„Antonius der Einsiedler – Weisheit des Anfangs“
von Pater Bernhard Eckerstorfer (Stift Kremsmünster, OÖ)
Sonntag, 8.1.2012
„Warum sind Sie ins Kloster gegangen?“
Oft wird mir diese Frage gestellt. Firmlinge in einer Pfarre oder
Leute, die mir im Zug gegenüber sitzen, wollen wissen: „Gab es da
ein einschneidendes Erlebnis, dass Sie Mönch wurden?“
„Nein, Jesus ist mir nicht direkt
erschienen, aber meine Sehnsucht zog mich ins Kloster“, sage ich
dann meistens recht vage. Manchmal erzähle ich auch eine
Begebenheit, die sich mir eingeprägt hat: Ich war 27 und besuchte
meinen geistlichen Begleiter in seinem Kloster. Wir sprachen wieder
über meine Gedanken, Mönch zu werden – und die Widerstände in mir.
Er erzählte mir die Geschichte vom reichen Jüngling aus dem
Evangelium.
Doch dann bei der Messe in der Kirche
geschah es: Ausgerechnet er hatte unter den vielen Priestern an
diesem Tag das Evangelium vorzutragen – zufällig die Erzählung vom
reichen Jüngling (Mk 10,17-31 par). Sichtlich berührt las er es vor;
wie vom Blitz getroffen hörte ich zu: „Jesus, was soll ich tun?“ –
„Verkaufe alles was du hast, dann komm und folge mir nach.“ Ich
spürte: Diese Aufforderung war an mich gerichtet! Und plötzlich war
mir klar: Der Reichtum, den ich nicht hergeben wollte, das waren
meine vielen Möglichkeiten in der Welt.
Erst im Kloster entdeckte ich, dass
genau diese Bibelstelle für den Vater des Mönchtums, den hl.
Antonius, einen Anstoß gab, in die Wüste auszuwandern.
Montag, 9.1.2012
Im Jänner 356 stirbt ein alter Eremit
auf einem abgelegenen Berg in der Wüste zwischen dem Nil und dem
Roten Meer. Bereits zu Lebzeiten stand er im Ruf der Heiligkeit;
„Vater des Mönchtums“ wird er später genannt.
Begonnen hat sein asketisches Leben,
als er mit 20 Jahren im Gottesdienst die Aufforderung Jesu an den
reichen Jüngling hörte: „Geh, verkauf deinen Besitz, gib das Geld
den Armen … dann komm und folge mir nach.“ (Mt 19,21) Antonius nahm
diesen Satz wörtlich, gab sein ganzes Erbe her und zog sich zurück
in die Wüste.
Das Lebensprogramm des Einsiedlers
bestand darin, sich ganz von Gott her zu verstehen – und darin die
Erfüllung zu finden. Sein Biograph Athanasius von Alexandrien
schreibt: „Antonius bemühte sich, der zu werden, als der er vor Gott
erscheinen sollte.“ (VA 7) Die ganze Geschichte der christlichen
Spiritualität entfaltet, was am Anfang des Mönchtums erfahren und
gelehrt wurde: Wir sind auf der Suche nach dem wahren Leben; die
Bilder, die wir von uns selbst oder die andere von uns haben, sind
oft Masken. Welche Freiheit, so werden zu dürfen, wie Gott uns will!
Deshalb sagt Dietrich Bonhoeffer: „Allein vor Gott wird der Mensch
das, was er ist.“ Und Lothar Zenetti: „Geh in das Dunkelkämmerlein
deines Herzens und entwickle das Bild, das sich Gott von dir gemacht
hat.“
Dienstag, 10.1.2012
„Antonius bemühte sich, immer einen
neuen Anfang zu machen.“ (VA 7) Das schreibt Erzbischof Athanasius
von Alexandrien in der Mitte des 4. Jahrhunderts. Von den
politischen Machthabern ins Exil geschickt, hatte sich Athanasius in
den Klöstern Ägyptens versteckt. Dort erzählte man ihm viel vom
heiligen Antonius, woraufhin Athanasius das Leben dieses Einsiedlers
beschrieb.
„Er wollte immer einen neuen Anfang
machen.“ Hier ist nicht die sinnlose Wiederholung gemeint, wie wir
sie aus der Geschichte des Sisyphos kennen: Dem rollt der Stein
immer dann wieder vom Berg herab, wenn er unmittelbar vor dem Ziel
angelangt ist. Nein, für die Mönche war es eine Gabe und eine
Fähigkeit, immer wieder anfangen zu können.
Antonius wusste: Neu anfangen heißt,
nicht angekommen sein zu müssen, sondern unterwegs sein zu dürfen.
Wir brauchen uns und den anderen nicht vorzutäuschen, vollendet und
perfekt zu sein.
Ich verbinde mit dem Anfang, wer ich
als Kind und Jugendlicher war und werden wollte; welche Begeisterung
mich erfüllte, als ich ins Kloster eintrat; die heurigen
Neujahrsvorsätze – Wege zu einem neuen Anfang. Beglückend, wenn ich
eine neue Chance bekomme. Und berührend, wenn mir jemand in der
Beichte unter Tränen sagt: „Ich möchte in meiner Ehe neu anfangen!“
Mittwoch, 11.1.2012
Antonius der Einsiedler war vielen ein
Vorbild! Wie ihn zog es zehntausende Menschen verschiedener Länder
in die Einsamkeit. Sie wussten über Antonius Bescheid, weil die
Lebensbeschreibung des Athanasius von Alexandrien der Bestseller des
4. und 5. Jahrhunderts war. In dieser Vita Antonii sagt Athanasius,
die bloße Erinnerung an den berühmten Einsiedler sei ein großer
Gewinn; es gelte ihm nachzueifern (VA, Vorwort). So wie das Leben
wird auch der Glaube vor allem durch Vorbilder vermittelt.
Antonius hatte selbst Vorbilder, wie
Athanasius schreibt: Als junger Mann wird er im Elternhaus von einem
alten Asketen ins Einsiedlerleben eingeführt (VA 3), später in der
Wüste von einem anderen (VA 11). Bereits am Anfang des Mönchtums
geht es um das lebendige Beispiel. So war das Leben zugleich auch
die Lehre des Antonius: „Ich teile euch mit, was ich selbst erfahren
habe.“ (VA 16; vgl. VA 39)
Bemerkenswert finde ich, dass Antonius
sich von jedem etwas abschaute: Von dem einen die Freundlichkeit,
vom anderen die Ruhe, von einem dritten die Wissbegierde (VA 4).
Ich bin ja versucht, bei den anderen
vor allem die negativen Eigenschaften zu sehen und dabei hängen zu
bleiben. Antonius aber zeigt mir, wie jeder Mitmensch mein
Lehrmeister werden kann: Niemand ist perfekt, aber jeder hat
nachahmenswerte Eigenschaften.
Donnerstag, 12.1.2012
Wie können wir uns das Leben der
frühen Mönche vorstellen? Jedenfalls waren sie keineswegs isoliert
von ihrer Umwelt. Das sehen wir schon am Anfang, bei Antonius.
Dieser Prototyp des Einsiedlers hatte ständig Besucher (z.B. VA 13).
Im Jahre 311 ging er während der letzten großen Christenverfolgung
in die größte Stadt seines Landes Ägypten, nach Alexandrien. Er
wollte den gefangenen Christen beistehen und ihnen bei der
Strafarbeit helfen; er begleitete sogar Märtyrer zu ihrer Exekution
(VA 46; 69). Nach der Zulassung des Christentums stand er von seiner
Einsiedelei in der Wüste aus in Kontakt mit der halben Welt, sogar
von den Söhnen Kaiser Konstantins soll er Briefe erhalten haben (VA
81).
Antonius wäre nicht der große Heilige
geworden, wenn er sich abgeschottet hätte. Er lernte von anderen und
stand in ihrem Dienst.
Das erfahre auch ich als Benediktiner
im 21. Jahrhundert: Gott begegnet mir gerade auch durch diese Welt.
Ausschlaggebend für meine Berufung war mein Zivildienst bei
Obdachlosen. Jahrelang hatte ich mich nicht durchringen können, ins
Kloster zu gehen. Doch die Obdachlosen haben mir die Augen geöffnet:
Was willst Du eigentlich mit deinem Leben machen? Geht es nur um
dich und deine eigenen Pläne? Was ich im Schweigen erwogen hatte,
konnte ich auf der Straße endlich entscheiden: Ich möchte ins
Kloster gehen, nicht um aus dieser Welt zu fliehen, sondern um in
dieser Welt Gott zu finden – wie Antonius, der Einsiedler.
Freitag, 13.1.2012
„Die Dämonen schlugen Antonius so
heftig, dass er vor Qualen auf dem Boden lag.“ (VA 8) Ein großer
Teil der Biographie des hl. Antonius aus dem 4. Jahrhundert handelt
vom Teufel und den Dämonen, die gegen Antonius den Einsiedler
kämpften. Für uns scheinen diese Dämonenkämpfe Relikte einer
versunkenen, unaufgeklärten Zeit zu sein – wir sollten aber genauer
hinsehen.
Kaum war Antonius in die Einsamkeit
gezogen, begann eine erbitterte Auseinandersetzung mit inneren
Widerständen und Anfechtungen. Zwar hatte er in der Wüste weniger
Ablenkungen; aber der „Kampf mit dem eigenen Herzen“ (AP 11) flammte
in ihm erst richtig auf.
Ich glaube, wir brauchen diese herbe
Seite christlicher Spiritualität, damit der Glaube nicht
oberflächlich wird und widerstandsfähig bleibt. Öfters klagen mir
Menschen, ihnen gehe es schlecht, obwohl sie ihr Leben Gott
anvertrauen würden. Dann verweise ich auf die Heiligen, die trotz
ihres Glaubens an äußeren Umständen und den eigenen Schwächen
litten.
Antonius und die frühen Mönche waren
bewusst in die Wüste gegangen, um sich den bösen Mächten zu stellen
– auch für die anderen. Sie wussten, dass Christus durch den
Kreuzestod den Kampf letztlich schon entschieden hat. Deshalb fanden
Archäologen in den Räumen der frühen Wüstenmönche viele Kreuze an
den Wänden eingraviert und aufgemalt.
Samstag, 14.1.2012
Ich habe Ihnen in der vergangenen
Woche den heiligen Antonius vorgestellt. In drei Tagen begehen wir
den jährlichen Gedenktag dieses ägyptischen Einsiedlers. 105 Jahre
soll er alt geworden sein. Warum hatte sein Leben eine solche
Wirkung?
Im Geiste der Spätantike verschrieb
sich Antonius der Askese: Die Seele solle nicht von den leiblichen
Bedürfnissen und Trieben beherrscht werden. Durch hartes Training –
askesis – könne sich der Mensch selbst überschreiten.
Das Lebensprojekt der frühen Mönche
war, in Abgeschiedenheit Gott zu erfahren. Dazu braucht es die
Herzensruhe – griechisch hesychia –, um frei zu sein von
Abhängigkeiten und Ablenkungen. Von Antonius schreibt Bischof
Athanasius: „Er war niemals in Unruhe, seine Seele war voll heiterem
Frieden; niemals blickte er finster, da sein Geist sich freute.“ (VA
67)
Der Weg dahin war mühevoll, aber
beglückend; deshalb fand er so viele Nachfolger. Ein erfülltes Leben
muss asketisch sein, modern gesprochen: loslassen können. Dann kann
einem eine tiefere Wirklichkeit aufgehen. Die oberösterreichische
Klarissin Maria Kriegner schreibt: „Vielleicht müssen wir Heutigen,
wie nie zuvor, unser selbstmodelliertes Ich abliefern. Mit nichts
müssen wir dastehen. Sonst kann uns die Wahrheit nicht beschenken.“
Quelle: Athanasius von Alexandrien,
Vita Antonii. Aus dem Griechischen übersetzt von Anton Stegmann.
Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 41, München 1917.