Das Evangelische Wort

Sonntag, 27. 11. 2005,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr Österreich 1

 

 

 

von Superintendent Manfred Sauer, Villach, Kärnten

 

 

Ps.119, 103 -105

Dein Wort ist meinem Munde süßer als Honig.

Dein Wort macht mich klug;

darum hasse ich alle falschen Wege.

Dein Wort ist meines Fußes Leuchte

und ein Licht auf meinem Weg.

 

Zwei der vier Brüder Ludwig Wittgensteins haben den Freitod gewählt. Wittgenstein selbst war mit dem Gedanken, Hand an sich zu legen vertraut. Er fühlte sich fremd in der Welt. Während der Sommermonate 1920, nach einem Jahr tiefer Verzweiflung, arbeitete Ludwig Wittgenstein als Gärtnergehilfe im Stift Klosterneuburg. 1913 bis 1936 verschwand er für etliche Monate nach Norwegen um nachzudenken, zu schreiben, lange Spaziergänge zu unternehmen. Vom Mai bis zum August 1948 lebte der Philosoph in einem Häuschen an der irischen Westküste, fünfzehn Kilometer vom nächsten Dorf entfernt, und ernährte sich von Konserven. Einige Monate vor seinem Tod wäre er gern in ein englisches Dominikanerkloster übersiedelt, aber sein Gesundheitszustand ließ den Plan scheitern. Auf die Frage nach dem Ziel seiner Philosophie antwortete Wittgenstein:

Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.

 

Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen ist schwierig, vielleicht sogar unmöglich. Denn Sinn und Zweck des Fliegenglases ist es ja gerade, dass die Fliege angelockt vom Zuckerwasser in die Falle findet, aber nicht mehr hinaus. Es ist jedenfalls kein erfreulicher Zustand, der damit beschrieben wird.

 

Das Gefühl, gefangen zu sein. Mit dem Leben nicht mehr zurechtzukommen. Antriebslos zu sein, keine Kraft und Energie mehr zu haben, diesen Zustand  zu verändern. Sich nichts Richtiges mehr zutrauen. Den täglichen Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Panikattacken, die mir den Atem rauben, die mir die Luft abschnüren.

 

Was tun, wenn es mir zu eng wird in meiner Haut? Wenn ich wie eine Fliege im Fliegenglas verzweifelt gegen die Scheibe fliege und keinen Ausweg mehr sehen? Hilft die Philosophie? Hilft die Psychologie? Hilft eine Therapie? Oder die Theologie?

 

Für Wittgenstein war es die Philosophie, die sich bemüht, einen Ausweg zu finden. Für den Psalmisten ist es das Wort Gottes, das hilft, das klug macht und Auswege aus Bedrängnis und Verzweiflung eröffnet. Für den Beter des 119. Psalms ist das Wort Gottes Balsam, Heilmittel und Arznei für wunde Seelen. Es ist wie ein Licht, das in dunkler Nacht aufleuchtet. Ein Licht, das uns den Weg zeigt, das verhindert, dass wir stolpern oder stürzen.

 

Heute feiern wir den ersten Adventsonntag. Wir zünden die erste Kerze an und erinnern uns, dass das Licht der Kerze ein Symbol für Christus selber ist, dessen Kommen wir erwarten. Christus, das Licht der Welt, will bei uns ankommen und in uns all das zum Leuchten bringen, was heilt, versöhnt und befreit. Sein Kommen gilt in erster Linie den Bedürftigen, den Gefangenen, all jenen, die Halt und Orientierung verloren haben und Hilfe suchen. Advent ist die Zeit der Hoffnung, denn die Ankunft Jesu bringt Heil und Segen mit sich.

 

Christus traut aber auch uns zu, Licht zu sein und unser Licht für andere leuchten zu lassen. Gerade wenn wir uns wie eine Fliege im Fliegenglas fühlen brauchen wir Gottes Beistand und die Nähe eines vertrauten Menschen, der uns nicht im Stich lässt, der uns heraushilft.

 

Gerade dann brauchen wir ein Licht, das uns aufgeht. Ein Licht der Erkenntnis, dass wir wissen, was wir zu tun haben, ein Licht der Zuwendung, dass wir spüren, wir sind nicht allein. Ein Licht der Hoffnung, dass wir neuen Mut und neue Kraft schöpfen.