Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 


von Superintendentin Luise Müller (Salzburg und Tirol)

 

 

 

Sonntag, 20.11.2011

Mein letztes Arbeitsjahr hat im September begonnen. Im kommenden August werde ich 60 Jahre alt und gehe in Pension. Weil mit diesem Abschied vom Leben einer berufstätigen Frau auch ein Wohnungswechsel verbunden ist, entrümple ich derzeit in jeder freien Minute Schubladen und Schränke, den Dachboden, den Keller. Gestern habe ich nach offenbar sehr langer Zeit eine Schublade geöffnet. Die Konfirmationsfliege unseres Sohnes, ein zerbröselnder, wahrscheinlich 25 Jahre alter Luftballon, ein hellblauer Plastikrosenkranz, den mir eine alte Katholikin geschenkt hatte, als ich einmal mit allen drei Kindern im Zug unterwegs zu den Großeltern war, Fotos, Schächtelchen, die Hülle eines Regenschirms, der längst irgendwo vergessen wurde, einer von Dutzenden einzelner Socken und was sich halt sonst noch in dreißig Jahren ansammelt. Zeugen prallen Lebens, dessen wesentlicher Abschnitt, nämlich das Erwerbsleben, jetzt zu Ende geht.

In Zukunft werde ich nicht mehr an drei Orten wohnen, in drei Betten schlafen, sondern zusammen mit meinem Mann eine ganz normale Etagenwohnung beziehen. Unsere Wohnungsfläche vermindert sich auf ein Drittel der bisherigen Fläche. Was werfe ich weg, was nehme ich mit? Auf alle Fälle übersiedeln die Fotos mit mir in die neue Wohnung. Bei manchem ist es ganz klar, dass es in den Müll gehört: Der zerbröselnde Luftballon, die Regenschirmhülle, die Socke. Aber auch die lila Fliege, Schächtelchen und Döschen wandern in den Abfall.

Derzeit fällt mir das Abschied Nehmen von Dingen leicht. Ich erlebe, wie ich dadurch Freiheit gewinne. Wie ich Lasten hinter mir lassen kann. Ein neuer Anfang. Ich freue mich darauf.

 

 

 

Montag, 21.11.2011

Neulich wars mal wieder so weit: der Besuch bei meiner Zahnärztin war nicht mehr zu verschieben. Als ich nach gut eineinhalb Stunden nach zwei Wurzelbehandlungen aus der Praxis schlich, war ich den Rest des Tages zu nichts mehr zu gebrauchen. Am Tag danach wurde mir noch ein Zahn gezogen, und ich gebe zu, auch wenn ich sonst behaupte, ganz gelassen dem Alter entgegen zu gehen, an solchen Tagen wird mir meine Endlichkeit schon bewusst.

Als ich mich im Zusammenhang mit dieser Aktion für eine Sitzung entschuldigte, musste ich mir schon den spöttischen Wunsch gefallen lassen: Pass auf, dass du deinen Biss nicht verlierst.

Seltsamerweise sind mir gerade meine Zähne sehr viel wert. Ich pflege sie gut und kann doch nicht verhindern, dass der eine oder andere schon gezogen wurde. Falten, Speckröllchen, Kniebeschwerden: damit kann ich leben. Aber fehlende Zähne, bitte nicht. Zum Glück gibt’s Implantate.

Alt werden. Nicht nur der kritische Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich auf dem besten Weg dorthin bin. Im kommenden Jahr gehe ich in Pension. Ja, und ich gestehe, seit ich mir bewusst mache, dass dies mein letztes Arbeitsjahr ist, fällt mir auch auf, dass mein Lebenstempo langsamer wird, dass ich länger brauche, um mich von Anstrengungen zu erholen, dass ich manches einfach nicht mehr mag: z.B. wochenlang durchzuarbeiten, nur fremdbestimmte Zeit, das enge Korsett meines Berufes.

Ich freue mich auf Neues: auf Langeweile, auf Privatleben, auf die Seiten in mir, die lange Zeit brachgelegen haben, auf die Talente, die ich erst noch entdecken muss. Aber eines ist klar. Meinen Biss, den verliere ich noch lange nicht.

 

 

 

Dienstag, 22.11.2011

Ständig werde ich gefragt, was ich denn in der Pension tun werde. Und ich gestehe, so wirklich weiß ich das nicht. Was ich weiß ist, dass ich mehr selbstbestimmte Zeit haben will. Und was ich auch weiß, ist, dass ich das mit mir selber und mit meinem Mann erst mal in Ruhe ausmachen will, bevor ich die Leute informiere. Neulich sagte eine Gesprächspartnerin zu mir, als ich etwas ausweichend auf die Frage nach meinen Ideen für die Zeit nach dem Pensionsantritt antwortete: Aha, Sie haben also noch keinen Plan.

Ich habe eine Landkarte vor Augen. Eine, mit vielen Möglichkeiten von A nach B zu kommen. Entscheide ich mich für die kürzeste Strecke, die landschaftlich schönste, die schnellste, die mit den meisten Sehenswürdigkeiten unterwegs – ich weiß es noch nicht. Und ich will diese Entscheidung auch noch nicht jetzt treffen. Denn noch bin ich nicht in A. A, das ist der Tag, ab dem ich kein Gehalt sondern eine Pension bekomme. A, das ist der Tag, an dem ich einfach so entscheiden kann, ob ich in der Früh noch eine halbe Stunde im Bett liegen bleibe. A, das ist der Tag, an dem ich zwei Stunden Zeitung lesen, oder meine Freundinnen einladen oder endlich doch anfangen kann, arabisch zu lernen. A, das ist vor allem der Tag, an dem ich entscheide, ob ich wirklich nach B will. Ob mir B als Ziel noch wirklich interessant genug erscheint, oder ob ich mich nach C aufmache.

Weise mir Herr deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit, so heißt es im Psalm. Diese Bitte war mir mein Leben lang wichtig. Und ich hoffe, dass Gott auch weiterhin meine Gedanken leitet. Und dann wird plötzlich der Plan da sein.

 

 

 

Mittwoch, 23.11.2011

Cocooning ist ein Schlagwort, das ich momentan immer wieder sehnsuchtsvoll höre. Cocooning meint den Rückzug ins Private, Einfache, ein bisschen Biedermeier, ein wenig Landlust. Ich gestehe, so ein Leben wünsche ich mir im Augenblick auch sehr. Ich bin müde nach einem anstrengenden Berufsleben. In einem schützenden Kokon eingesponnen zu sein, kann da schon sehr attraktiv klingen. Nicht mehr zu nachtschlafener Zeit zum Bahnhof aufbrechen und wenn der Zug keine Verspätung hat, kurz vor Mitternacht wieder daheim sein, nicht jeden Samstag und Sonntag irgendwo andershin unterwegs sein, keine nächtlichen Autofahrten bei Nebel oder Neuschnee oder Glatteis. Keine Sitzungen, die langweilig oder gar überflüssig sind. Mal wieder Zeit, um Musik zu hören, alle die Bücher lesen, die unberührt in meinen Regalen lagern, kochen, bügeln, oder spontan mal nach München fahren.

Und schon jetzt, wo ich diese Wünsche ausspreche, merke ich, dass dieser Traum vom Rückzug in eine heile Welt nicht zu mir passt. Ich weiß, dass ich spätestens nach ein paar Wochen meine schöne, gepflegte Wohnung auch dann mal verlassen möchte, wenns draußen stürmt oder schneit,  dass ich verrückt würde, wenn mein Tag nur aus kochen und putzen und Musik hören bestünde und ich keine Probleme mehr lösen und das Unmögliche versuchen dürfte.

Das, was ich mir wünsche, hat mit Freiheit zu tun. Dem Sabbat der Seele. Dem  Heilenden. Der Nähe Gottes. Ich bin bereit dafür, wo immer diese Nähe mir begegnet.

 

 

 

 

Donnerstag, 24.11.2011

Es hat sich schon in den letzten Jahren angekündigt, dass ich mit dem Alter dazulerne. Eines, was ich neu gelernt habe, ist nein zu sagen. Ich arbeite gerne. Und es macht mir in der Regel nichts aus, wenn es immer noch ein wenig mehr wird. Da noch eine Arbeitsgruppe, dort ein Projekt, mal einen Vortrag, ein Seminar, ich habs immer gerne gemacht. Einen Sonntag zum Werktag machen, vorbereiten, lesen, schreiben, ja auch mal Wäsche waschen, wenns sein musste. Und leider musste es viel zu oft sein. Scheinbar. Weil, ja, weil ich nicht nein sagen konnte. Weil ich neugierig war und interessiert, vielleicht auch begabt, und weil ich – so schien es – Kraft ohne Ende hatte.

Als ich meine Kirche in der Gruppe vertreten sollte, die für den Schutz des Sonntags kämpft, musste ich um der Ehrlichkeit Willen ablehnen. Denn sonntags zu arbeiten  war bei mir mehr die Regel als den Sonntag zu feiern. So scheinheilig konnte ich dann doch nicht sein.

Aber es gibt mir schon zu denken, dass wir gerade dort, wo es ums Beenden der Arbeit geht, so unbegabt sind. Woran liegt das? Ist Arbeit mehr wert als Ausruhen? Da gibt es die bekannte Geschichte der beiden Schwestern, zu denen Jesus auf Besuch kommt. Martha stellt sich gleich in die Küche und kocht und tut und ist fleißig. Ihre Schwester Maria dagegen sitzt bei Jesus und die beiden unterhalten sich. Und als Martha sich beschwert, dass Maria ihr nicht hilft, da gibt ihr Jesus nicht Recht, sondern der scheinbar faulen Maria. Schade, dass ich erst so spät begriffen habe, dass man auch mal nein zur Arbeit sagen kann.

 

 

 

Freitag, 25.11.2011

Es gibt ganz unterschiedliche ältere Frauen. Solche, die mit 65 noch in Läden einkaufen, in denen es Klamotten für Teenies gibt und solche, die Edelmarken für die reife Frau bevorzugen. Ich kenne eine, die mit 60 ein Zimmer im Seniorenheim bezog, und ich kenne die, die ganz alleine nach Afrika aufbrach und abseits der Touristenströme diesen Kontinent kennenzulernen versuchte.

Alt sein ist keine Frage des Alters. Und ich gebe zu, die Bandbreite, die ich erlebe, macht mir durchaus Mut, zuzugeben, dass ich auch älter werde. Ich möchte es mit Würde tun. Ich will mich nicht in ein Korsett zwängen lassen, in das ich nicht hineinpasse. Weder möchte ich einem krampfhaften Jugendwahn verfallen, noch möchte ich mir sagen lassen: Das tut man nicht in deinem Alter. In der Bibel werden uns einige alte Frauen vorgestellt, die keineswegs nur abwartend am Fenster saßen. Sara z.B., die Frau Abrahams. Sie war alt, als sie mit ihrem Mann noch einmal umzog. Nicht mit Möbelwagen und professionellen Helfern, sondern zu Fuß, ein mühsamer, langer Weg. Und dann noch die Herausforderung einer unzeitigen Schwangerschaft und späten Geburt.

Alt werden heißt nicht, ohne Träume zu leben. Alt werden heißt nicht, vom Leben und von Gott nichts mehr zu erwarten, ganz im Gegenteil. Ich weiß nicht, welches neue Kind mir noch bevorsteht, welche langen und mühsamen Wege mich erwarten, aber ich bin bereit. Alt werden heißt nicht, ohne Träume zu leben.

 

 

 

Samstag, 26.11.2011

Morgen ist der 1. Advent. Ich bin in jedem Jahr wieder überrascht, wie schnell der Advent, die Vorbereitungszeit auf Weihnachten da ist. Erst letzte Woche ging es am Ewigkeitssonntag noch um das Ende, den Tod, jetzt bereiten wir uns auf Jesus Geburt, einen ganz besonderen Anfang vor.

Beide Anlässe sagen uns: Gott ist da, du kannst dich auf ihn verlassen Zeit deines Lebens und darüber hinaus in alle Ewigkeit.

Ich kann mich noch gut erinnern, als ich 15 oder 16 war und mit einem Freund über die Ewigkeit diskutiert habe. Uns beide hat damals der Gedanke fasziniert, dass die Ewigkeit nicht eine unendliche Verlängerung der Zeit ist, sondern eine Dimension, in der Anfang und Ende zusammenfallen. Alles verdichtet auf einen Punkt.

Auch heute bin ich noch nicht viel gescheiter geworden, was denn die Ewigkeit sein könnte. Und meine liebste Erklärung ist es, mir das Leben in der Ewigkeit als die absolute Gottesnähe vorzustellen, in der alles andere nicht mehr existiert. Erfolg und Beziehungen, Macht und Einfluss, Gesundheit und Fitness. Das alles lassen wir hinter uns. Es ist vergänglich. Alles, was wir jetzt so gerne haben, wird abgelöst durch ein neues Sein. Jesus redet in diesem Zusammenhang vom Reich Gottes. Und manchmal  bekommen wir schon heute eine Ahnung davon, was das ist. Möglicherweise auch jetzt in der kommenden Adventszeit. Dann, wenn wir die Kontrolle aufgeben, wenn wir das Perfekte nicht mehr selber erreichen wollen, wenn wir das Leben geschehen lassen. Und dann spüren wir ihn: den Anfang der Ewigkeit.