von Superintendentin Luise Müller (Salzburg und Tirol)
Sonntag, 20.11.2011
Mein letztes Arbeitsjahr hat im September begonnen. Im kommenden
August werde ich 60 Jahre alt und gehe in Pension. Weil mit diesem
Abschied vom Leben einer berufstätigen Frau auch ein Wohnungswechsel
verbunden ist, entrümple ich derzeit in jeder freien Minute
Schubladen und Schränke, den Dachboden, den Keller. Gestern habe ich
nach offenbar sehr langer Zeit eine Schublade geöffnet. Die
Konfirmationsfliege unseres Sohnes, ein zerbröselnder,
wahrscheinlich 25 Jahre alter Luftballon, ein hellblauer
Plastikrosenkranz, den mir eine alte Katholikin geschenkt hatte, als
ich einmal mit allen drei Kindern im Zug unterwegs zu den Großeltern
war, Fotos, Schächtelchen, die Hülle eines Regenschirms, der längst
irgendwo vergessen wurde, einer von Dutzenden einzelner Socken und
was sich halt sonst noch in dreißig Jahren ansammelt. Zeugen prallen
Lebens, dessen wesentlicher Abschnitt, nämlich das Erwerbsleben,
jetzt zu Ende geht.
In Zukunft werde ich nicht mehr an drei Orten wohnen, in drei Betten
schlafen, sondern zusammen mit meinem Mann eine ganz normale
Etagenwohnung beziehen. Unsere Wohnungsfläche vermindert sich auf
ein Drittel der bisherigen Fläche. Was werfe ich weg, was nehme ich
mit? Auf alle Fälle übersiedeln die Fotos mit mir in die neue
Wohnung. Bei manchem ist es ganz klar, dass es in den Müll gehört:
Der zerbröselnde Luftballon, die Regenschirmhülle, die Socke. Aber
auch die lila Fliege, Schächtelchen und Döschen wandern in den
Abfall.
Derzeit fällt mir das Abschied Nehmen von Dingen leicht. Ich erlebe,
wie ich dadurch Freiheit gewinne. Wie ich Lasten hinter mir lassen
kann. Ein neuer Anfang. Ich freue mich darauf.
Montag, 21.11.2011
Neulich wars mal wieder so weit: der Besuch bei meiner Zahnärztin
war nicht mehr zu verschieben. Als ich nach gut eineinhalb Stunden
nach zwei Wurzelbehandlungen aus der Praxis schlich, war ich den
Rest des Tages zu nichts mehr zu gebrauchen. Am Tag danach wurde mir
noch ein Zahn gezogen, und ich gebe zu, auch wenn ich sonst
behaupte, ganz gelassen dem Alter entgegen zu gehen, an solchen
Tagen wird mir meine Endlichkeit schon bewusst.
Als ich mich im Zusammenhang mit dieser Aktion für eine Sitzung
entschuldigte, musste ich mir schon den spöttischen Wunsch gefallen
lassen: Pass auf, dass du deinen Biss nicht verlierst.
Seltsamerweise sind mir gerade meine Zähne sehr viel wert. Ich
pflege sie gut und kann doch nicht verhindern, dass der eine oder
andere schon gezogen wurde. Falten, Speckröllchen, Kniebeschwerden:
damit kann ich leben. Aber fehlende Zähne, bitte nicht. Zum Glück
gibt’s Implantate.
Alt werden. Nicht nur der kritische Blick in den Spiegel zeigt mir,
dass ich auf dem besten Weg dorthin bin. Im kommenden Jahr gehe ich
in Pension. Ja, und ich gestehe, seit ich mir bewusst mache, dass
dies mein letztes Arbeitsjahr ist, fällt mir auch auf, dass mein
Lebenstempo langsamer wird, dass ich länger brauche, um mich von
Anstrengungen zu erholen, dass ich manches einfach nicht mehr mag:
z.B. wochenlang durchzuarbeiten, nur fremdbestimmte Zeit, das enge
Korsett meines Berufes.
Ich freue mich auf Neues: auf Langeweile, auf Privatleben, auf die
Seiten in mir, die lange Zeit brachgelegen haben, auf die Talente,
die ich erst noch entdecken muss. Aber eines ist klar. Meinen Biss,
den verliere ich noch lange nicht.
Dienstag, 22.11.2011
Ständig werde ich gefragt, was ich denn in der Pension tun werde.
Und ich gestehe, so wirklich weiß ich das nicht. Was ich weiß ist,
dass ich mehr selbstbestimmte Zeit haben will. Und was ich auch
weiß, ist, dass ich das mit mir selber und mit meinem Mann erst mal
in Ruhe ausmachen will, bevor ich die Leute informiere. Neulich
sagte eine Gesprächspartnerin zu mir, als ich etwas ausweichend auf
die Frage nach meinen Ideen für die Zeit nach dem Pensionsantritt
antwortete: Aha, Sie haben also noch keinen Plan.
Ich habe eine Landkarte vor Augen. Eine, mit vielen Möglichkeiten
von A nach B zu kommen. Entscheide ich mich für die kürzeste
Strecke, die landschaftlich schönste, die schnellste, die mit den
meisten Sehenswürdigkeiten unterwegs – ich weiß es noch nicht. Und
ich will diese Entscheidung auch noch nicht jetzt treffen. Denn noch
bin ich nicht in A. A, das ist der Tag, ab dem ich kein Gehalt
sondern eine Pension bekomme. A, das ist der Tag, an dem ich einfach
so entscheiden kann, ob ich in der Früh noch eine halbe Stunde im
Bett liegen bleibe. A, das ist der Tag, an dem ich zwei Stunden
Zeitung lesen, oder meine Freundinnen einladen oder endlich doch
anfangen kann, arabisch zu lernen. A, das ist vor allem der Tag, an
dem ich entscheide, ob ich wirklich nach B will. Ob mir B als Ziel
noch wirklich interessant genug erscheint, oder ob ich mich nach C
aufmache.
Weise mir Herr deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit, so
heißt es im Psalm. Diese Bitte war mir mein Leben lang wichtig. Und
ich hoffe, dass Gott auch weiterhin meine Gedanken leitet. Und dann
wird plötzlich der Plan da sein.
Mittwoch, 23.11.2011
Cocooning ist ein Schlagwort, das ich momentan immer wieder
sehnsuchtsvoll höre. Cocooning meint den Rückzug ins Private,
Einfache, ein bisschen Biedermeier, ein wenig Landlust. Ich gestehe,
so ein Leben wünsche ich mir im Augenblick auch sehr. Ich bin müde
nach einem anstrengenden Berufsleben. In einem schützenden Kokon
eingesponnen zu sein, kann da schon sehr attraktiv klingen. Nicht
mehr zu nachtschlafener Zeit zum Bahnhof aufbrechen und wenn der Zug
keine Verspätung hat, kurz vor Mitternacht wieder daheim sein, nicht
jeden Samstag und Sonntag irgendwo andershin unterwegs sein, keine
nächtlichen Autofahrten bei Nebel oder Neuschnee oder Glatteis.
Keine Sitzungen, die langweilig oder gar überflüssig sind. Mal
wieder Zeit, um Musik zu hören, alle die Bücher lesen, die unberührt
in meinen Regalen lagern, kochen, bügeln, oder spontan mal nach
München fahren.
Und schon jetzt, wo ich diese Wünsche ausspreche, merke ich, dass
dieser Traum vom Rückzug in eine heile Welt nicht zu mir passt. Ich
weiß, dass ich spätestens nach ein paar Wochen meine schöne,
gepflegte Wohnung auch dann mal verlassen möchte, wenns draußen
stürmt oder schneit, dass ich verrückt würde, wenn mein Tag nur aus
kochen und putzen und Musik hören bestünde und ich keine Probleme
mehr lösen und das Unmögliche versuchen dürfte.
Das, was ich mir wünsche, hat mit Freiheit zu tun. Dem Sabbat der
Seele. Dem Heilenden. Der Nähe Gottes. Ich bin bereit dafür, wo
immer diese Nähe mir begegnet.
Donnerstag, 24.11.2011
Es hat sich schon in den letzten Jahren angekündigt, dass ich mit
dem Alter dazulerne. Eines, was ich neu gelernt habe, ist nein zu
sagen. Ich arbeite gerne. Und es macht mir in der Regel nichts aus,
wenn es immer noch ein wenig mehr wird. Da noch eine Arbeitsgruppe,
dort ein Projekt, mal einen Vortrag, ein Seminar, ich habs immer
gerne gemacht. Einen Sonntag zum Werktag machen, vorbereiten, lesen,
schreiben, ja auch mal Wäsche waschen, wenns sein musste. Und leider
musste es viel zu oft sein. Scheinbar. Weil, ja, weil ich nicht nein
sagen konnte. Weil ich neugierig war und interessiert, vielleicht
auch begabt, und weil ich – so schien es – Kraft ohne Ende hatte.
Als ich meine Kirche in der Gruppe vertreten sollte, die für den
Schutz des Sonntags kämpft, musste ich um der Ehrlichkeit Willen
ablehnen. Denn sonntags zu arbeiten war bei mir mehr die Regel als
den Sonntag zu feiern. So scheinheilig konnte ich dann doch nicht
sein.
Aber es gibt mir schon zu denken, dass wir gerade dort, wo es ums
Beenden der Arbeit geht, so unbegabt sind. Woran liegt das? Ist
Arbeit mehr wert als Ausruhen? Da gibt es die bekannte Geschichte
der beiden Schwestern, zu denen Jesus auf Besuch kommt. Martha
stellt sich gleich in die Küche und kocht und tut und ist fleißig.
Ihre Schwester Maria dagegen sitzt bei Jesus und die beiden
unterhalten sich. Und als Martha sich beschwert, dass Maria ihr
nicht hilft, da gibt ihr Jesus nicht Recht, sondern der scheinbar
faulen Maria. Schade, dass ich erst so spät begriffen habe, dass man
auch mal nein zur Arbeit sagen kann.
Freitag, 25.11.2011
Es gibt ganz unterschiedliche ältere Frauen. Solche, die mit 65 noch
in Läden einkaufen, in denen es Klamotten für Teenies gibt und
solche, die Edelmarken für die reife Frau bevorzugen. Ich kenne
eine, die mit 60 ein Zimmer im Seniorenheim bezog, und ich kenne
die, die ganz alleine nach Afrika aufbrach und abseits der
Touristenströme diesen Kontinent kennenzulernen versuchte.
Alt sein ist keine Frage des Alters. Und ich gebe zu, die
Bandbreite, die ich erlebe, macht mir durchaus Mut, zuzugeben, dass
ich auch älter werde. Ich möchte es mit Würde tun. Ich will mich
nicht in ein Korsett zwängen lassen, in das ich nicht hineinpasse.
Weder möchte ich einem krampfhaften Jugendwahn verfallen, noch
möchte ich mir sagen lassen: Das tut man nicht in deinem Alter. In
der Bibel werden uns einige alte Frauen vorgestellt, die keineswegs
nur abwartend am Fenster saßen. Sara z.B., die Frau Abrahams. Sie
war alt, als sie mit ihrem Mann noch einmal umzog. Nicht mit
Möbelwagen und professionellen Helfern, sondern zu Fuß, ein
mühsamer, langer Weg. Und dann noch die Herausforderung einer
unzeitigen Schwangerschaft und späten Geburt.
Alt werden heißt nicht, ohne Träume zu leben. Alt werden heißt
nicht, vom Leben und von Gott nichts mehr zu erwarten, ganz im
Gegenteil. Ich weiß nicht, welches neue Kind mir noch bevorsteht,
welche langen und mühsamen Wege mich erwarten, aber ich bin bereit.
Alt werden heißt nicht, ohne Träume zu leben.
Samstag, 26.11.2011
Morgen ist der 1. Advent. Ich bin in jedem Jahr wieder überrascht,
wie schnell der Advent, die Vorbereitungszeit auf Weihnachten da
ist. Erst letzte Woche ging es am Ewigkeitssonntag noch um das Ende,
den Tod, jetzt bereiten wir uns auf Jesus Geburt, einen ganz
besonderen Anfang vor.
Beide Anlässe sagen uns: Gott ist da, du kannst dich auf ihn
verlassen Zeit deines Lebens und darüber hinaus in alle Ewigkeit.
Ich kann mich noch gut erinnern, als ich 15 oder 16 war und mit
einem Freund über die Ewigkeit diskutiert habe. Uns beide hat damals
der Gedanke fasziniert, dass die Ewigkeit nicht eine unendliche
Verlängerung der Zeit ist, sondern eine Dimension, in der Anfang und
Ende zusammenfallen. Alles verdichtet auf einen Punkt.
Auch heute bin
ich noch nicht viel gescheiter geworden, was denn die Ewigkeit sein
könnte. Und meine liebste Erklärung ist es, mir das Leben in der
Ewigkeit als die absolute Gottesnähe vorzustellen, in der alles
andere nicht mehr existiert. Erfolg und Beziehungen, Macht und
Einfluss, Gesundheit und Fitness. Das alles lassen wir hinter uns.
Es ist vergänglich. Alles, was wir jetzt so gerne haben, wird
abgelöst durch ein neues Sein. Jesus redet in diesem Zusammenhang
vom Reich Gottes. Und manchmal bekommen wir schon heute eine Ahnung
davon, was das ist. Möglicherweise auch jetzt in der kommenden
Adventszeit. Dann, wenn wir die Kontrolle aufgeben, wenn wir das
Perfekte nicht mehr selber erreichen wollen, wenn wir das Leben
geschehen lassen. Und dann spüren wir ihn: den Anfang der Ewigkeit.