von Sr. Silke-Andrea Mallmann (Kloster Wernberg, Kärnten)
Sonntag, 13. Nov. 2011
Im heutigen Evangelium erzählt Jesus das Gleichnis von den Talenten.
Es wird erzählt, wie verschiedene Arbeiter von einem Verwalter eine
unterschiedliche Anzahl an Geld, an Talenten erhalten, um damit zu
wirtschaften. Die, die ihr Geld gut einsetzen und damit arbeiten
werden vom Verwalter gelobt. Ich habe mich oft gefragt, was Jesus
mit diesem Gleichnis sagen wollte. Ihm geht es sicher nicht um das
liebe Geld. Aber was sind meine Talente, mit denen ich wirtschaften,
die ich verwalten soll? Lange habe ich gedacht, es seien meine
Fähigkeiten, Begabungen. Da kam ich oft in einen unheimlichen
Leistungsdruck - bis ich erkannte, dass es Jesus auch nicht darum
geht. Heute denke ich, dass das größte Talent, die größte Gabe, die
ich von Gott erhalten habe, die Gabe der Mitmenschlichkeit ist. Wir
dürfen als Menschen miteinander durch das Leben gehen, wir sind
einander geschenkt. Dies ist das Talent, die Gabe, die ich
einsetzen soll: Mein Menschsein, mein Mitmenschsein. Je mehr ich
bereit bin , je mehr wir bereit sind, unser Menschsein mit anderen
zu teilen, es einzusetzen mit allen Konsequenzen, desto mehr wird
diese Welt ein Ort der Mitmenschlichkeit, desto mehr bricht das
Reich Gottes an - in uns und unter uns
Montag, 14. Nov. 2011
„Endlich, endlich Fleisch von meinem Fleisch“. Endlich ein
Mitmensch! „Endlich“ - das ist das erste Wort das Adam, der erste
Mensch im Schöpfungsbericht im Buch Genesis spricht, als Gott ihm
seine Frau Eva zur Seite stellte: Endlich, endlich gibt es jemand,
der mir gleich ist, der zu mir gehört, der mir ebenbürtig ist. Schon
in diesem ganz alten Schöpfungsmythos hört man heraus, wie wichtig
für den Menschen ist, dass es einen anderen Menschen gibt. In diesem
Wort „endlich“ schwingt die ganze Sehnsucht des Menschen nach
Beziehung, nach Gemeinschaft, nach Erfüllung mit. Wir sind ganz und
gar aufeinander, auf ein „Du“ hin geschaffen. Der jüdische
Religionsphilosoph Martin Buber sagte: „Der Mensch wird am Du zum
ICH“. Wir brauchen einander, um zu werden, um zu wachsen.
„Endlich bist Du da … endlich kommst du wieder … gut, dass Du da
bist“, diese Sätze hört man manchmal an Flughäfen oder Bahnsteigen,
wenn eine Person nach langer Abwesenheit wieder in das Leben eines
anderen Menschen tritt.
Ich frage mich heute: Wann habe ich zum letzten Mal, den Menschen
mit denen ich zusammenlebe, gesagt, dass es gut ist, dass sie da
sind, dass es gut ist, dass es sie gibt?
Dienstag, 15. Nov. 2011
Einem anderen Menschen wirklich zum Mitmenschen zu werden, setzt ein
großes Maß an Selbsterkenntnis voraus.
Der Heilige Bernhard von Clairveaux sagt: „Keiner ist also weise,
der nicht über sich selbst Beschied weiß.“
Sich selbst zu erkennen, so wie ich wirklich bin, mit all meinen
Stärken, aber auch mit all meinen Ecken und Kanten, Schwächen und
Verletzlichkeiten und anzuerkennen, dass nicht immer alles so ist,
wie ich es mir gerne wünschen würde, erfordert von mir Mut,
Wahrhaftigkeit und immer auch den Spiegel der anderen Menschen, mit
denen ich zusammenlebe. Um wahrhaft Mensch zu werden, braucht es das
DU, den anderen Menschen. Nur gemeinsam mit ihm werde ich wirklich
Mensch. Und nur da, wo ich ihm ein Mit-mensch werde, verlasse ich
den Raum, meiner egoistischen Selbstsuche. Ich werde plötzlich fähig
zu teilen, solidarisch zu handeln, mitzufühlen. Mitmenschlichkeit
ist das Talent, die Gabe, die mein Leben und das Leben anderer, aber
auch ganze Gesellschaften verändern kann. Mitmenschlichkeit ist eine
große persönliche aber auch politische Sprengkraft. Vielleicht haben
wir daher oft unbewusst Angst vor ihr. Da, wo Menschen bewusst als
Mitmenschen handeln, verändert sich die Welt.
Mittwoch, 16. Nov. 2011
„Fahre nicht schneller als Dein Schutzengel fliegen kann“, so
lautete ein Spruch, der vor Jahren als Plakette auf Autos klebte.
Als ich mir vor Jahren wieder einmal einen Wettkampf mit meinem
Schutzengel auf der Autobahn lieferte, hörte ich im Radio, wie ein
Autohersteller eine Rückholaktion für Autos ausrief, deren Gaspedal
zu klemmen schien und die immer mehr beschleunigten. Es erwischte
mich eiskalt. Mein Schutzengel gewann und mir wurde schlagartig
bewusst: Rückholaktion - genau darum geht es - auch in meinem Leben.
Wenn ich nicht immer wieder aufpasse, dann lebe ich doch oft, als
hätte ich ein eingeklemmtes Gaspedal: immer schneller, immer besser,
immer mehr. Um anderen ein Mitmensch zu werden, muss ich mich immer wieder
zurückholen, zurückholen lassen, zu dem, was wirklich wichtig ist,
was mein Leben ausmacht, zu dem, was in meinem innersten Kern leben
will. Gott lädt mich ein zu IHM, zu „meinem Hersteller“,
zurückzukehren. Nicht um immer schneller oder besser zu werden,
sondern um immer wesentlicher zu werden, immer mehr zu derjenigen zu
werden, als die Er mich erdacht und ins Leben gerufen hat.
Seitdem ich das erkannt habe, verstehe ich mich auch mit meinem
Schutzengel wieder besser.
Donnerstag, 17. Nov. 2011
Mitmenschlichkeit ist die Fähigkeit, sich vom Schicksal des anderen
auch bis ins Tiefste erschüttern zu lassen.
Im heutigen Evangelium wird berichtet wie Jesus weint, er weint voll
Mitleid, voll Enttäuschung über Jerusalem, seine geliebte Stadt.
Kennen sie das Gefühl dieser absoluten Hilfslosigkeit? Das Gefühl,
es müsste doch noch etwas getan werden und Sie wissen genau, es geht
nichts mehr. Ich erlebe dieses Gefühl immer wieder, wenn ich
Asylwerbern in Österreich begegne. Menschen, die auf der Flucht
sind, die in ihrer Heimat verfolgt werden, oft mit kleinen Kindern.
Sie kommen nach Österreich und wägen sich scheinbar in Sicherheit.
Sie beginnen vorsichtig damit, sich in Österreich ein Leben
aufzubauen. Sie lernen Deutsch, sie lernen neue Regeln des
Zusammenlebens. Und dann kommt eines Tages ein blauer Brief mit
Papieren, die sie oft nicht verstehen. Verständlich ist nur: sie
dürfen nicht bleiben! „Die Darstellung Ihrer Situation wird vom
Bundesasylamt als unglaubwürdig erachtet“, heißt es. Ihrer
Lebensgeschichte wird nicht geglaubt. Sie stehen vor dem Nichts: es
gibt keinen Lebensraum mehr für sie, keine Hoffnung.
Ich denke, Jesus weint auch heute noch, wenn er uns, sein geliebtes
Volk betrachtet.
Freitag, 18. Nov. 2011
Im Norden Mosambiks, treffe ich Joao,12 Jahre alt und seine kleine
Schwester Lina, und ihre Mutter. Die Mutter ist blind. Jetzt lebt
die Familie davon, dass Joao und Lina ihre Mutter durch die Stadt
führen und betteln. Als Joao vor mir sitzt, klein und schmächtig,
kommt er mir vor als wäre er gerade einmal acht Jahre alt. Doch als
er spricht, bin ich erstaunt. Sein Portugiesisch ist fließend, seine
Aussagen klar.
„Was machst Du gern?“ frage ich ihn. „Studieren, zur Schule gehen“,
sagt er „aber es ist schwer. Ich habe keine Bücher, keine
Bleistifte. Die anderen beschimpfen mich. Sie sagen ich bin einer
der Armen“. Er macht eine Pause, dann fährt er fort: „Aber das ist
Kinderkram, Dinge, die Kinder tun“. Während er das sagt, verwandelt
sich das Kind vor meinen Augen in einen Erwachsenen - ein Kind, das
viel zu früh, alt werden musste. „Wenn Du einen Wunsch hättest …“,
frage ich. Seine Mutter lächelt. „Studieren, etwas Besseres werden,
wirklich etwas werden“, grinst er „ so was wie Minister“. Und der
Erwachsene vor mir verwandelt sich zurück in ein Kind.
Einander zum Mitmenschen werden, heißt auch Verantwortung zu
übernehmen für die Träume, die Visionen des anderen. Eine gerechtere
Welt entsteht nur dann, wenn wir beginnen gemeinsam zu träumen.
Samstag, 19. Nov. 2011
Ich lernte die Mutter meiner afrikanischen Mitschwester Lea bei Leas
Diplomfeier kennen.
Sr. Leas Mutter ist eine einfache Frau, aus einem Bergdorf im
Eastern Cape, Mutter von acht Kindern. Sie hielt eine Rede vor der
mit Gästen voll besetzten Aula: „Meine Tochter“, sagte sie, „ich
habe versucht Dir vorzuleben, was es heißt ein Leben in Liebe zu den
Menschen und zu Gott zu leben. Heute beginnst Du Dein Berufsleben.
Ich habe Dich dazu erzogen, ehrlich und wahrhaftig zu sein, und
stets ein aufmerksames Herz für die Not der andern zu haben. Gott
hat mir Dich geschenkt, ich lasse dich jetzt los, damit Du ein
Geschenk wirst für andere.“
Da stand diese Frau, in ihrem traditionellen afrikanischen Kleid,
die selbst nicht lesen und schreiben konnte, und berührte uns tief.
Hatte sie nicht mehr vom Evangelium verstanden und gelebt als wir
alle?
Frau B. würde in unserer heutigen Migrationsdiskussion, sicher
keinen Aufenthalt in Österreich erhalten. Dafür fehlt ihr die
wissenschaftliche Ausbildung, das technische Know How, die
betriebswirtschaftliche Expertise. Sie ist halt nur eine
Analphabetin aus einem Bergdorf. Ich frage mich nur manchmal, ob
unsere Gesellschaft im Moment nicht das Know How, die Expertise von
Menschlichkeit einer Frau B. braucht, um nicht wirklich zu verarmen?