Ich hatte fast vergessen, wie unsympathisch dieser Wecker piepst.
Normalerweise wache ich ohne diesen grausamen Ton auf, aber heute
muss ich früher als sonst raus. Ein paar Mal drehe ich mich noch von
einer auf die andere Seite, verliere mich kurz in Selbstmitleid,
aber dann stehe ich auf. Der Dienst ruft und ich muss noch zwei
Stunden fahren, um dorthin zu kommen, wo ich einen Gottesdienst
halten soll.
Sonntagsarbeit. Ich freue mich schon jetzt auf den Tag, wenn ich
einmal nur noch mitfeiern kann, aber nicht mehr für die Gestaltung
eines Gottesdienstes zuständig bin. Doch mit jeder Minute, die ich
wacher werde, geht es mir besser. Gerade kommt die Sonne um die Ecke
meines Küchenfensters und zum Glück funktioniert meine
Kaffeemaschine problemlos. Noch einmal kontrollieren, ob ich alles
eingepackt habe, und dann los. Die Straßen habe ich fast für mich
alleine und beim störungsfreien Dahinrollen genieße ich die
wunderschöne Landschaft, durch die ich komme.
Es ist immer wieder dasselbe mit mir: er kostet mich Überwindung,
der erste Schritt, wenn ich eigentlich bleiben möchte, wo ich bin,
es kostet mich Überwindung, den Ort zu verlassen, an dem ich mich
geborgen fühle, etwas zu tun, wenn ich am liebsten alles lassen
möchte. Aber nach den ersten, so oft noch schwerfälligen Schritten
geht es meistens wunderbar leicht. Auch die betenden Gedanken, der
Vers eines Morgenliedes, das sich in mein Bewusstsein schleicht:
Sprich ja zu meinen Taten, Gott, hilf selbst das Beste raten, den
Anfang, Mitt und Ende, ach Herr, zum Besten wende.
MONTAG 4.6.
Ganz selten passiert es mir, dass ich verschlafe. Vielleicht bringt
mich diese ungewöhnliche Situation deswegen immer wieder in
Turbulenzen. Oft sind es ja nur ein paar Minuten, und meistens kann
ich ja gar nicht behaupten, dass dadurch irgendetwas nicht so
ablaufen kann, wie geplant. Aber dem Tag fehlt etwas. Schon das
Zähneputzen ist anders, wenn ich noch nicht einmal richtig
registriert habe, dass ich dazu den Mund aufmachen muss. Am Kaffee
verbrenne ich mir die Zunge und die Suche nach dem Autoschlüssel
bewerte ich ebenfalls als eine Folgeerscheinung des überstürzten
Aufstehens.
Gut, ich übertreibe vielleicht ein wenig. Aber ich genieße es eben
sehr, wenn ich mich nach dem Aufwachen erst mal ein wenig sortieren
kann. Wenn ich, noch im Bett liegend, den vor mir liegenden Tag
bedenke.
Es ist schon seltsam, dass eine fehlende halbe Stunde am Morgen so
eine Unruhe in den ganzen Tagesablauf bringt. Ich habe sie
spätestens dann aufgeholt, wenn ich mich an meinen Schreibtisch
setze. Aber der Tag läuft anders ab: unstrukturierter,
unproduktiver. Ich weiß, dass es an mir liegt, dass es so ist. Ein
wenig mehr Gelassenheit, ein wenig mehr Gottvertrauen täte mir gut.
So, wie es in einem Liedvers über Gott heißt: Abend und Morgen sind
deine Sorgen. Segnen und mehren, Unglück verwehren, sind deine Werke
und Taten allein. Wenn wir uns legen, so bist zu zugegen. Wenn wir
aufstehen, so lässt du aufgehen, über uns deiner Barmherzigkeit
Schein. Ich finde, das ist eigentlich ein ideales Gebet für einen
verschlafenen Tagesbeginn.
Dienstag 5.6.
Schon während des Jahres fällt es mir eigentlich leicht,
aufzustehen. Aber am Schönsten ist das frühe Aufstehen im Urlaub.
Dann, wenn sich alles noch ein wenig geheimnisvoll anfühlt. Ich kann
mich gut an solche Früherlebnisse erinnern. Da taucht dieser eine
Morgen vor mir auf, als ich, schon fast 50, mit den Kindern auf
Rollschuhen um den See starte. Ich kann noch heute den Geschmack des
Windes spüren, die Schreie der Vögel, das strahlende Licht der
Sonne. Natürlich kann ich mich auch noch an die Unterstützungsrufe
erinnern: nicht schlappmachen Mama, oder: dort drüben bei der Bank
warte ich auf dich. Aber nichts konnte mir diesen Genuss trüben.
Nur einmal war ich noch stolzer auf mich, und es hängt auch mit
einem morgendlichen Abenteuer zusammen, damals, als Freunde aus Wien
zu Besuch waren, und wir in Feierlaune beschlossen, am nächsten
Morgen zum Frühstück auf einen der heimatlichen Berge zu steigen.
Ich sehe mich, die Antibergsteigerin, schon bei Sonnenaufgang hinter
einem Freund hergehen, der mir mit gleichmäßigen Schritten das Tempo
vorgibt, sodass ich es wie die geübten Geher auch schaffe, den
Gipfel zu erreichen.
Es hat schon was, einen freien Tag intensiv zu genießen und jede
Minute auszukosten. So, wie es in einem afrikanischen Gebet heißt:
Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel. Ein neuer Tag,
der glitzert und knistert, knallt und jubiliert von deiner Liebe.
Jeden Tag machst du. Halleluja, Herr.
MITTWOCH 6.6.
Manchmal beginnt mein Tag ganz extrem früh. Dann, wenn ich schon um
halb zehn in Wien sein soll und mit dem Zug dorthin kommen will.
Voraus gehen solchen Tagen kurze Nächte. Nicht nur das frühe
Aufstehen verkürzt die Schlafenszeit, nein, bereits die Erwartung
des frühen Aufstehens hat zur Folge, dass ich schlecht einschlafe.
Habe ich alles eingepackt? Wird das Taxi pünktlich kommen?
Hoffentlich hat der Zug keine Verspätung. Meine kleinen Sorgen
machen mich schlaflos. Und der Ärger über diesen Zustand tut sein
Übriges. In Wien angekommen nervt mich der Verkehr in der Stadt und,
endlich am Ziel, nervt mich die übliche Sitzungsverpflegung. Und
wenn dann noch jemand nur redet, aber nichts zum Thema beiträgt,
wenn das Mittagessen nicht nach meinem Geschmack ist, und der Zug,
der mich am Abend wieder heimbringen soll im Laufe der Fahrt fast
eine Stunde Verspätung ansammelt, dann brauche ich oft um
Mitternacht noch eine Kopfwehtablette oder ein Bier.
Ab und zu gelingt es mir, den ganz gleichen Abläufen, wie gerade
geschildert, etwas abzugewinnen. Die Schlaflosigkeit der Nacht nutze
ich, um meinen Krimi weiterzulesen. Anstatt einen Wecker, stelle ich
mir zwei, im Zug schlafe ich dann und überraschenderweise gibt’s an
solchen Tagen auch Obst, anstatt der immer gleichen Kekse. Beim
Mittagessen esse ich nur wenig, schadet mal gar nicht, und
heimwärts im Zug, da habe ich ja noch meinen Krimi von letzter
Nacht. Fast bin ich geneigt, Gott für einen solchen Tag zu danken.
DONNERSTAG 7.6.
Wochen-, ja monatelang habe ich mich gefreut. Heute ist es soweit.
Heute ist der Tag: Hochzeit, Konfirmation, Heiligabend, Geburtstag.
Ich stehe früh auf. Am liebsten vor allen anderen. Noch eine halbe
Stunde alleine sein, den Tagesanfang genießen. Mich freuen auf die
Menschen, die heute kommen werden, ein wenig trauern um die, die den
Tag nicht mit uns erleben können, weil sie tot sind. Eltern,
Großeltern. Was hätte mein Großvater zu seinen Urenkeln gesagt? Wen
hätte er mehr genossen: den spitzbübischen Friedrich oder die
nachdenkliche Hanna? Hätte es ihm so gefallen wie mir, wenn Wilhelm
pausenlos etwas erzählt, aber ich kein Wort davon verstehe, weil er
seine eigene Sprache dazu benutzt? Das Leben meint es heute gut mit
mir und hat es immer gut gemeint.
Viel ist noch zu tun. Aber es geht mir leicht von der Hand. Die
Vorfreude beherrscht mich, ich habe Kraft. Das Hochgefühl in mir
reicht, um Berge zu versetzen. Und wenn dann der Rest der Familie
aufgestanden ist, stecke ich sie an: mit meiner Freude, mit meinem
Elan, mit der Lust am Leben. Gemeinsam schaffen wir heute alles.
Ich singe vor mich hin: Die güldene Sonne bringt Leben und
Wonne…Wie ein Tanzlied klingt die Melodie. Aber auch die Worte sind
genau richtig für mich. Und so bete ich singend: Es sei ihm gegeben
mein Leben mein Streben, mein Gehen und Stehn. Gott gebe mir Gaben
zu meinen Vorhaben, lass richtig mich gehen.
FREITAG 8.6.
Manchmal ist ein Morgen nur das Ende einer durchwachten Nacht. Das
Bett schaut aus, als ob ein Kampf darin stattgefunden hat, dabei
sind die verrutschten Laken nur das Ergebnis eines stundenlangen
Herumwälzens. Sorgen machen schlaflos. Wer alleine schläft, kann
Licht machen und lesen. Wer auf einen Partner Rücksicht nimmt, kann
bestenfalls aufstehen, in die Küche gehen und eine Tasse Tee
kochen, und den dann langsam vor dem Fernseher schlürfen. Aber die
Erfahrung weiß, dass sich der Lieblingssessel nachts um drei von
seiner unbequemen Seite zeigt, und dass das Fernsehprogramm zu so
später Stunde nur dazu geeignet ist, dass zu den Sorgen auch noch
Ärger kommt. Also wieder ins Bett und irgendwann doch einmal
eingeschlafen.
Paul Gerhardt, ein Liederdichter des 17. Jahrhunderts kannte
offensichtlich auch solche Erfahrungen. In der Vorstellungswelt, in
der er lebt, klingt das dann so, wenn er seine Erlebnisse in ein
Gebet fasst:
Heut, als die dunklen Schatten mich ganz umgeben hatten, hat Satan
mein begehret; Gott aber hats gewehret. Du sprachst: mein Kind, nun
liege, trotz dem, der dich betrüge; schlaf wohl, lass dir nicht
grauen, du sollst die Sonne schauen. Dein Wort Herr, ist geschehen:
ich kann das Licht noch sehen, von Not bin ich befreiet, dein Schutz
hat mich erneuet.
Das ist auch die Erfahrung, die ich gemacht habe: alle Sorgen der
Nacht sind am Morgen nur noch halb so schlimm. Mit dem Aufgang der
Sonne weicht die Ausweglosigkeit der Sorgen Lösungsansätzen und ich
bin Gott dankbar, dass er mich nicht alleine gelassen hat.
SAMSTAG 9.6.
Oft bin ich in dem Bett, in dem ich jetzt mehr als dreißig Jahre
geschlafen habe, vom Vogelgezwitscher geweckt worden. Noch im
Dunkeln haben sie angefangen, einzelne Stimmen, zaghaft. Doch mit
der aufgehenden Sonne wurde auch der Gesang mehr. Ein Konzert, so
laut schließlich, dass Schlafen unmöglich war. Ein Konzert so
wohltönend, dass das Aufwachen trotz der sehr frühen Stunde purer
Genuss war. Melodien, die mich von der Nacht langsam in den Tag
zogen, hineinlauschend in die verwunschene Welt, die da draußen
erwachte. Die unterschiedlichsten Tonfolgen entstanden. Und alle
dazu angetan, mir den neuen Tag schmackhaft zu machen, zu sagen: hör
doch, wie schön die Welt ist, auf der du lebst.
In der Volksschule habe ich ein Lied gelernt, das mir jetzt, mehr
als 50 Jahre später einfällt: Es tagt, der Sonne Morgenstrahl, weckt
alle Kreatur. Der Vögel froher Frühchoral begrüßt des Lichtes Spur.
Es singt und jubelt überall, erwacht sind Wald und Flur.
Manchmal ist das Leben einfach nur schön. Die einfachen Dinge wie
das morgendliche Vogelgezwitscher sind weit davon entfernt, banal zu
sein, ganz im Gegenteil. Sie reißen mein Leben aus der Banalität des
Machbaren und führen mich in eine Welt, in der so viel geschieht,
ohne dass ich einen Finger rühren kann und muss. Eine Welt, in der
ich das morgendliche Vogelkonzert als einen Choral empfinde, der
mein Gebet unterstützt. Gott sei Dank.