Morgengedanken

Sonntag,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, 
Montag bis Samstag, 5.40 Uhr - 5.43 Uhr, 
ORF Regionalradios

 

 

 

von Mag. Gilbert Schandera (Kurat im Dekanat Gmunden)

 

 

Sonntag, 24.6.2012

Ich werde manchmal gedrängt, mehr Sport zu machen. Dass ich oft und gern gehe, manchmal stundenlang, zählt für viele in meiner Umgebung nicht.

Und Gehen ist, so wie ich es verstehe, tatsächlich kein Sport und trotzdem sehr gesund.

Die Natur wahrnehmen – ohne Leistung, ohne spezielle Ausbildung; ohne Druck, Bester zu sein; ohne Materialien und teure Geräte - höchstens 2 Stöcke, ohne Zahlen und Ergebnisse. Sich besinnen,  zu sich kommen. Manchmal auch beten.

Einen Fuß vor den anderen setzen. Gute Gedanken und neue Ideen in sich hochkommen lassen. Trifft man Bekannte, erzählt man sich, welcher Weg zu einer besonders schönen Aussicht führt oder wie man auf einem besonderen Weg wieder zum Ausgangspunkt kommt.

Gehen hat in einem Umfeld, in dem alles mit Arbeit verbunden wird keinen guten Ruf.

Beim Gehen zählen der Himmel und die Wolkenformationen, das Leuchten der Landschaft, die Veränderungen durch die Jahreszeiten und das Freisein von den täglichen Sorgen.

Gerade beim Gehen habe ich manchmal eine Erfahrung über all die äußeren Eindrücke hinaus. Ich möchte fast sagen: Ich fühle mich Gott nahe.

Gehen ist besonders wohltuend am Sonntag – zur Unterbrechung des Alltags.

 

 

 

Montag, 25.6.2012

Das Besondere beim ruhigen Gehen ist die Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit.

Wer schnell geht (und wohl auch „schnell“ lebt) glaubt, damit Zeit zu gewinnen. Es scheint logisch, dass ich eine Stunde gewinne, wenn ich etwas in einer Stunde statt in zwei erledige.

Aber das Leben läuft nicht mechanisch – mathematisch ab.

Hetze und Geschwindigkeit beschleunigen das Leben. Je mehr ich Zeit gewinnen will, desto schneller läuft die Zeit. Sie läuft mir förmlich davon.

Beeile ich mich sehr, verkürze ich den Tag.

Die Zeiten, die wir langsam gehend verbringen, erfahren wir als lang.

Wir haben das Gefühl, länger zu leben, weil wir die Zeit ausgekostet haben, statt sie anzufüllen und nach mehr zu drängen.

Langsam sein heißt: die Zeit, Sekunde für Sekunde nehmen, fassen – und sie gerade dadurch ausdehnen.

Das ist ein Geheimnis des Gehens: Die Zeit dafür ist nicht „verloren“.  

Und wir nehmen unsre Umgebung wahr.

Das Umfeld ändert sich beim Gehen nur ganz langsam.

Wir nähern uns nicht den Dingen an, sondern wir nehmen die Dinge in uns auf, wir lassen sie an uns heran. So haben wir ein Stück Welt, das uns erfüllt.

 

 

 

Dienstag, 26.6.2012

Der amerikanische Schriftsteller David Henry Thoreau erlebte im 19. Jahrhundert den Beginn des umfassenden Kapitalismus.

Der Konzentration auf grenzenlose Bereicherung stellt er ein anderes Prinzip entgegen.

Sein Prinzip stellt an den Anfang nicht die Frage, was eine Tätigkeit einbringt, sondern was sie an Lebenszeit kostet.

Er unterscheidet Profit und Gewinn.

Eine lange Wanderung durch den Wald bringt keinen Profit, sie ist in dem Sinn nutzlos. Während der Wanderung werden keine Reichtümer geschaffen.

Aber diese Wanderung bringt Gewinn: Ich bin nicht von Sorgen erfüllt und nicht von geistlosem Tratsch abgelenkt.

Der Unterschied zwischen Profit und Gewinn ist der, dass das, was Profit ermöglicht, auch andere für mich machen könnten. Was mir Gewinn bringt, das kann ich nicht auf andere übertragen.

Und er spitzt zu: Bei der Arbeit können wir ersetzt werden, nicht aber etwa beim Gehen.

Ich verliere viel an reinem Leben, wenn ich viel Geld verdienen will. Viel Profit – kein Gewinn.

Noch einmal zugespitzt: Es reicht vielleicht zwei Tage in der Woche zu arbeiten statt nur zwei Tage in der Woche zu ruhen. Eine große Provokation – aber einer Überlegung wert.

 

 

 

Mittwoch, 27.6.2012

Im vergangenen Herbst war ich in Santiago de Compostela.

Nicht zu Fuß, aber längere Stücke des Jakobsweg zwischen den Busetappen doch gehend.

Es war ein tiefer Eindruck, einerseits im Rückblick auf das große mittelalterliche Wallfahrtsgeschehen dorthin, anderseits in der Erfahrung der Wallfahrt der Gegenwart.

Pilger sind Zeichen für die menschliche Existenz, sagen die alten Kirchenväter. Wir sind hier nur auf der Durchreise. Unsere Wohnungen sind Schlafstellen für die Nacht. Unser Besitz ist unser Reisegepäck. Unsre Freunde sind Menschen, denen wir auf dem Weg begegnen, die wir wieder ziehen lassen müssen. Christen erleben sich als wanderndes Gottesvolk, so wie es das Zweite Vatikanische Konzil gesagt hat.

Christus hat seine Jünger eingeladen, sich zu verabschieden und sich auf den Weg zu machen.

Man geht fort, um sich aus Manchem herauszureißen: Schluss mit den zehrenden Aufgaben und dem zermürbenden Alltag! Die Monotonie der (Pilger-) Wege ist gut geeignet, etwas zu verlassen - das was verlassen werden muss und um sich zu lösen.

Dahinter winkt nicht nur eine besondere Kirche als Pilgerziel, sondern ein neues, besseres, sinnvolleres Leben.

 

 

 

Donnerstag, 28.6.2012

Manchmal tut es gut, eine Zeit lang seine Arbeit zu unterbrechen.

Akten und Bücher schließen, ein Werkzeug weglegen.

Man geht ins Freie.

Der Körper gewinnt seinen guten Rhythmus zurück.

Der Geist wird wieder aufnahmefähig.

Eindrücke kommen auf mich zu, ich tue nichts – außer zu gehen.

Absichtslos geht der Blick über Landschaften, Menschen und Dinge.

Spazierengehen belebt – ohne großen Aufwand.

Der Spaziergang schenkt etwas, was in unsrer Geschäftigkeit verlorengegangen ist: Wir entdecken Neues in uns.

Und die Umgebung, letztlich die ganze Welt, erschließt sich neu.

Zum Spaziergang muss man in der Gesinnung aufbrechen, einmal vieles beiseite zu rücken.

Dann schenkt der Spaziergang Erholung.

Und es zeigt sich mehr als erwartet.

Gehen wir allein und ohne besonderes Ziel, bekommen wir unser Sehvermögen zurück: Wir sehen Details, die sonst von der Füller der Alltagseindrücke verschüttet sind. Spazierengehen können wir dort, wo wir leben, in der Nähe, ohne vorher „in die Ferne zu schweifen“.

Ein Spaziergang, um auf gute Gedanken zu kommen, kann ein Weg zu sich selbst sein, also zum entscheidenden Ziel.

 

 

 

Freitag, 29.6.2012

Wer sich auf eine längere Wanderung begibt, etwa in den Bergen von Hütte zu Hütte, fragt sich vorher: Was muss ich unbedingt mitnehmen, was kann ich weglassen, damit der Rucksack nicht zu schwer wird?

Was nützt wirklich ist die Frage.

Es bleibt das übrig, was wir zum Gehen und Leben unbedingt nötig haben; was uns vor Durst, Hunger, Kälte und Regen schützt.

Was wir beim Wandern sicher nicht brauchen, sind Materialien zum sogenannten „Zeitvertreib“.

Beim Wandern wird die Zeit nicht vertrieben.

Wir nehmen dabei die Zeit auf. Beim Gehen spüren wir wie nie sonst, dass wir Zeit haben. Wir vertreiben nicht die Zeit - wir nehmen sie uns.

Bei der Entscheidung, was wir auf eine Wanderung mitnehmen, geht es auch nicht um die äußere Erscheinung, um Stil oder um gesellschaftliche Stellung.

Eine längere Wanderung bedeutet Leben ohne Ballast, gereinigt von allem Überflüssigen. Vielleicht ist auch deswegen der Jakobsweg heute so beliebt. Eine längere Wanderung oder Wallfahrt  hilft uns manchmal, diese Reduzierung auch dann im Alltag zu leben.

Das Leben wird durch Reduzieren nicht ärmer, sondern reicher. Das ganze Leben wird zur Qual, wenn man zu viel mitschleppt, von dem man sich vermeintlich nicht trennen kann.

 

 

 

Samstag, 30.6.2012           

Gehen ist vielen zu eintönig. Es bringt für sie zu wenig Abwechslung. Aber gerade das ist seine Kraft.

Christliche geistliche Väter sehen das monotone Gehen als Mittel gegen diese tückische Trägheit, die den Menschen immer wieder befällt. Andere sagen, die Gedanken bekommen durchs eintönige Gehen neuen Schwung.

Thomas Bernhard erlebt das Gehen geradezu als Möglichkeit zum Denken. Und das Denken führt ihn zum Gehen. Es vereint mit der Natur und erhellt den Geist durch die Betrachtung der Landschaft und andere Eindrücke.

Den Pilger führt das Gehen zum Gebet.

Man spürt fast, dass die Psalmen des Alten Testaments auf der Wanderschaft eines Nomadenvolkes entstanden sind.

Sie werden vor allem aufgesagt, gesungen und immer wieder einander verkündet.

Beim Gehen zeigt sich die große Kraft der Wiederholung des Gleichen.

Das Bedenken  in Konzentration gelingt im Gehen besonders gut.

Im eintönigen Gehen ist dieses eintönige Gebet besonders gut zu verrichten. Auf einmal spürt der betende Wanderer (oder der wandernde Beter), dass er das Wichtigste gefunden hat und ist glücklich.