass es Jesus auch nicht darum geht. Heute denke ich, dass das größte Talent, die größte Gabe, die ich von Gott erhalten habe, die Gabe der Mitmenschlichkeit ist. Wir dürfen als Menschen miteinander durch das Leben gehen, wir sind einander geschenkt.  Dies ist das Talent, die Gabe, die ich einsetzen soll: Mein Menschsein, mein Mitmenschsein. Je mehr ich bereit bin , je mehr wir bereit sind, unser Menschsein mit anderen zu teilen, es einzusetzen mit allen Konsequenzen, desto mehr wird diese Welt ein Ort der Mitmenschlichkeit, desto mehr bricht das Reich Gottes an - in uns und unter uns

 

 

 

Montag, 14. Nov. 2011

„Endlich, endlich Fleisch von meinem Fleisch“. Endlich ein Mitmensch! „Endlich“ - das ist das erste Wort das Adam, der erste Mensch im Schöpfungsbericht im Buch Genesis spricht, als Gott ihm seine Frau Eva zur Seite stellte: Endlich, endlich gibt es jemand, der mir gleich ist, der zu mir gehört, der mir ebenbürtig ist. Schon in diesem ganz alten Schöpfungsmythos hört man heraus, wie wichtig für den Menschen ist, dass es einen anderen Menschen gibt. In diesem Wort „endlich“ schwingt die ganze Sehnsucht des Menschen nach Beziehung, nach Gemeinschaft, nach Erfüllung mit. Wir sind ganz und gar aufeinander, auf ein „Du“ hin geschaffen. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber sagte: „Der Mensch wird am Du zum ICH“. Wir brauchen einander, um zu werden, um zu wachsen.
 „Endlich bist Du da … endlich kommst du wieder … gut, dass Du da bist“, diese Sätze hört man manchmal an Flughäfen oder Bahnsteigen, wenn eine Person nach langer Abwesenheit wieder in das Leben eines anderen Menschen tritt.
Ich frage mich heute: Wann habe ich zum letzten Mal, den Menschen mit denen ich zusammenlebe, gesagt, dass es gut ist, dass sie da sind, dass es gut ist, dass es sie gibt?

 

 

 

Dienstag, 15. Nov. 2011

Einem anderen Menschen wirklich zum Mitmenschen zu werden, setzt ein großes Maß an Selbsterkenntnis voraus.
Der Heilige Bernhard von Clairveaux sagt: „Keiner ist also weise, der nicht über sich selbst Beschied weiß.“
Sich selbst zu erkennen, so wie ich wirklich bin, mit all meinen Stärken, aber auch mit all meinen Ecken und Kanten, Schwächen und Verletzlichkeiten und anzuerkennen, dass nicht immer alles so ist, wie ich es mir gerne wünschen würde, erfordert von mir Mut, Wahrhaftigkeit und immer auch den Spiegel der anderen Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Um wahrhaft Mensch zu werden, braucht es das DU, den anderen Menschen. Nur gemeinsam mit ihm werde ich wirklich Mensch. Und nur da, wo ich ihm ein Mit-mensch werde, verlasse ich den Raum, meiner egoistischen Selbstsuche. Ich werde plötzlich fähig zu teilen, solidarisch zu handeln, mitzufühlen. Mitmenschlichkeit ist das Talent, die Gabe, die mein Leben und das Leben anderer, aber auch ganze Gesellschaften verändern kann. Mitmenschlichkeit ist eine große persönliche aber auch politische Sprengkraft. Vielleicht haben wir daher oft unbewusst Angst vor ihr. Da, wo Menschen bewusst als Mitmenschen handeln, verändert sich die Welt.

 

 

 

Mittwoch, 16. Nov. 2011

„Fahre nicht schneller als Dein Schutzengel fliegen kann“, so lautete ein Spruch, der vor Jahren als Plakette auf Autos klebte. Als ich mir vor Jahren wieder einmal einen Wettkampf mit meinem Schutzengel auf der Autobahn lieferte, hörte ich im Radio, wie ein Autohersteller eine Rückholaktion für Autos ausrief, deren Gaspedal zu klemmen schien und die immer mehr beschleunigten. Es erwischte mich eiskalt. Mein Schutzengel gewann und mir wurde schlagartig bewusst: Rückholaktion - genau darum geht es - auch in meinem Leben. Wenn ich nicht immer wieder aufpasse, dann lebe ich doch oft, als hätte ich ein eingeklemmtes Gaspedal: immer schneller, immer besser, immer mehr.
Um anderen ein Mitmensch zu werden, muss ich mich immer wieder zurückholen, zurückholen lassen, zu dem, was wirklich wichtig ist, was mein Leben ausmacht, zu dem, was in meinem innersten Kern leben will.
Gott lädt mich ein zu IHM, zu „meinem Hersteller“, zurückzukehren. Nicht um immer schneller oder besser zu werden, sondern um immer wesentlicher zu werden, immer mehr zu derjenigen zu werden, als die Er mich erdacht und ins Leben gerufen hat.

Seitdem ich das erkannt habe, verstehe ich mich auch mit meinem Schutzengel wieder besser.

 

 

 

Donnerstag, 17. Nov. 2011

Mitmenschlichkeit ist die Fähigkeit, sich vom Schicksal des anderen auch bis ins Tiefste erschüttern zu lassen.
Im heutigen Evangelium wird berichtet wie Jesus weint, er weint voll Mitleid, voll Enttäuschung über Jerusalem, seine geliebte Stadt. Kennen sie das Gefühl dieser absoluten Hilfslosigkeit? Das Gefühl, es müsste doch noch etwas getan werden und Sie wissen genau, es geht nichts mehr. Ich erlebe dieses Gefühl immer wieder, wenn ich Asylwerbern in Österreich begegne. Menschen, die auf der Flucht sind, die in ihrer Heimat verfolgt werden, oft mit kleinen Kindern. Sie kommen nach Österreich und wägen sich scheinbar in Sicherheit. Sie beginnen vorsichtig damit, sich in Österreich ein Leben aufzubauen. Sie lernen Deutsch, sie lernen neue Regeln des Zusammenlebens. Und dann kommt eines Tages ein blauer Brief mit Papieren, die sie oft nicht verstehen. Verständlich ist nur: sie dürfen nicht bleiben! „Die Darstellung Ihrer Situation wird vom Bundesasylamt als unglaubwürdig erachtet“, heißt es. Ihrer Lebensgeschichte wird nicht geglaubt. Sie stehen vor dem Nichts: es gibt keinen Lebensraum mehr für sie, keine Hoffnung.

Ich denke, Jesus weint auch heute noch, wenn er uns, sein geliebtes Volk betrachtet.

 

 

 

Freitag, 18. Nov. 2011

Im Norden Mosambiks, treffe ich Joao,12 Jahre alt und seine kleine Schwester Lina, und ihre Mutter. Die Mutter ist blind. Jetzt lebt die Familie davon, dass Joao und Lina ihre Mutter durch die Stadt führen und betteln. Als Joao vor mir sitzt, klein und schmächtig, kommt er mir vor als wäre er gerade einmal acht Jahre alt. Doch als er spricht, bin ich erstaunt. Sein Portugiesisch ist fließend, seine Aussagen klar.

 „Was machst Du gern?“ frage ich ihn. „Studieren, zur Schule gehen“, sagt er „aber es ist schwer. Ich habe keine Bücher, keine Bleistifte. Die anderen beschimpfen mich. Sie sagen ich bin einer der Armen“. Er macht eine Pause, dann fährt er fort: „Aber das ist Kinderkram, Dinge, die Kinder tun“. Während er das sagt, verwandelt sich das Kind vor meinen Augen in einen Erwachsenen - ein Kind, das viel zu früh, alt werden musste. „Wenn Du einen Wunsch hättest …“, frage ich. Seine Mutter lächelt. „Studieren, etwas Besseres werden, wirklich etwas werden“, grinst er „ so was wie Minister“. Und der Erwachsene vor mir verwandelt sich zurück in ein Kind.

Einander zum Mitmenschen werden, heißt auch Verantwortung zu übernehmen für die Träume, die Visionen des anderen. Eine gerechtere Welt entsteht nur dann, wenn wir beginnen gemeinsam zu träumen.

 

 

 

Samstag, 19. Nov. 2011

Ich lernte die Mutter meiner afrikanischen Mitschwester Lea bei Leas Diplomfeier kennen.
Sr. Leas Mutter ist eine einfache Frau, aus einem Bergdorf im Eastern Cape, Mutter von acht Kindern. Sie hielt eine Rede vor der mit Gästen voll besetzten Aula: „Meine Tochter“, sagte sie, „ich habe versucht Dir vorzuleben, was es heißt ein Leben in Liebe zu den Menschen und zu Gott zu leben. Heute beginnst Du Dein Berufsleben. Ich habe Dich dazu erzogen, ehrlich und wahrhaftig zu sein, und  stets ein aufmerksames Herz für die Not der andern zu haben. Gott hat mir Dich geschenkt, ich lasse dich jetzt los, damit Du ein Geschenk wirst für andere.“
Da stand diese Frau, in ihrem traditionellen afrikanischen Kleid, die selbst nicht lesen und schreiben konnte, und berührte uns tief. Hatte sie nicht mehr vom Evangelium verstanden und gelebt als wir alle?
Frau B. würde in unserer heutigen Migrationsdiskussion, sicher keinen Aufenthalt in Österreich erhalten. Dafür fehlt ihr die wissenschaftliche Ausbildung, das technische Know How, die betriebswirtschaftliche Expertise. Sie ist halt nur eine Analphabetin aus einem Bergdorf. Ich frage mich nur manchmal, ob unsere Gesellschaft im Moment nicht das Know How, die Expertise von Menschlichkeit einer Frau B. braucht, um nicht wirklich zu verarmen?