Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Wilhelm Achleitner (Bildungshaus Schloss Puchberg, Wels, OÖ)

 

 

Sonntag, 1. April 2012

Heute ist Palmsonntag, der Beginn der Karwoche.

Der Frühling ist gekommen, das Grün tritt hervor, die frischen Blätter zeigen sich, Blüten öffnen sich. Wie jeden Morgen, wenn ich von der Wohnung ins Bildungshaus Schloss Puchberg hinübergehe, bleibe ich für einige Minuten beim Schlossteich stehen und blicke auf die Wiese, die zum Teich hinunterführt. Ich sehe Schlüsselblumen, Buschwindröschen, Hänsel- und Gretel-Blumen und frische Gräser. Ich berühre den Ast eines Baumes und blicke auf die austreibenden Blätter. Ich atme Frühlingsluft. Ich stehe und schaue. Ich freue mich über die wiederbelebte Natur. Der Winter, die Kälte, der Frost sind vorüber, sie haben die Natur nicht zerstören können. Das Leben beginnt neu. Und für Sekunden erwachen in mir eine tiefe Dankbarkeit und eine Ermutigung.

Heute geht Jesus nach Jerusalem hinein, und sein Weg ans Kreuz, sein Weg in den Tod beginnt. Die Kälte der Menschen wird Jesus vernichten. Wird sein Tod ihn für immer von uns wegbringen, ihn wegschaffen aus der Gemeinschaft der Menschen? Oder ist die Kraft des Lebens stärker? Wir werden sehen.

 

 

 

Montag, 2. April 2012

Vor dem Hof unseres Bildungshauses Schloss Puchberg steht eine Schwebeliege, eine langsam schwingende Schaukel. Ich lege mich hinein und sie beginnt sanft hin und her zu schwingen. Meine Seele beruhigt sich. Sehr angenehm. Oben am Schlossturm sehe ich Vögel, sehe ich Dohlen. Sie fliegen und sie jagen einander. Ich höre ihre Schreie. Sie suchen die Begegnung, sie spüren den Auftrag des Frühlings, sich zu paaren, für Nachwuchs zu sorgen. Und auch in uns nimmt im Frühling die Sehnsucht nach intimer Nähe zu. Erotik und Sexualität beleben uns, öffnen uns für die Lust und schützen und bewahren uns vor Schwermut.

Als neuen Leitsatz für unsere Aufgabe im Bildungshaus haben wir den Satz gewählt: „Begegnung, die begeistert.“ Wir kommen zusammen, um lebendiger zu werden, um Wissen zu vertiefen, Fähigkeit einzuüben und einen Geist zu spüren, der über alles hinausweist und für Sekunden den Himmel öffnet.

Jesus in Jerusalem geht in der Karwoche den Weg ans Kreuz. Er kann dies alles nicht mehr erleben. Keinen Frühling, keine Lust, keine Schwebeliege. Verurteilt wird er werden.

Wir hier im Frühling, Jesus dort. Wie kann dies zusammenpassen? Wir werden sehen.

 

 

 

Dienstag, 3. April 2012

Nach den Morgengedanken werde ich in die Küche gehen und das Frühstück vorbereiten. Kaffeeduft breitet sich aus und lockt meine Frau aus dem Bett. Das frische Semmerl mit der selbstgemachten Ribiselmarmelade weckt unsere Lebensgeister und wir beginnen miteinander zu reden, unsere nächtlichen Träume zu erzählen. Später wird aus der Küche der Geruch von frischen Speisen unsere Freude auf das Mittagessen anregen. Wir essen und trinken, wir riechen und verkosten die Lebensmittel und spüren, dass dies unsere Lebensfreude steigert.

Während wir essen, wird Jesus gefangen genommen und zum Gericht gebracht. Er wird gefoltert und verhöhnt, und wir beißen ins Brot und genießen das Schnitzel. Jesus wird verraten und wir werden satt und ruhen nach dem Essen aus. Von einer Henkersmahlzeit für Jesus, einem besonderen Essen vor der Hinrichtung, ist in den Heiligen Schriften nichts berichtet.

Jesus geht den Weg ans Kreuz und wir essen und ruhen. Wie geht das zusammen? Wir werden sehen.

 

 

 

Mittwoch, 4. April 2012

Nicht jeder Morgen beginnt mit angenehmen Gefühlen. Schon im Aufwachen überfällt uns eine beunruhigende Sorge. Kann die berufliche Unzufriedenheit mit wirtschaftlichen Einschränkungen und persönlichen Kränkungen sich endlich auflösen? Leben unsere Kinder in Liebesbeziehungen, die halten und Zukunft haben? Werden die alt gewordenen Eltern die Nacht gut überstanden haben? Wird uns ein Telefonanruf zu ungewöhnlich früher Zeit aufschrecken? Wir kennen die Angst und die Sorge. Sie begleiten immer wieder unser Leben, unser Nachdenken und Grübeln. Und manchmal wird unsere Angst übergroß.

 

Jesus ist in Jerusalem und verbringt die Nacht im Ölberggarten. Er weiß, was ihm bevorsteht, wenn er nicht flieht. Er ringt mit sich und mit Gott: „Wenn Du willst, nimm diesen Kelch, das bittere Schicksal, von mir!“ Und die Angst überfällt ihn und sein Angstschweiß dringt wie Blut aus seiner Haut. Aber dann ergibt er sich: „Nicht mein Wille geschehe, sondern Gottes Weg will ich gehen!“

Unsere Ängste kommen aus dem Leben und wir wünschen das gute Leben für unsere Lieben und für uns selbst. Jesu Angst bezieht sich auf seine bevorstehende Hinrichtung, die ihm das Leben nehmen wird.

Wir mit unseren Lebensängsten, Jesus mit seiner Todesangst. Wie geht das zusammen? Wir werden sehen.

 

 

 

Donnerstag, 5. April 2012

Wir feiern Geburtstage, Hochzeitstage und Geburten. Wir kommen zusammen, erfreuen uns aneinander und feiern mit festlichem Essen unsere Jubiläen und Festtage. Auf den Tischen stehen Frühlingsblumen, Tulpen, Märzenbecher und Schneeglöckchen. Wir erleben innige Gemeinschaft, lustige Gespräche. Wir lachen.

Kürzlich haben wir die eiserne Hochzeit meiner Schwiegereltern begangen – 65 Jahre Ehe. Und unser erstes Enkelkind, der fünf Monate alte Simon ist dabei. Alle lieben und herzen ihn. In unserem Bildungshaus Schloss Puchberg haben wir ein Personalzimmer, in dem wir gemeinsam mittagessen. Auch dort ernste und lustige Gespräche, lachen und reden und Gemeinschaft.

Jesus versammelt am Gründonnerstag seine Jünger um sich, um sein letztes Abendmahl zu begehen. Keine Frühlingsblumen auf den Tischen. Düstere Ahnungen sind im Raum. Ein Freund wird ihn verraten. In diesem Abendmahl gründet er eine neue Religion. Die Religion seiner ganzen Hingabe voller Liebe. Sich selber mit Leib und Blut setzte er dafür ein. Mehr geht nicht.

Unsere Gemeinschaftsfeiern und das letzte Abendmahl Jesu. Wie geht das zusammen? Wir werden sehen.

 

    

  

Freitag, 6. April 2012

Beim Einschlafen denken viele ans Sterben. Sie könnten ja nicht mehr aufwachen. Am Morgen sind diese Gedanken weg und wir wissen uns lebendig und haben die Nacht überstanden. Hurra, wir leben noch! Aber zum Leben gehört es, immer wieder einmal an den Tod zu denken. Unser Leben wird eines Tages zu Ende gehen und vorüber sein. Und in hundert Jahren spricht niemand mehr von uns. Überlegen Sie: Bei wie vielen Begräbnissen waren Sie schon dabei? Wir sind von vielen Toten umgeben. Und können dies hinnehmen.

Heute ist Karfreitag. Jesus wird aufgehängt, am Kreuz ermordet. Er schreit seine Verzweiflung hinaus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Dieser Schrei ist in die Weltgeschichte eingegangen. Der Schrei des göttlichen Menschen Jesu. Ist nun alles vorbei, ist alles umsonst gewesen: die Liebe, die Hoffnung, die Lebensfreude, die um Jesus entstanden sind? Die Würde, die er in jedem hervorrief, besonders bei den Armen und Ausgegrenzten? Kommt das von Jesus verkündete Reich Gottes nun doch nicht? Wir werden sehen. Die Karwoche ist noch nicht am Ziel.

 

 

 

Samstag, 7. April 2012

In unserem Bildungshaus ist es nach den besinnlichen Seminaren der Karwoche still geworden. Am Karsamstag denken wir immer wieder an Jesus und sein Schicksal und halten ein wenig den Atem an.

Was Mozart in der Musik, oder Beethoven oder Anton Bruckner, das ist Jesus für die Religion - oder Moses, Muhammad, Buddha oder auch Martin Luther. Das sind die großen religiösen Begabungen.

Was bei Jesus überrascht, ist seine überaus kurze Wirkungszeit von etwa 2 Jahren, in der eine enorme humane und religiöse Energie entsteht, die bereits zwei Jahrtausende andauert und sich immer wieder erneuert. Und hinzu kommt sein Todesschicksal, dem er wegen seines unbeirrten Festhaltens an seiner Gotteserfahrung nicht ausweicht. Das macht ihn einzigartig.  

Von Jesus hat man den Eindruck, er wirft sich ganz hinein in tiefste Mitmenschlichkeit, er nimmt auf sich keine Rücksicht. Er bringt einen mächtigen Gottes- und Liebes-Impuls in die Welt. Dieser wird niemals mehr verstummen.

Wir warten heute am Karsamstag darauf, ob sich die Lebendigkeit und die Liebe Jesu gegen den Tod durchsetzen werden. Und heute Nacht feiern wir den Glauben an seine Auferstehung.

Ich wünsche Ihnen die Berührung mit dem seligen Glück, dass der Tod nicht das Letzte ist, was wir erleben.